Generalmajor Peter Vorhofer ist im Verteidigungsministerium mit der Führung der Direktion Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen betraut. Wir haben mit ihm über aktuelle Sicherheitsrisiken und die globalen Folgen der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten gesprochen – und vor allem über die Weltpolitik von morgen.
Herr Generalmajor, wie bewerten Sie angesichts des Ukraine-Kriegs, der Kämpfe in Israel und im Gazastreifen und der jüngsten Entwicklungen in der Sahelzone die Sicherheitslage in Europa und speziell auch rund um Österreich?
Die angesprochenen Kriege und Konflikte zeigen deutlich: Eine regulierte Weltordnung, wie wir sie in der Vergangenheit kannten, gibt es nicht mehr. Die hat zwar auch früher eher schlecht als recht funktioniert, aber zumindest gab sie Orientierung. Damit ist es spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vorbei und die Auswirkungen sind in ihrer Dimension durchaus mit dem Ende des Ost-West-Konflikts vergleichbar. Die Sicherheitslage ist unter dem Strich deutlich instabiler als noch vor ein paar Jahren und die Folgen werden die Weltpolitik auf viele Jahrzehnte hinaus bestimmen – auch wenn das die meisten Menschen nicht wahrhaben wollen. Noch nicht.
Sie haben eine ähnliche Aussage auch bei der Präsentation des Risikobilds im vergangenen Jänner getätigt …
… und sie hat immer noch ihre Richtigkeit. Der wesentliche Punkt dabei ist, dass viele sich auf die Einzelereignisse fokussieren und diese nicht als Resultat dieser globalen Veränderungen wahrnehmen. Zudem bedeutet diese Erkenntnis, dass damit ein langjähriger Umgestaltungsprozess läuft, der bereits jetzt mit vielen Effekten unser Sicherheitsumfeld verändert. Dieser Prozess wurde unter anderem massiv durch die USA ab 2016 mit dem bekannten Slogan „America first” eingeleitet. Die Folge war und ist, dass sich die internationale Rolle der USA verändert hat und diese sich nun nicht mehr als jenen Akteur sehen, der sich aller globalen sicherheitspolitischen Probleme annimmt. Es könnte politikwissenschaftlich davon gesprochen werden, dass dem seit Jahrzehnte verfolgten Ansatz des „Idealismus” eine Absage erteilt wurde. Die Auswirkungen dieser globalen Umorientierung sind mit unterschiedlichsten Effekten schon jetzt auf allen Ebenen enorm.
Können Sie einige dieser Effekte nennen?
Ich schlage vor, wir beginnen auf der globalen Ebene, wobei dies nur Auszüge sind, welche wir derzeit analysieren.
Gut. Dann lassen Sie uns bitte damit beginnen, dass gerade die ganze Welt aufzurüsten scheint.
Dieser Effekt, den wir unzweifelhaft wahrnehmen, könnte als „Weaponizing” bezeichnet werden. Dies beschreibt, dass die Staaten in vielen Regionen der Welt, welche bisher schon viel in Rüstung investiert haben, dies derzeit noch weiter steigern und nun zusätzlich auch in Europa und umliegenden Regionen starke Investitionen in die Streitkräfte durchgeführt werden. Dadurch steigt natürlich die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte mit Waffen ausgetragen werden, was durch den „Pop-up-Effekt” und aufstrebende „New Powers” noch verstärkt wird. Immer mehr Staaten entwickeln sich zu regionalen, oft auch konkurrierenden Machtzentren und sind bereit, ihre Ansprüche notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Ein weiterer Effekt, der zu beobachten ist, kann als „Battle of Powers” umschrieben werden.
Was ist damit gemeint?
Dieser bringt vereinfacht gesagt zum Ausdruck, dass viele Länder, vor allem im „globalen Süden”, nun die Wahl zwischen verschieden Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sicherheitssystemen haben und nicht mehr an die alten bipolaren „Systeme” zwischen Ost und West gebunden sind. Dies erfordert von der „westlichen Welt” neue Konzepte, um Partner und Freunde zu gewinnen.
Ist das eine Art Emanzipation von der einst stark auf die USA oder Russland konzentrierten Weltordnung?
Durchaus. Früher orientierten sich Länder entweder liberaldemokratisch westlich oder kommunistisch autoritär. Jetzt gibt es Alternativen, kombinieren Staaten für sich das Beste aus allen Welten und dabei stehen unsere westlichen Werte – dessen müssen wir uns bewusst werden – nicht immer an erster Stelle.
Was versteht man eigentlich unter dem Begriff „Polykrise”?
Eine Polykrise umschreibt derzeit ganz generell die Situation, dass die internationalen Organisationen einer Schwächung unterliegen, Konkurrenz statt Kooperation Einzug gehalten hat, Mittelmächte immer stärker ihre Interessen durchzusetzen beginnen und dies vor dem Hintergrund der ökologischen und ökonomischen Herausforderungen.
