Das russische Verteidigungsministerium und die Luftabwehrraketentruppe der russischen Luft- und Weltraumwaffe (VKS) haben am 22. Juli zum ersten Mal ein offizielles Video veröffentlicht (aktuell im Netz nicht mehr verfügbar), welches das neue Luftverteidigungssystem S-500 Prometheus (55R6M) des Herstellers Almaz-Antey in Aktion zeigt.
Der Flugkörper – gestartet während einer Testkampagne im südrussischen Kapustin Yar in der Nähe von Astrachan – soll nach offiziellen Angaben erfolgreich das Ersatzziel einer simulierten ballistischen Rakete abgeschossen haben. Eindeutig mit Schwerpunkt auf Raketenabwehr, soll S-500 das gesamte Spektrum bestehender und absehbar künftiger Luft- und Weltraumangriffswaffen eines potenziellen Feindes in allen Höhen und Geschwindigkeiten besiegen können. Bei Letzteren steht wohl die Endanflugphase im Fokus.
Der Kommandant der bodengestützten Langstrecken-Luftabwehr zum Schutz eigener Kräfte sowie von Schlüssel- und Ballungsräumen – in Österreich nach 1955 überhaupt nie angegangen und nun in der Schweiz mittels Patriot am Wiederbeleben – in der russischen VKS, Generalmajor Sergej Babakow kommentierte: „Zurzeit werden Truppenerprobungs- und Einführungstests durchgeführt, in denen Luft- wie auch Flugkörperziele abgefangen und bekämpft werden. Alle Tests endeten bisher positiv, teils um Dutzende Kilometer weiter weg und früher als bisher möglich. Wir führen gerade zwei neue Systeme ein, S-350 Witajz (= „Ritter” oder „Recke”) läuft gerade zu und die Einführung von S-500 ist eingetaktet. Letzteres System kann neben bemannten und unbemannten Flugzeugen auch alle ballistischen Ziele bekämpfen – auch Hyperschallwaffen im erdnahen Weltraum. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass Prometheus in der Welt keine Entsprechung hat.”
Neuer Flugkörper auf bekanntem Chassis
Was hier sichtlich gestartet wurde ist mit einiger Sicherheit der zweistufige Flugkörper 77H6 von Novator, er ähnelt dem 9M82 (ein Flugkörper des auch in Syrien installierten und von der Türkei dafür „geopferten” F-35 Vorläufersystems S-400 Triumf), nur mit einem größeren Booster. Die Reichweiten sollen – abhängig vom Schußwinkel – bei mehr als 600 Kilometern liegen. 77H6 ist aber – zum Unterschied zur ebenfalls zweistufigen 9M82 (NATO: „Giant”) oder der 40N6 des S-400 – ein „Hit-to-Kill”-Typ, der den gegnerischen Gefechtskopf kinetisch treffen und (sich mit) zerstören soll. Genaueres möchte man offiziell jedenfalls (noch) nicht zeigen, es ist offensichtlich wie bewusst versucht wurde, jene Teile des Videos unkenntlich zu machen in denen der Flugkörper unmittelbar nach Verlassen des Startrohres gut zu identifizieren wäre. Nach rund 6 Sekunden erfolgt bereits die Seperierung. Auffällig auch, dass in einer Sequenz der Deckel der offenbar zwei im Vergleich zu S-300/400 größeren (dickeren und längeren) Startrohre zur Gänze (weit) wegfliegt. Jene ähneln denen des küstengestützten Anti-Schiffskomplex Bastion. Ihr 10×10 Transport- und Startfahrzeug (TEL) ist das vom System S-300VMK Abakhan bekannte BAZ-69096. Da ja auch straßen-, bahn- und luftbeweglich, kann S-500 in Auslandsverlegung einen erheblichen Beitrag zur russischen (aber auch der chinesischen) „Blasen”-Philosophie der Zugangsverweigerung und Gebietsabriegelung (A2/AD = Anti-Access / Area Denial) leisten. Beispielsweise nahe der Ostgrenze der NATO, wie etwa der Ostesee-Exklave Kaliningrad oder rund um die Krim im Schwarzen Meer. Solches richtet sich speziell auch gegen westliche SIGINT-Sammler wie E-3, 737- und 767-AEW, E-2D, P-8 und ähnliche Muster.
