Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Lukas Wank, Geschäftsführer AG Globale Verantwortung. Wir haben mit dem Experten für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe über das Aushungern von Zivilbevölkerung als Kriegstaktitk gesprochen und welche Möglichkeiten die internationale Gemeinschaft hat, derartige Kriegsverbrechen zu verhindern.
Herr Wank, im Jahr 2018 erklärte die UN in der Resolution 2417 das Aushungern von Zivilbevölkerung zu einem Kriegsverbrechen – ohne große Wirkung, denn wie es scheint, nimmt der Einsatz dieser Kriegstaktik zu?
Klar ist, dass Hunger als Kriegswaffe historisch gesehen keine neue Praktik ist. Ob die Absicht von Kriegsparteien, die Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten auszuhungern, steigt, ist aber schwer zu beurteilen. Ausnahmslos inakzeptabel ist aber, wenn Zivilisten nicht evakuiert oder ausreichend versorgt werden. Die dramatische Zunahme ziviler Opfer im Jahr 2023 unterstreicht diese Tendenz. Sicher ist auch, dass der 64-prozentige Anstieg an Konflikten, den die Organisation ACLED (Armed Conflict Location and Event Data) seit 2020 verzeichnet hat, Hunger befeuert. Gleichzeitig verschlechtern die Klimakrise, Gesundheits- und Schuldenkrisen, steigende Armut und Ungleichheiten die Lebensbedingungen der Menschen in armen und fragilen Ländern und erschweren humanitäre Einsätze.
Wann sprechen wir denn von Hunger als Kriegswaffe und lässt sich immer klar feststellen, ob Hungerkatastrophen bewusst herbeigeführt, oder Nebenprodukte eines Krieges sind?
Unter Berufung auf das Humanitäre Völkerrecht (International Humanitarian Law, IHL) verurteilen der Internationale Strafgerichtshof sowie die Resolution 2417 des UN-Sicherheitsrats Kriegsparteien, die Zivilisten lebensnotwendige Gegenstände wie Nahrungsmittel vorenthalten sowie humanitäre Hilfsorganisationen den Zugang zu ihnen verweigern oder diesen vorsätzlich behindern. Auch der Angriff auf Hilfsorganisationen ist ein Verstoß gegen das IHL, dennoch kamen in diesem Jahr bereits 187 humanitäre Einsatzkräfte ums Leben.
Das IPC Famine Review Committee hat seit 2011 in 20 Fällen geklärt, ob eine Hungersnot vorliegt. Als Hungersnot bezeichnet es die schlimmste von fünf Stufen des Hungerns. Dieser entsetzliche Notstand liegt vor, wenn 20 Prozent der Haushalte von extremen Nahrungsmittelmangel betroffen sind, 30 Prozent der Kinder unter akuter Unterernährung leiden und täglich zwei von 10.0000 Erwachsenen oder vier von 10.000 Kindern verhungern. In 19 der 20 Fälle haben Kriege den Ernährungsnotstand maßgeblich ausgelöst. Nicht, weil es auf der Welt zu wenig Nahrung für hungernde Menschen gäbe, sondern weil ihnen im Krieg allzu oft der Zugang zu lebensrettenden Hilfslieferungen verwehrt bleibt. Hunger ist also primär menschengemacht.
An welchen Kriegsschauplätzen wird atuell Hunger als Kriegswaffe eingesetzt und welche Mechanismen werden angewandt, um Hunger zu verursachen?
Das World Food Programme identifiziert derzeit 15 Länder, in denen Hunger eine akute Bedrohung darstellt. Besonders kritisch ist die Lage im Gazastreifen und im Sudan, wo bereits vor den jüngsten Konflikten viele Menschen hungerten. Konkrete Vorwürfe betreffen auch Syrien, insbesondere im Zuge der Blockade von Aleppo im Jahr 2016, sowie den Jemen, wo Hilfslieferungen im Hafen von Hodeidah blockiert wurden, um Druck auf Huthi-Rebellen auszuüben. Internationale Beobachtungen kamen zum Schluss, dass die humanitäre Krise in der äthiopischen Region Tigray ab 2020 auch darauf zurückzuführen sei, dass die Kriegsparteien den Zugang zu Wasser, medizinischer Versorgung und Nahrungsmitteln systematisch verhinderten.
Welche Zwecke verfolgen die Kriegsparteien mit dem Aushungern von Bevölkerung?
Das Zurückhalten von lebensnotwendiger Nahrung und die Blockade von Hilfsleistungen erhöhen die Verzweiflung der Zivilbevölkerung. Diese ist oft ein politisches und militärisches Druckmittel, um Kontrolle zu gewinnen und Zugeständnisse zu erzwingen. Neben den aktuellen Kriegsschauplätzen, die ich genannt habe, war dies unter anderem bei der Belagerung von Sarajevo in den 1990er-Jahren der Fall oder in der Ukraine in den 1930er-Jahren unter sowjetischer Besatzung.
„Ziel ist, dass der menschengemachte Hunger der Vergangenheit angehört.“
Welche Möglichkeiten hat die internationale Gemeinschaft, auf derartige Kriegsverbrechen zu reagieren beziehungsweise sie zu verhindern?
Zu Beginn habe ich betont, dass es inakzeptabel ist, wenn Zivilisten nicht evakuiert und versorgt werden. Es ist jedoch auch inakzeptabel, dass Regierungschefs häufig schweigen, wenn es um solche Verbrechen geht oder dass sie Krisen kleinreden. Eine solche Zurückhaltung konnte man zuletzt beobachten, als der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich Anfang August ein Aushungern der Zivilbevölkerung des Gazastreifens als „gerechtfertigt” bezeichnete. Russland redet wiederum die gravierende Hungersnot im Sudan klein.
Das Ziel ist allerdings, dass der menschengemachte Hunger gänzlich der Vergangenheit angehört. Dafür ist die internationale Gemeinschaft einerseits gefragt, die internationale humanitäre Finanzierungslücke zu schließen. Nur 40 Prozent des humanitären Bedarfs waren zuletzt gedeckt, also nur in zwei von fünf Fällen kann derzeit überhaupt geholfen werden. Andererseits braucht es robuste Nahrungsmittelsysteme: Werden eine nachhaltige Landwirtschaft und stabile Versorgungsketten gefördert, stärkt das langfristig die Widerstandsfähigkeit der lokalen Gemeinschaften gegenüber den globalen Krisen und senkt im Kriegsfall ihre Abhängigkeit von externen Hilfslieferungen. Darüber hinaus ist die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, höchste völkerrechtliche Standards anzuwenden und durchzusetzen und gegebenenfalls Verstöße zu verurteilen und zu sanktionieren.
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