Um zu verstehen, wie eine moderne Luftverteidigung aufgebaut sein sollte, lohnt ein Blick auf die Entwicklungen im Ukraine-Krieg und in der Industrie. Mit Beat Benz ist beides möglich – der aktive Offizier der Schweizer Luftwaffe ist zudem bei Rheinmetall Air Defence als GBAD-Experte tätig.

@Rheinmetall Air Defence
Gesprächspartner: Beat Benz ist GBAD-Experte bei Rheinmetall Air Defence in der Schweiz.

Herr Benz, der 24. Fe­bruar 2022 hat vieles verändert. Wie sind Ihre bisherigen Erkenntnisse aus dem Ukraine-Krieg, speziell mit Blick auf den Luftkrieg?
Betrachten wir zunächst die strategische Sphäre, in der wir uns in einer Abnützungsphase befinden: Russland versucht dabei militärische und zivile Infrastruktur im Hinterland anzugreifen – zuletzt vor allem mit iranischen Langstreckendrohnen. Damit sät Russland Terror, nützt zugleich ukrainische Kräfte ab und bindet bodengebundene Luftverteidigungssysteme im Hinterland …

… die dadurch an der Front fehlen.
Die ukrainischen Streitkräfte mussten ihre Gegenoffensive daher unter relativ schlechten Vorzeichen starten. Sie stehen regelmäßig unter Beschuss durch Kampfhubschrauber und ganz massiv durch Drohnen. Zur Einordnung: Pro Frontkilometer und Tag kommen zwischen zehn und zwölf größere und Dutzende kleinere Drohnen zum Einsatz, wobei die Lebensdauer der Kleindrohnen bei nur einem Tag liegt.

Zuletzt kam auch Lancet Loitering Munition verstärkt zum Einsatz.
Damit und mit FPV-Drohnen (-> Analyse zum Drohnenkrieg in der Ukraine) versucht Russland im hinteren Frontraum gezielt Schlüsselsysteme wie Artillerie und bodengestützte Luftverteidigung auszuschalten. Die Ukraine kann sich dagegen – wie angesprochen – kaum wehren.

@Archiv
Klein, flexibel einsetzbar und günstig: Drohnen in unterschiedlichsten Größen und Bauarten spielen bei den Kämpfen in der Ukraine eine immer größere Rolle.

Haben Sie diese Entwicklungen und dabei insbesondere der massive Einsatz von Drohnen überrascht?
Unterschiedlichste Angriffs- und Aufklärungsformen mit Drohnen waren weltweit schon in den vergangenen zehn bis 15 Jahren zu beobachten. Der IS hatte sich damit sogar eine kleine „Luftwaffe” zurechtgelegt und den USA im Irak und später auch in Afghanistan und Syrien zugesetzt. Schon überraschend ist in der Ukraine aber die Quantität der an der Front eingesetzten Drohnen und dass der Nachschub mit den enormen Verlusten mithalten kann.

Wie hat Rheinmetall Air Defence auf die Entwicklungen reagiert?
Wir haben uns schon vor Jahren auf dieses neue Bedrohungsbild eingestellt. Die meisten europäischen Armeen haben dann spätestens nach dem Drohnenkrieg in Bergkarabach antizipiert, dass Fähigkeitslücken bestehen, vor allem bei der Abwehr im Nah- und Nächstbereich. Diesen Eindruck hat der Krieg in der Ukraine verschärft und seitdem bemerken wir eine verstärkte Nachfrage nach unseren Produkten.

Neue Investitionen in die AB212-Helis geplant

Welche Systeme sind dabei aktuell am gefragtesten?
Aktuell natürlich vor allem Systeme, die bereits verfügbar sind und da haben wir glücklicherweise schon vor gut zehn Jahren in der Produktentwicklung die Weichen richtig gestellt. Wir haben damals das Konzept von Skyguard und Skyshield aufgebrochen und mit Skynex ein netzwerkfähiges System für stationäre und schnell verlegbare Anwendungen entwickelt. Dabei können die Geschütze selbstständig ein Ziel verfolgen, die Ziele werden von Radaren im Netzwerk zugewiesen und dasselbe bilden wir mit der Skyranger-Familie (-> Video: So funktioniert der Skyranger-Turm) in mobilen Anwendungen ab. Ganz entscheidend für unsere Kompetenz bei der Abwehr von Kleindrohnen war aber die Entwicklung der Ahead-Munition (-> Video: So funktioniert Ahead-Munition) …

Eine Airburst-Munition speziell für die Bekämpfung kleiner Flugziele.
Genau. Dabei stellt jedes Geschoss eine Art Schrotflinte dar und wird beim Abschuss individuell programmiert, sodass es sich knapp vor dem anfliegenden Ziel öffnet und eine dreidimensionale Wolke von Subprojektilen entsteht. Die Trefferwahrscheinlichkeit erhöht sich dadurch drastisch.

