In den Tagen vor dem für Russland so wichtigen „Tag des Sieges” über Hitlerdeutschland am 9. Mai wurden in westlichen Medien viele Spekulationen über mögliche Ankündigungen von Russlands Präsident Wladimir Putin während der großen Siegesparade am Roten Platz in Moskau gewälzt. Der Raum reichte von der Verkündung militärischer Erfolge und Siege bis hin zu einer weiteren Eskalation in Form einer echten Kriegserklärung an Kiew.
Letztlich hat Putin den Krieg in der Ukraine in seiner Rede weiterhin als „reine Verteidigungsaktion” gegen behauptete geplante Aggression der Ukraine und der westlichen Staaten dargestellt. Er sprach außerdem von „Territorien, die historisch zu uns gehören”, nicht aber von weiterer Mobilisierung oder Ausweitung des Kampfes. Mit seinem Dank an Ärzte, Chirurgen und Schwestern bestätigte er zudem indirekt die kolportierten schmerzhaften Verluste seiner Armee.
In der Realität wäre eine große Mobilmachung angesichts der gravierenden Ausstattungsmängel der russischen Armee und ihrer teils erstaunlich alten Ausrüstung aber auch fraglich gewesen. Es hätte sich zumindest die Frage gestellt, mit welchem Material die bis zu 900.000 Reservisten ausgestattet hätten werden sollen? Zudem hätte Putin mit diesem Schritt wohl auch gegenüber der russischen Bevölkerung eingestanden, dass die „Spezialoperation” nicht die von der militärischen Führung verlautbarten Fortschritte macht.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich zu beschreiben, wer da in der russischen Armee und auf russischer Seite eigentlich kämpft beziehungsweise kämpfen muss. Dazu hat der politische Moskauer Blogger Kamil Galeew (im Exil, MA, MLitt*) auf seinem Twitter-Konto eine beeindruckende Zusammenstellung veröffentlicht, welche die gesamte Praxis um Einberufung und Vertragssoldaten in den russischen Streitkräften beleuchtet. Außerdem widmet er sich auch der weitverbreiteten Praxis, jene zu umgehen und er fasst zusammen, aus welchen Bevölkerungsschichten und Ethnien sich Russlands Armee unter dem Strich zusammensetzt. Teil seiner Analysen ist außerdem, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Soldaten in welchen Truppenteilen letztlich am Schlachtfeld ihr Leben lassen.
Es sind eigentlich drei Teile
Ein Großteil des Missverständnisses über die Zusammensetzung der Truppen, die in der Ukraine für Russland kämpfen, resultiert aus der äußeren oder westlichen Wahrnehmung Russlands als Monolith. Man muss aber die Streitkräfte auf russischen Seite im Ukraine-Krieg in drei Hauptkategorien einteilen: Die russische Armee, die Tschetschenen und die Separatistenkräfte im Donbass. Sie folgen jeweils ganz unterschiedlichen Autoritätsmustern.
Die russische Armee ist eine auf „Top-Down”-Autorität basierende bürokratische Organisation, die anhand formeller Verfahren läuft. Kader sind austauschbar und spielen keine große Rolle, während Verfahren und formaler Rang alles bedeuten. Die Austauschbarkeit von Kadern erleichtert die Kontrolle der Armee und minimiert politische Risiken. Die tschetschenischen Formationen werden hingegen von der informellen Macht des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrows und seinem persönlichen Netzwerk geführt. Man sieht bei den meist bärtigen Kämpfern dieser Kräfte Abzeichen verschiedener Zweige der Armee, der Nationalgarde, des Geheimdienstes FSB und vieler anderer Teilbereiche. I dieser stammesartig machtbasierten Struktur bedeuten diese Abzeichen allerdings wenig. Die „Separatistenkorps” des Donbass waren zwar ursprünglich (2014) auch machtbasiert und wurden von pro-russischen Warlords über ihre persönlichen Netzwerke geführt. Später aber wurden die meisten Warlords (von den Russen?) ermordet und zumindest formal durch eine autoritätsbasierte Führung ersetzt. In abgehörten Telefonprotokollen äußern sich diese lokalen Kämpfer abfällig über die regulären russischen Soldaten, sie würden nicht kämpfen wollen. Jene wiederum nennen die DPR/LPR-Kämpfer „verrückte Morons” (verrückte Idioten).
