Unsere fünf Fragen gehen diesmal an den Politikwissenschaftler und Kolumnisten Sardar Aziz. Wir haben mit dem früheren leitenden Berater des kurdischen Parlaments im Irak über die aktuell Lage in Syrien gesprochen.

Herr Aziz, im Zuge eines Aufstandes von Assad-Anhängern in Latakia kam es kürzlich zu Massakern an alawitischen Zivilisten durch Soldaten der neuen Regierung. Geschah dies auf Befehl von Damaskus oder hat der neue Präsident Ahmad Al-Sharaa seine Truppen nicht vollständig unter Kontrolle?
Was mit den Alawiten passiert ist, ist immer noch nicht ganz geklärt. Die Nachrichten kommen bruchstückhaft, die Aussagen der verschiedenen Akteure sind oft widersprüchlich, es gibt keine unabhängigen Quellen. Der ursprüngliche Aufstand in der Region wurde von Assad-Anhängern organisiert und durchgeführt. Ich denke, ihre Absicht war es, den positiven Fortschritt in Syrien zu stören. Das führte dazu, dass Al-Sharaa die Kontrolle verlor und jetzt den Preis dafür zahlt, vor allem international, da seine Truppen ein Massaker begingen.

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Tatsache ist, dass viele der früheren Rebellen-Milizen Ahmad al-Sharaa Loyalität schworen. Allerdings gaben sie ihre Waffen nicht ab und verfolgen teilweise nach wie vor ihre eigenen Agenden, wie die Sultan Suleiman Shah Division und die Hamza Brigade. Beide sind sehr gut bewaffnet und trainiert, ihr Gehalt kommt aus der Türkei.

Sie sind bekannt für Plünderungen und Morde und waren an den Vorgängen im alawitischen Siedlungsgebiet beteiligt. Es gibt sogar Berichte, dass sie jene Sicherheitskräfte, die direkt von Ahmad al-Shara kontrolliert werden, herausforderten. Hinzu kommen zahlreiche radikale Dschihadisten zu denen auch ausländische Kämpfer wie Usbeken und Tschetschenen zählen. Sie betrachten die Alawiten nicht als Muslime. In ihrer Alltagssprache bezeichnen sie sie als „Schweine”; schmutzige Tiere, die es verdienen, getötet zu werden.

„Klar ist, dass Teheran mit den Ereignissen in Syrien nicht zufrieden ist.“

Gibt es Anzeichen dafür, dass der Iran oder die Hisbollah an den Aufständen der Assad-Anhänger gegen die neue Regierung beteiligt waren?
Es gibt keine eindeutigen Anzeichen dafür. Klar ist aber auch, dass Teheran mit den Ereignissen in Syrien nicht zufrieden ist. Ali Khamenei selbst erklärte, dass die syrische Jugend und das syrische Volk dies nicht akzeptieren werden. Das zeigt, dass der Iran, wenn er könnte, eingreifen würde. Ich denke aber nicht, dass er aktuell dazu in der Lage ist, weil Israel die Situation in Syrien genau beobachtet. Es wäre für den Iran oder die Hisbollah nicht einfach, größere Waffenlieferungen oder Militärkonvois über die Grenze zu bringen.

Beobachter sagen, die Eskalation in Latakia könnte der Beginn eines neuen Bürgerkriegs in Syrien sein. Würden Sie dem zustimmen?
Ich glaube, es gibt bereits einen Bürgerkrieg in Syrien. Alles deutet darauf hin, der aufgeheizte Diskurs in den Medien, die Desinformation, der Hass. Es wird auch viel über die Einheit Syriens gesprochen. Aber Syrien, ebenso wie der Irak ist ein fragiler Staat mit einer postkolonialen Struktur, wo sich eine zentralisierte Staatsmacht immer nur mit Gewalt und Diktatur durchsetzen konnte.

Es besteht daher die große Gefahr, dass sich Teile Syriens abspalten könnten. Was wiederum das Misstrauen gegen Kurden und Drusen schürt, die auf ihre Eigenständigkeit beharren. Es gibt in Syrien daher einen Bürgerkrieg in Warteschleife. Ein Funke genügt und er bricht los.

„Es braucht das Einsehen, dass vergeben werden muss, aber nichts vergessen werden soll.“

Al Sharaa suchte den Dialog mit ethnischen und religiösen Gruppen, darunter Kurden, Drusen und Christen, bezeichnenderweise aber nicht mit den Alawiten. Was sagt uns das?
Al-Scharaa lehnte diesen Dialog mit den Alawiten selbst lange Zeit ab. Auch unter den Fraktionen, die er anführt, würden viele dies nicht akzeptieren. Ich glaube, es ist auch für die sunnitische Gemeinschaft in Syrien nicht einfach, sich sofort darauf einzulassen. Grund dafür ist, dass innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft in Syrien die Alawiten als Täter gesehen werden, da viele von ihnen hohe Positionen im Regime von Bashar al-Assad innehatten, während die Sunniten an den Rand gedrängt und diskriminiert wurden.

Diese Verallgemeinerung ist natürlich falsch. Nicht alle Alawiten profitierten vom Regime und viele Sunniten unterstützten Assad. Aber dieses Narrativ passt jenen, die auf Rache sinnen, die eine Gruppe suchen, die nach all diesen Tragödien, dem Töten, dem Verhungern und der Bombardierung bestraft werden soll. Will man ein neues Syrien, muss freilich ein anderer Ansatz gefunden werden. Es braucht das Einsehen, dass vergeben werden muss, aber nichts vergessen werden soll – die Verbrechen müssen im Sinne einer Übergansgjustiz aufgearbeitet werden.

©Militär Aktuell

Was bedeuten diese Eskalationen gegen die Alawiten für andere Minderheiten?
Ich denke, was gegen die Alawiten geschah, führt den anderen Minderheiten vor Augen, dass der Staat die Situation nicht unter Kontrolle hat. Entgegen den Aussagen der Regierung wurde etwa in den Moscheen zum Dschihad (gegen die Alawiten) aufgerufen. Die Drusen befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die Alawiten. Auch ihnen wird vorgeworfen, keine richtigen Muslime zu sein.

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