Jahrelange Verzögerungen
Seit gut fünf Jahren ist S-500 Gegenstand wiederholter, ähnlich lautender Ankündigungen. So begann der Hersteller – laut Broschüre auf der MAKS – die Entwicklung von S-500 (damals noch unter dem Namen Triumfator-M) bereits 2009. 2010 hieß es, bis 2015 werde man fertig sein. Bis zu ersten Tests mit dem Flugkörper 40N6 und Schußweiten bis 480 Kilometer dauerte es dann aber bis Februar 2018. Nun hat man für diesen April den „unmittelbar bevorstehenden Abschluß der Arbeiten und eine erste Auslieferung noch in diesem Jahr” angekündigt. Danach soll S-500 zunächst in Balaschika als Teil des Verteidigungsschirms um die Hauptstadt Moskau einsatzbereit gemacht werden. Dort soll es das Silo-gestützte Raketenabwehrsystem (ABM) A-135 ersetzen und dessen Nachfolger A-235 Nudol (ebenfalls in Silos – siehe Video) ergänzen. Die tatsächliche Serienproduktion soll aber wiederum erst 2024/25 beginnen, dieses Datum wurde 2020 vom stellvertretenden Verteidigungsminister Alexei Krivoruchko auf der Grundlage der in jenem Jahr unterzeichneten entsprechenden Staatsverträge angegeben.
Russische Medien spekulieren bezüglich S-500 auch über eine mögliche seegestützte Marineversion, nach dem gleichen Entwicklungsmuster wie bei S-300 und S-400. Beide haben ihre Analogien auf russischen Kriegsschiffen. Was diese neueste Version betrifft, wird hier der künftige Lenkwaffenzerstörer Lider genannt, aber dieses ehrgeizige Programm soll 2020 wieder (vorübergehend?) suspendiert worden sein. Jedenfalls finden sich im aktuellen Marinehaushalt dafür keine expliziten Mittel.
Nicht früh genug
Aus russischer Sicht können die erweiterten Fähigkeiten des S-500 nicht früh genug kommen, treiben doch die USA aktuell ihre Pläne zur Modernisierung aller drei Zweige ihrer nuklearen Triade sowie zur Entwicklung neuer strategischer und stationärer Waffenträgersysteme, einschließlich Marschflugkörpern, überarbeiteten ballistischen Raketen, Hyperschallflugkörpern und Raketenartillerie rasch voran. Was allerdings die erwähnte angebliche Fähigkeit zur Abwehr von Hyperschallraketen betrifft (die russische Marine feuerte letzte Woche erstmals ihre eigene Zirkon ab – siehe Bericht), ist unklar, ob sich dies auf ankommende ballistische Raketen in ihrer Endflugphase oder generell auf die neue Waffenklasse bezieht, welche mit Mach 5+ kreuzt. In jedem Falle liegen all diesen Szenarien beachtliche Rechner- und Radar-Leistungen zugrunde (das Radar für S-500 soll das LEMZ 96L6-TsP Jenisej sein, erstmals gesichtet im April 2018). In Beibehaltung der inhärenten Flexibilität behält S-500 daneben die Fähigkeit bei, traditionelle luftatmende Bedrohungen (Kampfflugzeuge, UCAVS) auf sehr große Entfernung zu bekämpfen. Und diesbezüglich zeichnen sich auch bereits – nach der Einführung in Russland – in ein paar Jahren erste Exporte ab. Interesse gibt es neben der Türkei (siehe Bericht) auch von China (Bericht).