Am Anfang ist Schikane
Schlüsselelement für eine Einberufung in die russischen Streitkräfte ist die auf allgemeiner Wehrpflicht basierende Musterung. Theoretisch muss jeder junge russische Mann zwischen 18 und 27 Jahren ein Jahr in der Armee dienen. Vielen bemühen sich aber nach Kräften, den Wehrdienst zu umgehen, was auch an den seit Jahrzehten praktizierten – und unter anderem vom „Komitee der Soldatenmütter” aufgedeckten – Schikanen in vielen Verbänden liegt. Im immer noch vielfach vorherrschenden „Dedowtschina-System” (Herrschaft der Opas) werden jüngeren Soldaten und Rekruten von den älteren Jahrgängen quasi wie Sklaven behandelt und wiederholt bis in den Selbstmord getrieben.
Die „Wehrpflichtvermeidungsindustrie”
Auf diesen Aspekt geht Galeew in seiner Analyse leider nicht ein. Er hält aber fest, dass die Quoten an Wehrpflichtigen letztlich von den auch sonst am stärksten benachteiligten Schichten und Ethnien befüllt werden, denen es nicht gelingt, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Nun rekrutiert sich auch die US-Armee überdurchschnittlich stark aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Während in den USA die Rekrutierung aber freiwillig ist, ist sie das für insbesondere ärmere russische Bevölkerungsschichten nicht – was sie zu einer Art „Blutsteuer” für die Armen macht. In den USA gehen die Leute zur Armee, die für das College bezahlt. In Russland ist es umgekehrt: Die jungen Leute gehen auf Colleges und Universitäten, um der Armee zu entgehen. Sie können diesen Schritt entweder gehen, indem sie einen staatlich finanzierten Platz (бюджет) gewinnen oder die Studiengebühren aus eigener (familiärer) Tasche bezahlen. Folglich verzerrt die russische Wehrpflicht den Bildungsmarkt total. Man wird nicht eingezogen, während man studiert – wer auf eine Hochschule geht, kann die Wehrpflicht also vermeiden. Damit gelten Universitäten in Russland als sogenannte „Wehrpflichtvermeidungsindustrie”, wie das etwa die Anzeige rechts oben beweist. „отсрочка” (Wehrdienstverschiebung) ist darauf der erste, prominent genannte Vorteil eines Studiums. Wenn Studenten später aber wegen mangelnder Leistungen aus der Uni geworfen wird, sehen sie sich dem Rekrutierer gegenüber.
Diese weit verbreitete Praxis spiegelt sich auch in der Populärkultur wieder. So wurde beim Filmfestival in Cannes der Film „Elena” von Andrej Zvjaginstew mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Elena ist in dem Streifen mit einem älteren reichen Mann verheiratet. Ihr 17-jähriger Enkel wird eingezogen, es sei denn, er kommt aufs College. Sie bittet ihren Mann, die Studiengebühren zu bezahlen, aber er weigert sich. Also tötet sie ihn – eine Konstellation, die wohl viele Russen verstehen.
Laut offiziellen russischen Angaben sind ein Viertel aller Soldaten Wehrpflichtige. Allerdings gehen westliche Beobachter davon aus, dass die russische Armee insgesamt weniger Soldaten umfasst, als der Kreml offiziell angibt – der Anteil der Wehrpflichtigen am Gesamtbestand könnte also höher sein. Bei den Wehrpflichtigen handelt es sich (meistens) nicht um Kampftruppen im eigentlichen Sinne, allerdings bilden sie das größte Rekrutierungspotenzial für die Berufsarmee: Denn sind die jungen Männer erst mal im Militär, werden Wehrpflichtige mit allerlei Mitteln unter (auch Gruppen)Druck gesetzt, um sie nach ihrem Jahr als Zeit- oder Berufssoldaten zu gewinnen. Das sind dann die „bezahlten Militär-Auftragnehmer”, die sogenannten Kонтрактники.
