In den vergangenen Tagen hat sich diversen internationalen Medienberichten und Politiker- sowie Analysten-Statements zufolge, die Gefahr eines größeren bewaffneten Konflikts in Osteuropa nochmals verschärft.
Angesichts des anhaltenden russischen Aufmarsches östlich und nördlich der Ukraine und nun auch im Schwarzen Meer (hier eine chronologische Zusammenfassung) haben gleich mehrere westliche Länder ihr Botschaftspersonal aus Kiew abgezogen und ihre Bürger aufgefordert, das Land zu verlassen. So auch Deutschland – die Bundesregierung spricht von einer „sehr, sehr ernsten Lage”. Besonders besorgniserregend: Auch Russland hat laut der staatlichen Agentur RIA sein dipolomatisches Personal in der Ukraine reduziert. Eine Sprecherin des russischen Aussenministeriums sagte am vergangenen Samstag, man habe sich entschieden, „die Anzahl der Mitarbeiter zu optimieren”. Sie begründete den Schritt mit „möglichen Provokationen des Kiewer Regimes oder dritter Staaten”.
Dazu kommt: Zuletzt sind zahlreiche russische Landungsschiffe durch den Bosporus ins Schwarze Meer gelaufen, wo nun ebenso wie im Asowschen Meer russische Manöver mit bis zu 140 Schiffen ausgerufen wurden. Kiew wertet diesen Aspekt als „Vorstufe einer permanenten Seeblockade” (ein gut recherchierter Bericht dazu ist hier nachzulesen).
Die Entwicklungen wurden auch in Washington registriert – die USA verschärften jüngst jedenfalls ihre Warnungen vor einem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden, sagte am Freitagabend im Weißen Haus (siehe Video unten): „Russland könnte sich in kürzester Zeit dazu entschließen, eine größere Militäraktion gegen die Ukraine zu starten. Nach Einschätzung der US-Regierung hat der russische Präsident Wladimir Putin alle nötigen militärischen Vorbereitungen getroffen. Der Angriff könnte noch vor dem Ende der Olympischen Winterspiele am 20. Februar erfolgen.” Das Pentagon gab am selben Tag bekannt, zusätzlich zu den bereits nach Polen und Rumänien verlegten 3.000 Soldaten weitere 3.000 Soldaten in Polen stationieren zu wollen. Außerdem würden 8.500 weitere Soldaten bereitstehen, um nach Europa entsandt zu werden.
„Schreckliche, blutige Kampagne”
Noch einen Schritt weiter – Sullivan wollte ihn auf Nachfrage nicht kommentieren – geht in seiner per Twitter kolpotierten Warnung der US-amerikanische Journalist Nick Schifrin. Er ist Korrespondent für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung der PBS NewsHour (zuvor war er Korrespondent von Al Jazeera America im Nahen Osten und Korrespondent für ABC News in London und in Afghanistan/Pakistan). Er schreibt, dass die USA glauben, dass der russische Präsident Wladimir Putin beschlossen habe, in die Ukraine einzumarschieren und diese Entscheidung auch dem russischen Militär mitgeteilt habe. Das haben ihm drei – in einem anderen Eintrag hieß es sogar sechs – westliche Verteidigungsbeamte gesagt. Demnach erwarten die USA, dass die Invasion diese Woche beginnen werde. Die US-Beamten rechnen nach ihrer Informationslage mit „einer schrecklichen, blutigen Kampagne, die mit zwei Tagen an Luftangriffen und elektronischer Kriegsführung beginnt, gefolgt von einer Invasion mit dem möglichen Ziel eines gewaltsamen Regimewechsels”. Letzteres wurde so auch von US-Außenminister Antony Blinken formuliert.
NEW: The US believes Russian President Vladimir Putin has decided to invade Ukraine, and has communicated that decision to the Russian military, three Western and defense officials tell me.
— Nick Schifrin (@nickschifrin) February 11, 2022
Eine weitere Beurteilung kommt von Michael Carpenter, dem US-Botschafter bei der Wiener Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Er sprach am 7. Februar mit dem russischen Dienst von Voice of America (VOA), um die Situation entlang der russisch-ukrainischen Grenze zu erörtern.
Voice of Amercia: Wie sicher sind die Vereinigten Staaten, dass Russland sich in der Endphase der Vorbereitungen für eine Invasion der Ukraine befindet? Und worauf basiert diese Beurteilung?