Das Bundesheer wurde für seine 35-Millimeter-Fliegerabwehrkanonen international lange belächelt. Eingebettet in ein System und mit der richtigen Munition ist aber gerade diese Waffe eine gute Antwort auf die steigende Bedrohung durch Drohnen und wird nun auch deshalb bei Ihrem Unternehmen einer umfassenden Modernisierung unterzogen, oder?
Ja, und wir haben die Zwillingsabwehrkanone – wie sie in Österreich und baugleich übrigens auch in der Schweiz verwendet wird – daher auch laufend weiterentwickelt. Die erste Generation wurde Anfang der 1960er-Jahre in Einsatz gestellt und momentan halten wir bei der neunten Generation, mit der auch anspruchsvolle Ziele wie Marschflugkörper, Luft-Boden-Lenkwaffen und eben Drohnen bekämpft werden können.

Das Bundesheer modernisert seine Fliegerabwehr

Was braucht es dafür außerdem?
Entscheidend, um effizient wirken zu können, ist die rechtzeitige und zuverlässige Identifizierung und Verfolgung des Zieles. Früher setzte man dabei auf klassische Such- und Verfolgungsradare, die primär Kampfflugzeuge entdecken sollten. Heute verwenden wir AESA-Radarsysteme mit aktiver Strahlenschwenkung, die auch Klein- und Kleinstziele zuverlässig sehen. Zunehmend werden die aktiven Systeme auch durch passive und elektrooptische Sensoren ergänzt.

Und wie sieht es – insbesondere mit Blick auf Drohnen – mit nicht kinetischen Abwehrmitteln aus?
Je breiter der Effektorenmix, desto besser. Es gibt genügend Anwendungsfälle, bei denen ich idealerweise mit Jammer oder Abfangdrohne wirke. Trotzdem benötige ich Kanone, Lenkwaffe oder irgendwann auch Laser, um bei Bedarf vollinhaltlich abwehren zu können.

„WIR WERDEN SCHON BALD Schwärme SEHEN, in denen sich Drohnen – losgelöst von einer Bodenstation – untereinander koordinieren und kognitiv in der Lage sind, Bedrohungen zu erkennen, diesen auszuweichen oder sie gezielt auszuschalten.“

Lassen Sie uns abschließend in die Zukunft blicken: Was kommt in den nächsten Jahren auf uns zu? Wie werden sich Bedrohungsszenarien weiterentwickeln?
Wir sehen wie erwähnt schon jetzt in der Ukraine den massenhaften Einsatz von Drohnen. Noch braucht aber jede Drohne eine Bodenstation und eine Bedienmannschaft – das wird sich zeitnah ändern. Wir gehen davon aus, dass große Player wie die USA oder China schon jetzt die Fähigkeit haben, Drohnen ohne Bedienmannschaft zum Einsatz zu bringen. Wir stehen also an der Schwelle zur echten Schwarmintelligenz …

… was weitergeht als zeitgleich massenhaft Drohnen zum Einsatz zu bringen, wie das auch heute schon vereinzelt zu beobachten ist?
Viel weiter. Wir sprechen von Schwärmen, in denen sich Drohnen – losgelöst von einer Bodenstation – untereinander koordinieren und kognitiv in der Lage sind, Bedrohungen zu erkennen, diesen auszuweichen oder sie gezielt auszuschalten. Das wird für eine unglaubliche Effizienzsteigerung sorgen. Zudem werden wir in Zukunft auch größere waffen- oder sensortragende Drohnen erleben, die im Verbund mit bemannten Kampfflugzeugen zum Einsatz kommen werden. Die Rede ist dann von sogenannten „Loyal Wingmen”, die im Vorfeld des Kampflugzeugs in gefährliche Zonen eindringen, um dort Aufgaben durchzuführen. Und ja, früher oder später werden wir dann auch Kampfdrohnen erleben, die ohne bemannte Komponenten alle Aufgaben übernehmen können.

@Rheinmetall Air Defence
Wirksames Mittel: In Kombination mit modernen Sensoren bieten auch traditionelle Systeme wie die von Rheinmetall Air Defence angebotenen 35-Millimeter-Fliegerabwehrkanonen einen wirksamen Schutz gegen Klein- und Kleinstdrohnen.

Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund die größten Herausforderungen für die bodengebundene Luftverteidigung?
Die größte Herausforderung ist sicherlich die Übersättigung. Da müssen wir mit passiven Maßnahmen und einem möglichst breiten Effektorenmix noch resilienter werden. Ziel muss es sein, Bedrohungen möglichst früh zu entdecken und auf möglichst große Distanzen zu bekämpfen. Dafür ist ein System allein nie optimal, es braucht immer den Verbund von mehreren bodengestützten Luftverteidigungssystemen und in Zukunft auch die Kombination mit Cybersystemen und Systemen, die im elektromagnetischen Raum wirken …

… und sich auch gegenseitig schützen?
Das ist ganz wesentlich. Wir sehen in der Ukraine, dass große, wertvolle Medium- und Long-Range-Systeme wie Patriot oder Iris-T mit kanonenbasierten Abwehrsystemen geschützt werden müssen. Sind diese Systeme idealerweise vernetzt und verfügt der taktische Kommandant dadurch über eine kombinierte Luftlage, dann muss er anfliegende Shahed-Drohnen auch nicht mit teuren Lenkwaffen-Raketen angreifen. Er kann diese gezielt für die Kanone durchlassen und im Vergleich relativ kostengünstig – und vor allem deutlich effektiver wirken.

Hier geht es zu weiteren Berichten rund um Rheinmetall.

Quelle@Rheinmetall Air Defence, Archiv