Theoretisch ist die Entscheidung, den Vertrag zu unterzeichnen, natürlich völlig frei. Man musste jüngst sogar nicht einmal das obligatorische (bis auf den Sold unbezahlte) Jahr ableisten, um unterschreiben zu dürfen. Daneben werben aber auch Personalvermittler sowie die Rekrutierungsbüros beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln um „Auftragnehmer”. In der Praxis stehen Wehrpflichtige einer Weiterverpflichtung laut Galeew jedoch ziemlich wehrlos gegenüber. Sie werden vielfach ausgetrickst, bedroht oder einfach angewiesen zu unterschreiben und werden damit zu Berufssoldaten, deren Entsendung zu Einsätzen im Ausland legal ist. Die Entsendung von Wehrpflichtigen ist das nicht, obwohl viele Beispiele auch den Einsatz von Wehrpflichtigen im Ukraine-Krieg dokumentieren.
Der zuvor rwähnte soziale Filter „wirkt” in weiterer Folge auch in die sogenannten „Siloviki-Strukturen” (Vertreter der Geheimdienste und des Militärs), die Kandidaten bevorzugen, die als Wehrpflichtige gedient haben. So spiegelt sich das auch bei der Zusammensetzung der Nationalgarde (die sogenannte „Rosgwardia” mit ihren hellgrauen Fahrzeugen ist nicht dem Verteidigungsminister Sergej Schoigu sondern dem Präsidenten direkt unterstellt, aber eine Truppe der inneren Ordnung, die am Schlachtfeld nichts verloren hat, wie die enormen Verluste in der Ukraine zeigen), der allgemeinen Polizei, den OMON-Einheiten des Innenministeriums, dem FSB und anderer Behörden. Sie alle haben ihre eigenen Schulen und beziehen ihren Nachwuchs mehrheitlich aus eher ärmeren und ungebildeteren Bevölkerungsschichten. Damit lässt sich auch die oft gestellte Frage westlicher Medien und Politiker beantworten, wieso russische Polizisten und andere Ordnungskräfte gegenüber selbst nur mit weißen Blättern gegen den Krieg demonstrierenden Omas keinerlei Empathie zeigen. Sie stammen eben zu großen Teilen aus Regionen und Ethnien, denen die auch in Russland westlich orientierte städtische junge Zivilgesellschaft im besten Fall nur „fremd” ist.
Allerdings ist auch das oft nur Theorie, denn das Pflichtjahr in der Armee ist nicht gleichbedeutend mit einer Eintrittskarte für „Siloviki-Karrieren”. Eine mögliche Laufbahn im Apparat der Staatssicherheit ist schleßlich auch für die sogenannten „goldenen Kinder” aus wohlhabenden Elite- und Appratschikfamilien sowie Angehörigen von Mitarbeitern von Staatsunternehmen interessant, die ihren fehlenden Wehrdienst mit einem Studium an FSB- und BFS-Akademien kompensieren können, womit die vorherrschende „Klassenstruktur” Russlands bereits gut beschrieben ist. Während die Staatsideologie in TV und Reklame den Militärdienst und generell alles Militärische – im Gegensatz zum jetzt darob umso mehr verunsicherten Westen – verherrlicht, weiß in der Praxis jeder, dass die Armee nur etwas für „Bauern” und „Lumpen” ist.
Die Wagner-Armee
Ein weiterer Zweig der russischen Kombattanten, der nun auch in der Ukraine involviert ist, ist die „Wagner-Söldnerkompagnie”. Obwohl Putin wiederholt betont, dass er „nur ein Koch” sei (siehe Bild) und die Wagner-Aktivitäten ausschließlich privatgeschäftlicher Natur wären, wurde Wagner (angeblich aus Begeisterung des ehemaligen Gründers für den deutschen Komponisten Richard Wagner) von Putins Ex-Koch Jewgeni Prigoschin formiert, um – in der Kampfführung reichlich unbekümmert – für russische Interessen in Syrien, Afrika und jetzt auch in der Ukraine einzutreten.