Carpenter: Wir sehen inzwischen weit mehr als 100.000 kampfbereite Truppen an der Grenze und sie verfügen über die gesamte Ausrüstung, die notwendig ist, um innerhalb weniger Tage eine Invasion zu starten. Damit meine ich Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge, Munitionsvorräte, medizinische Versorgung und Technik. Wenn man sich diese angesammelten militärischen Fähigkeiten ansieht, kann man sich nicht einfach zurücklehnen und abwarten, was passiert. Man muss vorbereitet sein, Verbündete und Partner sammeln, um im Falle einer Invasion reagieren zu können. Am Ende des Tages kann ich Ihnen nicht sagen, was Präsident Putin im Kopf hat. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er einmarschieren wird oder nicht und wann er das tun könnte. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass die an der Grenze zusammengezogenen Fähigkeiten äußerst besorgniserregend sind.
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die aktuellen Entwicklungen kommentiert: „In den vergangenen Tagen haben wir eine bedeutende Verlegung russischer Streitkräfte nach Belarus erlebt”, so der Däne. „Damit haben wir dort nun die größte russische Präsenz seit den Zeiten des Kalten Krieges. Wir sprechen von mehr als 30.000 kampfbereiten Soldaten, Spezialeinheiten, Kampfflugzeugen einschließlich der Su-35, von Iskander-Dual-Use-Komplexen und S-400-Luftverteidigungssysteme.”
Der „Betrug” an Russland
Mitte Dezember 2021 hatte Moskau den USA und der NATO Entwürfe eines neuen Vertrags über Sicherheitsgarantien sowie eines Abkommens über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation und der NATO-Mitgliedstaaten übermittelt. Eine der Hauptforderungen Moskaus darin ist die „rechtliche Konsolidierung der Weigerung, Staaten, die früher Mitglieder der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken waren, künftig in die NATO aufzunehmen”. Zunächst wolle man dabei über die Ukraine und Georgien sprechen. Damit begann im Westen – wie der Kreml es ausführt – „eine weitere Welle von Anschuldigungen gegen Russland und es mehrten sich Vorwürfe einer angeblich vorbereiteten Invasion der Ukraine”.
Der russische Präsident Putin (siehe Video – live übersetzt vom Nachrichtendienst Ost-West-Translator) nahm am 10. Februar in einem Pressegespräch anlässlich des Besuchs des ungarischen Premierministers Victor Orbán auf die aktuelle Lage Bezug und stellte die wohl nicht nur rhetorisch gemeinte Frage (siehe Video unten): Sollen wir gegen die NATO kämpfen? In seinem Statement zitiert er einmal mehr auch das „Betrugs-Narrativ”, demnach sich die NATO nicht an die angeblich rund um die Gespräche zur Wiedervereinigung von Westdeutschland und der DDR gemachte Zusage gehalten habe, keine ehemaligen Ostblock-Länder aufzunehmen. Eine solche verneint aber aktuell der langjährige außenpolitische Berater des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, Horst Teltschik, in einem Video der Deutschen Welle vom 10. Februar (ab Minute 2:30). Teltschik war im Februar 1990 bei allen Gesprächen zur Wiedervereinigung Deutschlands mit Kohl, dem ehemaligen deutschen Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher, dem damaligen sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse und Staatspräsident Michail Gorbatschow dabei. „Eine derartige Vereinbarung wäre undenkbar gewesen”, so Teltschik. „Alleine schon, weil damals der Warschauer Pakt noch existierte und dessen Auflösung ebenso wie der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht absehbar war.”
Teltschik zufolge habe man sich nur über die Zusage verständig, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine NATO-Truppen anderer Mitgliedsstaaten zu stationieren und dort keine neuen NATO-Installationen zu errichten. Dem habe man auch im „Zwei-plus-Vier-Vertrag” bis heute entsprochen. Keinesfalls sei Gorbatschow versprochen worden, die NATO künftig nicht über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus nach Osten auszudehnen. Auch aus Genschers spekulativen Sondierungsgesprächen mit Schwardnadse in Moskau und dem isolierten Satz „Concerning the non-expansion of NATO, this should apply generally” könne nicht abgeleitet werden, dass er rechtlich verbindliche Garantien abgab – weder für die NATO noch für die Kohl-Regierung und schon gar nicht für Prag, Warschau oder Budapest, wie Christian Nünlist 2018 in der Zeitschrift Sirius festgehalten hat.