Was für Folgen ergeben sich dabei für uns?
Die „Polykrise”, mit der wir uns nun konfrontiert sehen, beschert uns global auch noch den sogenannten „Kipppunkteffekt”, welcher uns mit Blick auf Globalisierung und Ökologie durch die Existenzgefährdung der Menschheit aufgezeigt wurde. Somit hat die viel zitierte Globalisierung und ihre Auswirkung auf die Stabilität der Welt in zweifacher Hinsicht ihren Pathos verloren – durch die Ökologie und den Umstand, dass Globalisierung nun in vielen Bereichen ein Sicherheitsrisiko geworden ist.
Gibt es noch weitere Effekte?
Da gibt es eine ganze Reihe, von großer Relevanz ist vor allem der „Illusionseffekt”. Der Westen denkt und plant zumeist in Wahrscheinlichkeiten – und nicht in Potenzialen. Daher haben wir uns auch der Illusion hingegeben, dass es zu keinem russischen Angriff auf die Ukraine kommen wird. Eine derartige Attacke erschien uns unvernünftig und nicht logisch. Wie sich gezeigt hat, hat Russland aber trotzdem seine Potenziale zur Durchsetzung seiner Interessen eingesetzt. Daraus müssen wir lernen – und das gilt übrigens ganz unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine. Zudem muss uns bewusst sein, dass jeder erdenkliche Ausgang dieses Konfliktes nachhaltige Auswirkungen auf Europa haben wird und zwar für die nächsten Jahrzehnte! Ein Effekt, der sich jetzt auch für Europa gerade herauskristallisiert, ist der „Sanktioneneffekt”, nämlich der Umstand, dass die Einleitung solcher Maßnahmen in einem solchen Umfang auch immer schwerwiegende Folgen für die eigene Wirtschaft, Technologieentwicklung und besonders für die eigenen Gesellschaften haben kann. Regierungen müssen enorme Energien aufbringen, um die eingeleiteten Sanktionen ihren Gesellschaften und der Wirtschaft erklären zu können – von Akzeptanz oftmals weit entfernt.
„ES muss uns bewusst sein, dass jeder erdenkliche Ausgang DES UKRAINE-KRIEGES nachhaltige Auswirkungen auf Europa haben wird und zwar für die nächsten Jahrzehnte!“
Wir müssen also mit allem rechnen?
Ja, und dementsprechend müssen wir uns für alle Eventualitäten rüsten. Das verlangt nach der Interessensverlagerung der USA auch nach dem Aufbau einer nachhaltigen europäischen Außenpolitik – und zwar am besten sofort. Sonst drohen wir im globalen Wettlauf ins Hintertreffen zu geraten. Die Welt wird sich mit oder ohne uns massiv verändern. Wir können diese Veränderungen nun entweder aktiv gestalten oder wir lassen sie passieren und müssen dann möglicherweise mit massiven Einschränkungen und Veränderungen zu leben lernen – dies wird oft auch als „Zeitenwendeffekt” bezeichnet.
„Uploading-Effekt” und „Dingi-Effekt” – was ist damit gemeint?
Alle bisher erwähnten Effekte haben Auswirkungen auf die Nationalstaatenebene, aber in keinem der Fälle kann dies nur einer Ebene zugeordnet werden. Es gibt aber auch Effekte, die besonders Österreich betreffen, wie zum Beispiel den „Uploading-Effekt”. Dieser umschreibt die nun herausfordernde Aufgabe, die österreichischen Interessen auf einer europäischen Ebene nachhaltig darstellen zu können, und dies hängt wiederum mit dem sogenannten „Dingi-Effekt” zusammen, welcher sich durch den Beitritt von Schweden und Finnland zur NATO ergibt. Neben Österreich sind nun nur mehr Irland, Malta und Zypern nicht in der NATO. Als Folge davon ist es für uns ungleich schwerer geworden, unsere sicherheitspolitischen Interessen auf europäischer Ebene umzusetzen, weil wir die kritische Masse unterschritten haben. Es gibt jedoch Möglichkeiten, dies zu kompensieren, diese sind jedoch mit höherem Aufwand versehen.
Werden sich Regierungen und Öffentlichkeit dieser Entwicklungen zunehmend bewusst?