Wagner hat eine umstrittene Bilanz. Zum Beispiel veröffentlichten sie in Syrien ein Video von der Tötung eines Einheimischen, der versuchte, vor Assads Armee zu fliehen. Sie töteten ihn mit einem Hammer, schnitten ihm mit einem Messer den Kopf und mit einer Schaufel die Hände ab und verbrannten, was übrig blieb. Auf einem Schild mit „Wagnerowtsi” und den Überresten stand: „Für VDV und Intelligenz” (VDV ist die Abkürzung für die russischen Fallschirmjäger). In einem anderen Fall posierten sie mit einem abgetrennten Kopf. Details und Grafiken findet man bei der „Nowaya Gazeta”. Obwohl diese wichtigste unabhängige Zeitung in Russland (sie hat Ende März ihr Erscheinen vorübergehend eingestellt) in vergangenen Jahren eine Reihe von Mördern identifizierte, weigerte sich die russische Justiz, diese wegen eines Verbrechens anzuklagen. Wie stark Wagner an den tatsächlichen Operationen in der Ukraine beteiligt ist (darüber kursieren viele Fehlinformationen) ist nicht festzumachen, aber sie rekrutieren aktiv Leute für wie es heißt „eine militärische Expedition in ein Nachbarland” (боевой поход по ближнему зарубежью“).
Naturgemäß mussten ehemalige Armeeangehörige oder jene der „Rosgwardija”, die dann bei Wagner anheuern, zuerst die sozialen Filter der Wehrpflicht durchlaufen und dann eine Militär-, Polizisten- oder eben Söldnerkarriere wählen, was sie bei denjenigen Russen mit irgendeiner Form von Kapital (sei es wirtschaftlich oder kulturell), als extrem unbeliebt stigmatisiert („Lohn-Schlächter”). Das bedeutet aber nicht, dass jeder, der einen Vertrag unterschrieben hat, ein gesellschaftlicher Outlaw ist. Es gibt in Russland – im Gegensatz zum „postheroischen” Westen – schon auch eine Art „Kriegerkultur” und die meisten Mitglieder haben schließlich freiwillig unterzeichnet, aus durchaus nachvollziehbaren finanziellen Gründen. Galeew erinnert daran, dass Freiwillige als „Auftragnehmer” in der russischen Armee (Kонтрактники) und jene die bei Wagner anheuern sich jedenfalls nicht aus Patriotismus, sondern vor allem aus finanziellen Gründen gemeldet haben. Sie sind Söldner, auch wenn sie keine besseren Optionen hatten, da sie vom unteren Ende der sozioökonomischen Leiter kamen und sie (und ihre Familien) keine Form von Kapital geerbt hatten.
Die eklatant einseitige Verteilung der Gefallenen seit 24. Februar
All das erklärt die starke geografische und ethnische Asymmetrie bei den russischen Totesopfern in der Ukraine. Die russische Medienforschungsstelle „Mediazona” hat Ende April die Daten der damals offiziell mit nur 1.744 angegebenen in der Ukraine Gefallenen aggregiert und fand dabei eine klare negative Korrelation zwischen einem Medianeinkommen in der jeweiligen Region und der Anzahl der Opfer. Ergebnis: Es sind überwiegend die Armen, die minder Privilegierten, die kämpfen und sterben (müssen). Achtung: Das wird innerhalb der im Westen auf 10 Mal mehr deutlich höher geschätzten tatsächlichen Verlustzahlen wohl kaum anders Und das würde sich auch bei einer Teil- oder Generalmobilmachung nicht groß verschieben, die gut eingespielten „Vermeidungseffekte” werden auch hier schlagend werden.