„Provokative Propaganda-Kampagne” des Westens
Zurück zu den aktuellen Entwicklungen und zum russischen Außenminister Sergei Lawrow, der am 12. Februar mit seinem US-Amtskollegen Anthony Blinken telefonierte und hinterher den USA vorwarf „mit seinen Warnungen vor einer russischen Aggression im Ukraine-Konflikt selbst die Kriegsgefahr zu erhöhen”. Der Kreml weiter: „Die Propaganda-Kampagne der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten verfolgt provokative Ziele. Kiew wird damit zu einer Sabotage der Minsker Vereinbarungen und schädlichen Versuchen einer militärischen Lösung des Donbass-Problems ermutigt.” Am Samstagabend kam es dann auf Wunsch der USA auch noch zu einem Telefonat der beiden Präsidenten Joe Biden und Wladimir Putin.
Nach einem Gespräch mit dem – wie er selbst sagt, als „als Stimme Europas” – nach Moskau gereisten französischen Präsidenten Emmanuel Macron erneuerte Wladimir Putin seine Kritik an einer möglichen NATO-Osterweiterung: „Russland lehnt das kategorisch ab.” Er erwarte einen Krieg zwischen Russland und der NATO, sollte die Ukraine dem Militärbündnis beitreten. Angesichts des seit 2014 latenten Konfliktzustands zwischen seinem westlichen Nachbar und Moskau steht ein Beitrag aktuell aber nicht zur Diskussion. Immerhin soll der Kremlchef gegenüber Macron zugestimmt haben, von neuen „militärischen Initiativen gegen die Ukraine Abstand zu nehmen” und sich verpflichtet haben, nach dem geplanten Ende der laufenden bilateralen Übungen in Belarus seine Truppen aus Weißrussland abzuziehen.
Optimistische Interpretation?
Interessant und vielleicht ein Hoffnungskeim ist auch Putins Begründung für die russischen Sorgen und Ängste angesichts der schon seit Dezember eingeforderten weitreichenden Sicherheitsgarantien. Denn bezüglich der Ukraine erinnert Putin daran, dass Kiew in seinen Grundsatzdoktrinen die Rückgewinnung der Krim zum Ziel erklärt und dabei auch die Anwendung militärischer Gewalt (gegen Russland) nicht ausgeschlossen habe. „Wenn die Ukraine in der NATO ist und mit militärischen Mitteln versucht, die Krim zurückzuholen, werden die europäischen Länder automatisch in einen Krieg mit Russland hineingezogen. Das will weder Russland, noch könne das Frankreich wollen”, so Putin.
Diese Aussage kann nun sowohl als Warnung, als auch als Drohung ausgelegt werden – sie enthält aber auch ein „verklausuliertes Angebot”: Verzichte Kiew auf seine Ansprüche auf die Krim und normalisiere seine Beziehungen zu Moskau, könnte Moskau das Land im Gegenzug aus seiner „Einflusszone” entlassen und die Ukraine irgendwann in Zukunft der NATO beiträgen. Aus Sicht des Westens käme das allerdings einer strategischen Niederlage gleich, die man so partout nicht hinnehmen möchte. Außerdem müsste im Fall der Fälle geklärt werden, was mit den beiden Donbass-Provinzen passieren würde.
Pessimistischere aber auch realistischere Einschätzungen
Dimitri Kisseljow, Leiter der Agentur Rossija Sewodnja und – als einziger Journalist auf einer EU-Sanktionsliste – einer der Anchormen im russischen Staatsfernsehen, beschrieb vor einer Woche auf Rossija-1 in seiner Abendsendung „Westi Nedeli”, was am Ende stünde, sollte die ultimative Eskalation eintreten: „In einem schließlich nuklearen Schlagabtausch würde Russland, seiner eigenen Zerstörung ins Auge blickend, den Westen mit sich nehmen. Russland braucht keine Welt ohne Russland.” Und er zitierte Präsident Putin mit einem Satz aus 2018: „Und dann gilt das nicht nur für Amerika, auch Europa würde zu radioaktiver Asche.”