Man hat zwar noch nicht die gesamtglobalen Veränderungen am Schirm, aber schon gesehen, welche Auswirkungen Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Ukraine-Krieg auf die Wirtschaft und unsere Sicherheit haben. Viele Länder haben daher ihre Streitkräfte auf neue Budgetpfade gesetzt, allerdings dauert dieser Aufwuchs nun zumindest zehn Jahre und diese zehn Jahre sind eine Schwächephase, in der wir anfällig für neue Krisen sind. Erst dann wird Europa militärisch wieder zu einem globalen Faktor werden und die Regierungen bessere Mittel zum Schutz ihrer vitalen Interessen haben. Damit das dann so bleibt, müssen wir die Landesverteidigung langfristig richtig dotieren und bei den Einsatz- und Bedrohungsszenarien schon jetzt über das im Rahmen des Aufbauplans abgedeckte Jahr 2032 hinausdenken. Durch die Mitarbeit an der neuen österreichischen Sicherheitsstrategie (ÖSS) können auch hier wichtige Akzente gesetzt werden.
Wir müssen weiter in die Zukunft blicken – gleichzeitig entstehen Krisen immer kurzfristiger, mit immer geringeren Vorlaufzeiten. Wie schaffen wir diesen Spagat?
Wir müssen uns dieser Entwicklung einfach bewusster werden und die Konsequenzen daraus ziehen und gleichzeitig versuchen, den Wehrwillen in der Bevölkerung zu steigern und uns auf potenzielle Krisen vorzubereiten. Damit erkaufen wir uns Zeit und Resilienz, wenn uns die nächste „Schockwelle” treffen sollte.
„Die Welt wird sich mit oder ohne uns massiv verändern. Wir können diese Veränderungen nun entweder aktiv gestalten oder wir lassen sie passieren und müssen dann möglicherweise mit massiven Einschränkungen und Veränderungen zu leben lernen.“
Was braucht es außerdem, um Europa fit für die Herausforderungen der Zukunft zu machen? Wo gibt es noch Nachholbedarf?
Vor allem bei den Teilautonomien in vielen verschieden Bereichen, welche vital unser Leben beeinflussen, wenn diese nicht zur Verfügung stehen. Dies beginnt bei der Medizin, geht über die Technologie bis hin zur militärischen Bevorratung. Ich spreche bewusst von Teilautonomie, da die Aufwendungen für eine volle Autonomie derzeit nicht machbar sind. Zudem ist es essenziell, ob dafür gesamtstaatliches Problembewusstsein vorliegt. Außerdem geht es darum, wieder verstärkt richtige Freundschaften aufzubauen, bei denen nicht nur Kooperationen im Vordergrund stehen, sondern auch gegenseitige Unterstützung und Hilfe, wenn ein Sturm aufzieht. Und mit Stürmen ist leider zu rechnen: Es gibt aktuell leider keine Zukunftsszenarien mit viel Sonnenschein – da dominiert das Schlechtwetter.
Kann man derart intensive Freundschaften als neutrales Land überhaupt leben?
Durchaus – es steht ein großes Spektrum zur Verfügung, welches dies zulässt.
Gilt dies auch, wenn der Aggressor möglicherweise gar nicht klar erkennbar ist, wie das mit den „grünen Männchen” rund um die Annexion der Krim durch Russland der Fall war?
Moderne Konfliktbilder sind nicht mehr an territoriale Grenzen gebunden und sie beginnen zunächst oft ganz weit unter der Wahrnehmungsschwelle. Etwa durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder von Wahlergebnissen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir stets alle aktuellen Entwicklungen auf dem Radar haben und Herausforderungen gesamtstaatlich gegenübertreten. Wir müssen unsere Wehrhaftigkeit und Resilienz stärken und es ist wichtig, der Bevölkerung zu vermitteln, dass es nicht selbstverständlich ist, was wir hier in Österreich haben, und dass es im Notfall auch notwendig sein wird, dafür einzustehen.
Wo beginnt Verteidigung dann? An der Staatsgrenze, sobald ein Angriff erfolgt? Bereits davor, wenn die Absichten eines Aggressors eindeutig sind? Oder schon jetzt, wenn beispielsweise der Verkauf von Unternehmen aus kritischen Branchen an Länder droht, mit denen sich möglicherweise Konflikte anbahnen könnten?
Das ist eine ganz entscheidende Frage und ja, mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die vorausschauende Analyse möglicher Risiken unabdingbar. Dies wird ja jährlich durch das Verteidigungsministerium durchgeführt und auch der Öffentlichkeit präsentiert. Vorausschau und Vorbereitung sind meiner Meinung nach die entscheidenden Bereiche, um aktuelle und zukünftige Krisen abzuschwächen beziehungsweise zu verhindern.
Wie positiv oder negativ blicken Sie angesichts all dieser Entwicklungen in die Zukunft?
Ich bin durchaus zuversichtlich, da die Regierung mit dem Aufbauplan für das Bundesheer, durch eine neue Sicherheitsstrategie, Blackoutvorsorge und vieles mehr bereits etliche Maßnahmen eingeleitet hat. Wir müssen den neuen Gegebenheiten ins Auge schauen – auch wenn das im ersten Moment vielleicht unangenehm ist.
Hier geht es zu weiteren Bundesheer-Meldungen.