In der westafrikanischen Sahelzone war Niger der letzte demokratische Staat – im vergangenen Sommer übernahm auch dort das Militär. Für Europa sind das keine guten Nachrichten, droht man damit in der Region geopolitisch noch weiter ins Hintertreffen zu kommen. Eine Analyse von IFK-Experte Gerald Hainzl.

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Ernste Mienen: Nigers neuer Machthaber Abdourahamane Thani verkündete gemeinsam mit Mitstreitern den politischen Umsturz live im TV.

Seit 1950 hat es in Afrika mehr als 200 Staatsstreiche gegeben, alleine seit 2021 fanden sieben erfolgreiche Machtübernahmen statt (siehe auch Grafik weiter unten), die nicht dem Drehbuch demokratischer Machtwechsel folgten. Die allgemeinen Reaktionen darauf waren durchaus unterschiedlich – in jedem Fall trugen sie nicht unbedingt dazu bei, die europäische Afrikapolitik in ein besonders positives Licht zu rücken. Je nach politischem Standpunkt werden die Ereignisse widersprüchlich als Putsche gegen die Demokratie oder als anti­kolonialer Akt verstanden. Dabei wird allerdings oft vergessen, dass kleptokratische und nepotistische Regierungen beziehungsweise Machthaber nicht notwendigerweise die Unter­stützung der Bevölkerungen haben, Wahlen gefälscht werden oder geringe Wahlbeteiligungen diesen demokratischen Akt zur Farce verkommen lassen und ein Putsch von der Bevölkerung als Befreiung wahrgenommen werden kann.

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Eine sorgfältige Analyse der Gründe für die Machtwechsel würde deren Vielfältigkeit erkennen lassen und die unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Staaten sehen. Allerdings stehen weniger die afrikanischen Staaten und deren Bedürfnisse im Mittelpunkt der europäischen Diskussionen als vielmehr die Fragen, ob die Sahel-Strategie der EU versagt hat und ob sich Françafrique nun tatsächlich in Auflösung befindet. Aber auch, ob Russland zu einer geopolitischen Herausforderung in Afrika werden kann oder bereits geworden ist. In jedem Fall besteht die Gefahr, dass Russland Migration aus Afrika als hybride Waffe gegen Europa einsetzten könnte.

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Neue Machthaber: Nicht nur im Niger, sondern auch in weiteren sechs Staaten der Sahelzone übernahm seit 2021 das Militär.

Die Reaktionen der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS) auf den aktuell jüngsten Staatsstreich in Niger sind insofern verständlich, als die Staaten mit gewählten Volksvertretern einen Dominoeffekt an Miltärputschen verhindern wollen. Auch wenn das Ultimatum militärischer Gewaltan­drohung an das neue Regime ohne Reak­tion verstrich und diplomatische Lösungen wieder in den Vordergrund getreten sind, zeigte es doch die Angst vor Nachahmung. Besonders der neuen Regierung in Nigeria, die zum Zeitpunkt des Putsches noch keine 100 Tage im Amt war und bereits unpopuläre Entscheidungen wie das Ende der Subventionen auf Benzin sowie das Ende der Stützung der Währung getroffen hatte, war in den Reaktionen eine gewisse Nervosität anzumerken.

Das Rad der Zeit dreht sich aber trotzdem unaufhaltsam weiter. Inzwischen haben die früheren G5-Sahelstaaten Mali, Burkina Faso und Niger wohl auch unter dem Eindruck der ECOWAS-Drohungen die Allianz der Sahel-Staaten zum Zweck der kollektiven Verteidigung und der gegenseitigen Unterstützung gegründet. Ziele sind der Kampf gegen den Terrorismus und gegen organisierte Kriminalität sowie eine Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffes auf einen Vertragspartner. Allerdings wird das wenig Auswirkungen auf die Bürger haben. In den meisten Staaten, in denen geputscht wurde, waren die Regierungen nicht in der Lage, eine Basisversorgung der Bevölkerung mit staatlichen Dienstleistungen sicherzustellen. Zudem ist das Vertrauen der Menschen in die jeweiligen Sicherheitskräfte de facto nicht vorhanden. Die Loyalität der Bevölkerung gilt jenen, die diese Dienstleistungen aufrechterhalten können. Und das sind in vielen Fällen radikale Gruppen, die erfolgreich das Narrativ „Niemand kann euch schützen, falls ihr mit staatlichen Institutionen zusammenarbeitet” verbreiten. Hinzu kommt, dass die Mitglieder terroristischer Gruppierungen in der Regel aus der Gemeinschaft kommen und in dieser leben. Aber auch die Tuareg in Mali haben inzwischen das Abkommen mit der Regierung aufgekündigt und könnten einen erneuten Aufstand wagen.

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Russischer Einfluss? Der Kreml vertritt seine Interessen auf dem afrikanischen Kontinent seit Jahren offensiv. Welche Rolle Moskau bei den jüngsten Machtwechseln tatsächlich gespielt hat, kann aktuell nur gemutmaßt werden.

Was bedeutet das für Europa? Die Sahel-Strategie der EU hatte und hat zum Ziel, terroristische Gruppen zu bekämpfen, Migration nach Europa einzudämmen und Rohstoffe für Europa zu sichern. Da die Schlüsselstaaten der Strategie, Mali, Burkina Faso und zuletzt Niger, durch die „Konzentration der EU auf die Zusammenarbeit mit rechtmäßigen Regierungen und regionalen Organisationen” (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) Kooperationen erschweren, möchte die EU eine „für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft entwickeln, die für Europa und Afrika gleichermaßen von Interesse” ist. Die EU rechnet mit einer Destabilisierung der Sahelzone auf Jahre und sieht in den russischen Ambitionen in Afrika sowie einen zunehmenden Terrorismus als Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand. Ziel ist es daher, ein neues Strategiekonzept zu entwickeln und beim nächsten EU-Afrika-Gipfel eine neue Afrika-Strategie vorzulegen.

Als Partner gemeinsam vorwärts kommen

Aufgrund der europäischen Interessen (Migration, Ressourcen, Terrorismus) stellt sich für die EU die Frage nach einer wertebasierten oder von Interessen geleiteten Politik mit jedem Putsch neu. Besonders zwei Punkte sollten berücksichtigt werden, wenn tatsächlich eine Kooperation auf Augenhöhe zwischen den beiden Kontinenten funktionieren soll: Die leise Kritik aus afrikanischen Staaten, dass die EU mit zu vielen Akteuren vor Ort ist, die nicht notwendigerweise mit einer Stimme sprechen, liefert einen subtilen Hinweis auf die mögliche institutionelle Organisation von künftigem europäischem Engagement. Aber auch die ungleiche Behandlung von nicht-konstitutionellen Machtwechseln wird von Afrikanern mit dem Hinweis auf den Tschad gerne ins Treffen geführt.

Im Hinblick auf eine neue Strategie könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten die derzeitige Situation durchaus nutzen und im Umgang mit afrikanischen Partnern neue Wege beschreiten. Dazu wären drei Grundvoraussetzungen nötig: Erstens, den afrikanischen Partnern zuhören, um deren Interessen herauszufinden. Zweitens, Ergebnisse einfordern und nicht nur verlangen, Maßnahmen zu setzen. Und drittens, strategische Geduld. Auch wenn es derzeit scheint, als ob Europa und die EU Verlierer im geopolitischen Spiel sein werden, kann sich das Blatt auch rasch wieder wenden.

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