Am 27. Jänner luden das BMLV und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner zur Präsentation des Risikobilds 2023 ins Raiffeisen Forum am Wiener Donaukanal. Anwesend waren neben „Hausherr” Generalmajor Erwin Hamesedeauch auch alle Wehrsprecher, Führungskräfte aus der Wirtschaft und von zivilen Forschungseinrichtungen, sowie die militärische Führungsspitze Österreichs, Vertreter ausländischer Botschaften (darunter auch Salome Meyer, die neue Botschafterin der Schweiz) und des internationalen Militärattachékorps.

Generell beurteilt das BMLV die „Schockwellen” des Ukraine-Krieges und eine derzeit nicht absehbare Eskalation des Krieges als die größte Bedrohung Österreich aber auch Europas. Mit dieser Bedrohung hängen direkt zusammen: Eine Zunahme der Migration, die weitere Konfrontation Russlands mit der EU, eine Verschärfung der Energiekrise sowie Störungen der Lieferketten und Stagflation.

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TIPP: Die 262 Seiten starke Publikation Risikobild 2023 kann unter Bundesheer – Wissenschaftliche Publikationen – Risikobild 2023 heruntergeladen werden.

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Dreimal mehr Risikofaktoren
2018 listete die damalige sicherheitspolitische Jahresvorschau des Verteidigungsministeriums noch 25 Risikofaktoren auf. Aktuell sind es bereits 72 – und eine Besserung der Lage sei nicht in Sicht, so Verteidigungsministerin Klaudia Tanner. „Es ist Krieg in Europa und dem kann sich auch das neutrale Österreich als Teil der Europäischen Union nicht entziehen.” Der Untertitel des Risikobildes sei daher mit „Krieg um Europa” statt „Krieg in Europa” bewusst gewählt.

@Bundesheer/Karlovits
Ministerin Klaudia Tanner mit Autorinnen und Autoren des Risikobildes.

Im Rahmen der Veranstaltung wurden die Risiken für Europa und Österreich für das Jahr 2023 diskutiert und wesentliche Herausforderungen mit namhaften Expertinnen und Experten am Podium erörtert. Und da mangelte es diesbezüglich nicht an Mahnungen oder Warnungen. Instrumente, um Krisen frühzeitig zu erkennen, Risiken abzuschätzen und Handlungsoptionen abseits, ja wider der Tagespolitik zu entwickeln, daran mangle es Österreich laut der neuen Vorschau sowie den Rednern und Teilnehmern der Panel-Diskussion. Das für die Experten Offensichtliche – also die klassische militärische Bedrohung und ihre begleitenden Aktionen etwa im Internet und in der gezielten Störung wirtschaftlicher Abläufe – würde in der breiten Öffentlichkeit und den Medien noch oft verdrängt, ideologisch verniedlicht oder schlicht übersehen.

@Georg Mader
Verteidigungsministerin Klaudia Tanner bei der Präsentation des Risikobilds 2023.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner eröffnete die Veranstaltung mit folgenden Worten: „Der Krieg in und um Europa macht deutlich, dass eine gut aufgestellte Landesverteidigung für einen neutralen Staat von existenzieller Bedeutung ist. Neben hybriden Bedrohungen hat nun auch wieder die konventionelle Kriegsführung klar an Bedeutung gewonnen. Es bedarf einer Rückbesinnung zum militärischen Schutz der österreichischen Souveränität gegen konventionell agierende Kräfte. Dies erfordert auch eine Konsolidierung der robusten militärischen Komponenten. Und die im Verfassungsrang stehende Umfassende Landesverteidigung muss als gesamtstaatliche Kernaufgabe wieder an Bedeutung gewinnen und an den neuen Herausforderungen orientiert weiterentwickelt werden.”

„Der Krieg in und um Europa macht deutlich, dass eine gut aufgestellte Landesverteidigung für einen neutralen Staat von existenzieller Bedeutung ist.“

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner

Weiters betonte Tanner ausdrücklich: „Da geht es erstens um den Krieg Russlands gegen die Ukraine, zweitens aber auch um einen Krieg gegen westliche Werte und nicht zuletzt auch um einen Krieg gegen die europäische Wirtschaft. Denn die hybriden Angriffe Russlands auf europäische Staaten haben gezeigt, wie verletzlich die Systeme sind, auf die wir uns gern verlassen. Diese zu schützen ist auf den ersten Blick die Rolle des Militärs. Wir müssen uns auf den Schutz der österreichischen Souveränität zurückbesinnen, wir haben viel zu tun – unserem Baudirektor wird also nicht fad werden und unserem Rüstungsdirektor auch nicht”, so die Ministerin.

@Georg Mader
Brigadier Peter Vorhofer ist Überleitungsverantwortlicher der Direktion Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen.

Jeder Einzelne ist gefordert
Im Kern geht es beim Risikobild natürlich um die konkrete Bedrohung Österreichs – schließlich ist der Herausgeber ja das Verteidigungsministerium. Dieses leitet daraus ab, welche Fähigkeiten besonders gestärkt werden müssen. Brigadier Peter Vorhofer, Überleitungsverantwortlicher der Direktion Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen, fiel bei der Präsentation des Berichts die Aufgabe zu, jene Offensichtlichkeiten den anwesenden Politikern und Wirtschaftstreibenden deutlich zu machen: „Alle Megatrends, die wir analysieren, weisen auf eine Verschlechterung der Lage hin. Das Bedeutendste wäre wohl die Gefahr, dass im aktuellen russischen Krieg ein Angriff auf ein EU-Land erfolgen könnte – dann wäre Österreich blitzartig in der Situation, sich über Solidarität und Beistandspflicht Gedanken machen zu müssen. Noch ist vielen Menschen in Österreich nicht bewusst, dass es diese Beistandspflicht gibt – weil sich die irreführende Neutralitätserzählung ‚Wer nicht mitspielt, kann nicht verlieren’ in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt hat. Es geht daher um die Bereitschaft jedes Einzelnen, einen Beitrag zur Sicherheit und Krisenfestigkeit unseres Landes zu leisten. Doch hat vor allem die europäischen Zivilgesellschaft noch nicht begriffen, dass sie wieder Teil eines Konflikts ist, auch wenn sie keine Uniform trägt.”