Natürlich gibt es aber auch renomierte russische Sicherheits- und Militärexperten, die über die aktuelle Lage befragt werden oder sich medial äußern. Da wären beispielsweise Michaijl Barabanow, Experte am Moskauer CAST-Zentrum für die Analyse von Strategien und Technologien oder auch CAST-Leiter Ruslan Pukhow. Die Leute von CAST sind Militär Aktuell durchaus auch mit kritischen Analysen zu Russlands Sicherheits- und Militärpolitik bekannt, oder zu Mängeln und Fehlentscheidungen der russischen Verteidigungsindustrie und mit Büchern über die chinesischen Streitkräfte. Pukhov schätzt, dass es die russische Führung dauerhaft höchstwahrscheinlich nicht zufriedenstellen würde, auch wenn der Westen und/oder die Ukraine in den kommenden Wochen nennenswwerte Konzessionen machen würden, um einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden. „Nach einem gewissen Zeitraum wäre die Kriegsgefahr wieder da”, so Pukhov. „Der Westen versteht nicht, wie sehr diese Frage eine von Leben oder Tod für uns ist. Eine Ukraine in der NATO, das wäre das Äquivalent eines Atomkriegs.”
Michaijl Barabanow erläuterte der Zeitung Kommersant, dass „wir zum ersten Mal die Verlagerung praktisch aller ausgewiesenen Streitkräfte des östlichen Militärbezirks in den Westen sehen, über eine Distanz von 10.000 Kilometer hinweg. Das Ausmaß ist wirklich beeindruckend. Offensichtlich ist dies die Hauptidee der Übungen, es geht um die logistische Durchführung einer so langen Verlegung russischer Truppen auf das westlich angrenzende Territorium von Belarus und die Entwicklung und Etablierung eines neuen ganzen Militäroperationsschauplatzes durch diese Truppen. Dabei wurden auch zwölf Su-35 sowie Su-25SM-Flugzeuge aus Fernost, zwei Divisionen von S-400-Luftverteidigungs- und eine Abteilung von Pantsir-S1-Flugabwehrsystemen verlegt. Das ist wirklich was Großes und durchaus eine Premiere.”
Und Barabanow zitiert den stellvertretenden Verteidigungsminister Alexander Fomin, aus einem Briefing für ausländische Militärattachés vom 18. Jänner: „Es kann eine Situation geben, in der die Kräfte und Mittel der regionalen Gruppierungen nicht ausreichen werden, um die Sicherheit des Unionsstaates zu gewährleisten, und wir müssen bereit sein, sie zu stärken.”
Was die nach Belarus verlegten Truppen betrifft, gaben weder Moskau noch Minsk die Zahl der Militärangehörigen bekannt, die an den nach (weiß)russischen Angaben bis 20. Februar laufenden Übungen beteiligt sind. Laut dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu „überschreitet die Anzahl der Teilnehmer an den Manövern und jene der Hauptwaffensysteme nicht die Parameter, die im Wiener Dokument von 2011 festgelegt sind”. Schoigu weiter: „In diesem Zusammenhang waren Russland und Belarus nicht verpflichtet, ausländische Partner über die Übungen zu informieren.” In jener OSZE-Vereinbarung über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sind militärische Aktivitäten meldepflichtig, wenn mindestens 9.000 Personen einschließlich unterstützender Truppen beteiligt sind, ebenso 250 Kampfpanzer oder 500 gepanzerte Kampffahrzeuge oder 250 selbstfahrende und gezogene Artilleriegeschütze beziehungsweise Mörser sowie Mehrfachraketenwerfer (Kaliber 100 Millimeter und höher). Dazu nochmals Barabanow: „Russland hat bereits gelernt, die Wiener Grenze zu manipulieren – mit der Aufteilung einer Übung in mehrere kleinere oder mit der Trennung der territorial beteiligten Kräfte. Das ist alles Formalismus.”