Die unten abgebildete Karte zeigt die Verluste nach russischen Regionen. Die zwei am überdurchschnittlich stärksten betroffenen sind Dagestan und Burjatien (64. Brigade/Burtscha, …). Beide sind arme ethnische Hinterländer, eines im islamischen kaukasischen Süden und eines im tief asiatischen Osten Russlands. Hingegen stammen aus den Großstädten Moskau und St. Petersburg fast keine Toten, obwohl sie rund zwölf Prozent der russischen Bevölkerung ausmachen. Die untere Leiste zeigt als Korrelation das in jenen Regionen gemäß Russtat erhobene Medieneinkommen. Jenes liegt in der Hauptstadt bis zu dreimal über den genannten Oblasten Tscheljabinsk, Orenburg oder Wolgograd. Eine andere Grafik (unten) zeigt die Mehrheit der getöteten russischen Soldaten als sichtlich ziemlich jung. Nach dem Alter können viele von ihnen nur „Auftragnehmer” sein, die während ihrer Pflichtdienstzeit oder unmittelbar danach einen Vertrag unterzeichnet haben. Einige sind sicher Wehrpflichtige, welche illegal in die Ukraine geschickt wurden. Jedenfalls kann dahinter schon zeitlich keine tiefere oder qualitative Ausbildung stehen – ein Faktor, der sich bei umfangreicheren Mobilisierungsschritten kaum verändern, ja eher zunehmen wird.Eine weitere aufschlussreiche Grafik veranschaulicht die Verluste in der Ukraine im Verhältnis auf je 100.000 der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 53 Jahre alt, nach Regionen, basierend auf „Mediazona”-Zahlen. Wir sehen, dass gleich zwei Regionen mit besonders vielen ethnischen Minderheiten am stärksten betroffen sind: Südsibirien und Nordkaukasus. In den „russischeren” Regionen gibt es nur zwei Ausreißer nach oben: Pskov und Kostroma. Warum? Beide sind VDV-Hauptgarnisonen. Und es waren die VDV-Luftlandeeinheiten, die in der Ukraine gleich zu Beginn bei der versuchten und gescheiterten Einnahme von Flugplätzen unverhältnismäßig hohe Verluste erlitten. Der kolportierte Verlust von einer oder zwei Il-76 mit Elementen der VDV ist allerdings nicht durch – die sonst inflationär präsenten – Fotos der Wracks verifiziert. Laut Schätzungen beispielsweise britischer Nachrichtendienste, könnte die Wiederaufstellung und -befüllung dieser Eliteeinheiten jedenfalls Jahre dauern.
Oberhalb auch noch eine Darstellung der feststellbaren Anteile der Verluste nach Truppengattung (der Anteil an Offizieren im äußeren Ring mit Sternchen). Auch hier liegen die VDV ganz oben, gefolgt von der motorisierten Infanterie in ihren BMPs und BTRs in den modular gegliederten Bataillonstaktischen Gruppen (BTG, mit zwischen 600 und 800 Soldaten, wobei aber nur rund 250 direkt im Gefecht mit dem Gegner sind). Vor Konfliktbeginn soll es in der stehenden russischen Friedensgliederung davon insgesamt rund 170 gegeben haben, vor dem Rückzug von Kiew waren davon etwa 100 in die „Spezialoperation” involviert. Nun sollen es rund um den in den Donbass verlagerten Schwerpunkt rund 75 sein. Diese Kampfformationen sind seit Jahren auch im Westen als Faktor erkannt und als operative Gegnerformation beschrieben, was in den Jahren seit 2014 wohl auch den ukrainischen Truppenführern vermittelt wurde.
Offiziell dementiert, trotzdem präsent
In den Tagen vor dem 9. Mai mehrten sich die Meldungen, dass russische Staatsunternehmen begannen, via Headhunter aktiv nach Spezialisten genau für den Bereich Mobilisierungstraining zu suchen. Damit sind gleich ganz verschiedene Strukturen beschäftigt, von der russischen Post über Kinderkliniken bis hin zu Steuerinspektionen. Und in (modernen) Linienbussen wie beispielsweise in Twer laufen Werbeanzeigen für Meldungen zum Militärdienstvertrag, die ein Gehalt von 200.000 Rubel (rund 2.700 Euro) versprechen. Gleichzeitig betont die Polizei in ihren Ankündigungen zur Einstellung neuer Mitarbeiter nun, dass diese „nicht mobilmachungspflichtig” seien und der Trend beginnt sich auch auf Privatunternehmen auszudehnen.
Die „25 Gardisten”
Gleichzeitig gehen ab heute 25 Angehörige der „Putin’schen Nationalgarde” gegen den Kommandeur des nordkaukasischen Bezirks, Generalleutnant Sergej Sacharow, auf dem südwestlichen Militärstützpunkt Wladikawkas vor Gericht. Sie fechten ihre angeblich „illegale Entfernung” aus der Garde an, die auf die Nichtbefolgung eines Befehls von Sacharow erfolgt sei, der die Soldaten zuvor in den Kampf in die Ukraine schicken wollte. Von ihrer Konzeption und Ausrüstung ist diese Garde eher für die Besatzungs- und Unterdrückungsrolle ausgelegt, trotzdem hatte sie schon in der Frühphase des Kriegs gegen die Ukraine teils hohe Verluste erlitten. Das ist eine durchaus seltene Form eines offenen Dissenses, der auch in russischen Medien Niederschlag findet (wenn auch nicht in den Hauptabendnachrichten). Laut ihrem Anwalt (und Menschenrechtsaktivisten) Pawel Tschikow, erwägen hunderte von Gardisten aus 17 Städten und Regionen den gleichen Schritt und haben diesbezüglich bei ihm Rechtsberatung in Anspruch genommen. Weitere Anwälte aus einer Reihe anderer Städte und Regionen sollen an weiteren ähnlichen Fällen arbeiten, darunter Krasnodar, Naltschik, Tscherkessk, Samara, Weliki Nowgorod, Simferopol, Nowotscherkassk, Wladiwostok, Stawropol, Abakan, Pskow, Orenburg, Ulan-Ude, Petersburg und Smolensk.
???? Big revelations from @dmitry_gordon today, #May9th.
The Ukrainian Security Service (SBU) @ServiceSsu, with the help of Western intelligence agencies, has information on every Russian soldier that entered Ukraine. Down to the serial number of the assigned machine gun.— Igor Sushko (@igorsushko) May 9, 2022
Tschikow behauptet weiters, dass die wahre Zahl der „Verweigerer” quer durch die russischen Kräfte bis zu 30 Prozent betragen soll. Viele wollten nicht ihre slawischen Nachbarn töten müssen, zigtausende haben ja teils halb oder ganz ukrainische Vorfahren oder dort immer noch Verwandte. Auch was intern über die unerwartete Heftigkeit des ukrainischen Widerstands sehr wohl bekannt wurde, habe Viele „abgeschreckt”. Und das vielleicht künftig noch mehr, wenn sich digital herumspricht, was zumindest der ukrainische Journalist und Blogger Dimitrii Gordon behauptet: Demnach habe der ukrainische Nachrichtendienst SBU (mit Hilfe westlicher Dienste) Informationen über ALLE russischen Soldaten, welche die Ukraine je betreten hätten. Und wie der israelische Mossad nach dem Zweiten Weltkrieg die Nazi-Kriegsverbrecher suchte (und teilweise) fand, würde man das auch nach dem Konflikt mit jedem solchen „Kriegsverbrecher” machen – auch wenn es Jahre dauere.
Kamil Galeev ist ein inzwischen „außerhalb Russlands” lebender Moskauer Stipendiat des Galina Starowoitowa-Programms des Wilson Centers in Washington; Master of Letters in der Geschichte der Frühen Neuzeit (St. Andrews/UK), MA in China Studies an der Pekinger Universität und politischer Aktivist. 2020 wurde er vorübergehend für seine Teilnahme an Protesten verhaftet, darauf nimmt auch dieses Interview Bezug.