Ein anderes Detail kommt von Alexander Alesin, ein sich als unabhängig bezeichnender Militärexperte aus Belarus (er wurde 2014 aus unbekannten Gründen vom lokalen KGB 14 Tage lang festgehalten). In einem Interview ebenfalls mit dem Kommersant beruft er sich auf den Telegrammkanal der „Gemeinschaft der Eisenbahner von Belarus”. Demnach wurden stolze 200 Züge aus Russland nach Belarus geschickt, jeder Zug mit 30 bis 50 Waggons. Sie hätten in erster Linie militärische Ausrüstung geladen gehabt, entweder als Vorauslieferung oder zur längerfristigen Einlagerung, das muß man erst erheben.” Und zu den praktischen Rahmenbedingungen meint er (als Weißrusse): „Wenn die Nervosität nun wächst und wächst, hört niemand auf die Argumente, dass weder die Beschaffenheit des Geländes im Süden Weißrusslands – Wälder, Sümpfe, Überschwemmungsgebiete von Flüssen – noch die Größe der Kampf-Gruppierungen eine groß angelegte Offensive gegen die gesamte Ukraine ermöglichen. Ich glaube auch nicht an die Möglichkeit einer russischen Offensive gegen die Ukraine, durch das Gebiet der selbsternannten Republiken DVR und LPR. Die Ukraine hat 120.000 Soldaten im Osten. Angreifer einer Hauptstoßarmee oder -richtung sollten nach geltender Doktrin das Dreifache der Verteidiger oder sogar mehr überschreiten. Nach verschiedenen russischen Quellen beträgt die Anzahl der gesamten russischen Bodentruppen der ersten Linie – es gibt keine Mobilisierung – etwa 280.000 Soldaten. Da müsste Russland, um die benötigte Überlegenheit zu schaffen, nahezu alle seine Truppen an die ukrainische Grenze ziehen. Das ist unmöglich. Und mit kleineren Streitkräften eine Verteidigung anzugehen, die mit guten westlichen Waffen gesättigt ist, ist sinnlos. Niemand braucht zahlreiche Beerdigungen.” Alesin denkt, dass die russischen Bewegungen an den Grenzen viel mehr Demonstrationscharakter hätten: „Dies ist ein Element der hybriden Kriegsführung. Manchmal ist das Warten auf einen Schlag schlimmer als der Schlag selbst. Das erschöpft die Nerven des ukrainischen Militärs aber auch der westlichen Regierungen via ihrer Medien, bindet Ressourcen und trägt auch nicht zum Investitionsklima bei.”
Noch einmal Kommersant (die zitierten Wortspenden stammen alle von der Ausgabe vom 9. Februar): Ilja Kramnik, Forscher beim Zentrum für Nordamerikastudien des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, sagte zu dem Blatt: „In der Regel finden alle größeren Übungen immer noch im Sommer und Herbst statt und schließen das Ausbildungsjahr der Armee ab. Die Kombination aus Saison und Ort deutet zwar darauf hin, dass diese Übungen nicht gewöhnlich sind, aber der Westen hat das nicht anders gemacht.” Kramnik erinnert dabei an die ebenfalls ungewöhnliche Unterstellung des US-Flugzeugträgers USS Harry Truman von der 6. US-Flotte unter NATO-Kommando während der jüngsten Marineübung im Mittelmeer oder an über 40.000 Mann bei NATO-Manövern im Baltikum oder Norwegen. Auch das sei nicht alltäglich.
Ungefähr dieselbe Ansicht nimmt auch Andrej Suschentzow ein, Dekan an der MGIMO, der vom Außenministerium betriebenen Moskauer Eliteuniversität. „Ich erwarte, dass uns diese Krise bleibt, in verschiedenen Ausformungen, wenigstens für das ganze Jahr 2022.” Er beschreibt die momentane Konfrontation als einen ersten Schritt in einer sich hinziehenden russischen Anstrengung, den Westen zur Zustimmung einer neuen Sicherheitsarchitektur (Stichwort „Einflusszonen”) zu zwingen. Es charakterisiere „nur” eine risikobereitere Phase innerhalb des schon jahrelang ausgetragenen Konflikts mit dem Westen, welche jetzt in Moskaus Außenpolitik Boden gewinne. „Russlands Ziel ist es, die Kriegsgefahr aufrecht zu erhalten und damit die Verhandlungen zu erzwingen, die der Westen bisher vermieden oder verweigert hat. Russlands neu entdeckter Appetit auf aufmerksamkeitswirksamen militärischen Druck gegen den Westen via dessen Medien aber auch gegen die Ukraine, wird daher wahrscheinlich bestehen bleiben. Russland hat sich von der Taktik verabschiedet, einfach darum zu bitten, angehört zu werden. Russische Führer haben gesehen, dass dies nicht funktioniert und dass es notwendig ist, die Risiken einer Ignorierung der russischen Positionen deutlich zu machen. Darum geht es in erster Linie.”
Zum Abschluß ein langer und – ja, auf RT.de – sehr ausgewogener Text zur Sinnhaftigkeit der „Nebenfront” einer von (in der Mehrzahl eine anti-amerikanische Position einnehmenden) Postern in heimischen Zeitungsforen bis hin zu Präsident Putin öfters aufgeworfenen Idee: Was denn passieren würde, wenn Russland – dessen Führung sich selbst ja als größtes Land der Welt als von globaler US-Präsenz eingekreist beschreibt — vor der US-Haustüre in Lateinamerika Offensivwaffen- und deren Trägersysteme stationieren würde. Russische Experten sehen das zum Teil skeptisch, zum Teil aber auch durchaus möglich.