„Es geht um die Bereitschaft jedes Einzelnen, einen Beitrag zur Sicherheit und Krisenfestigkeit unseres Landes zu leisten.“

Brigadier Peter Vorhofer

Luftverteidigung gewinnt an Bedeutung
Im Bericht wird auch Bundeskanzler Karl Nehammer zitiert: „Die Bedrohung durch Raketen und Marschflugkörper ist näher gerückt. Sie hat unser bisheriges strategisches Handeln auf den Kopf gestellt. Wir müssen die Luftverteidigung sicherstellen.” Luftverteidigung ist ein Wort, welches seit der Abfangjäger-Diskussionen im politischen Diskurs eher vermieden wird, nun aber wie selbstverständlich verwendet wird. Gezielte Flugkörperangriffe – aber auch mögliche Ereignisse mit ungezielten und technisch fehlerhaften Systemen gegen Europa (man denke an den Irrflug der ukrainischen Tu-141-Drohne bis nach Zagreb im März 2022) könnten nicht ausgeschlossen werden. Im Umfeld Österreichs beziehungsweise Europas existiere eine Vielzahl von Raketen und Marschflugkörpern mit diversen Reichweiten und Zielsetzungen, heißt es dazu im Bericht. Die Ministerin fordert daher eine Vorbereitung auf mögliche Bedrohungen aus der Luft: „Das ist ein wichtiger Schritt, dass wir uns da vorbereiten.”

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Rasch war am Freitag diesbezüglich der geplante Luft/Raketenabwehr-Schutzschirm der europäischen NATO-Staaten ein Thema, die „European Sky Shield Initiative”, auf dessen rasche Umsetzung man im BMLV nun offenbar hofft. Auf die Frage, wann dieser europäische Raketenabwehrschirm in Kraft treten könnte, antwortete Verteidigungsministerin Tanner gegenüber der APA und nach der Präsentation, dass es bis jetzt zwei technische Runden gegeben habe und sie erwarte, dass bei den nächsten Verteidigungsministertreffen schon weitere Schritte gemacht werden, aber das benötige Zeit: „Ich glaube, es ist wichtig, dass wir dann zu einer Umsetzung kommen. Wenn Sie mich fragen: So schnell wie möglich!” Tanner betonte aber auch, dass eine Teilnahme an „Sky Shield” nicht missverstanden werden dürfe: „Das heißt nicht, dass wir dann unsere aktive Luftraumüberwachung nicht mehr durchführen müssen. Ganz im Gegenteil: Es wird wichtig sein beides zu machen. Nur das gemeinsame Schild mit den anderen Staaten wird reichen, um für Bedrohungen gerüstet zu sein.”

@Georg Mader
Hochkarätig besetzte Diskussionsrunde: Am Wort ist APG-Vorstand Gerhard Christiner, am Podium außerdem Generalmajor Bruno Hofbauer, die Schweizer Botschafterin Salome Meyer, Militäranalyst Franz Stefan Grady und aus London war Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations zugeschaltet.

Beistandsklausel versus Neutralität
Die EU-Beistandsklausel ist im Reformvertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft getreten ist, geregelt. Diese schreibt vor, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden. Unter Berufung auf den Artikel kann auch an die Solidarität von Nicht-NATO-Mitgliedstaaten appelliert werden, wie bald wohl nur mehr Österreich, Irland, Malta und Zypern – Schweden und Finnland stehen ja unmittelbar vor dem Beitritt zur NATO. Dieser Appell müsse zwar nicht zwingend militärisch beantwortet werden, Verteidigungsministerin Tanner sieht in der Kommunikation der Beistandsklausel aber in jedem Fall eine wesentliche Aufgabe. Denn es sei verabsäumt worden, den Menschen zu erklären was der Beitritt zur EU noch impliziere. Es sei eine gemeinsame Aufgabe des BMLV, des Außenministeriums und des Bundeskanzleramts, dem Land die Wahrheit zu sagen: „Der erste Schritt ist zu informieren, bevor man dann die entsprechenden Entscheidungen zu treffen hat, die ja gesetzlich vorgegeben sind.”

@Georg Mader
Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations nahm an der Diskussion live aus London teil.

Ein spür- und allgemein (bitteres) leises Auflachen war bei der aus London zugeschalteten deutsche Verteidigungsexpertin Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations (ECFR) hörbar. Sie sieht mehr Druck und schwierige Zeiten auf Österreich zukommen: Die Neutralitätsfrage werde in den nächsten Jahren viel mehr aufs Parkett kommen, so Franke. Österreich mache sich bisher mit seiner Neutralität einen schlanken Fuß, doch werde es sich in Zukunft nicht mehr so einfach aus den Debatten stehlen können. Österreich sei dabei stärker unter Druck als die Schweiz, das habe mit der EU-Mitgliedschaft zu tun. Diese Frage werde Österreich zudem aufgrund seiner geografischen Lage deutlich mehr betreffen als andere neutrale Inselstaaten wie Irland und Malta, so die Expertin weiter. Der Ukraine-Krieg habe gezeigt, dass Europa nicht in der Lage sei, selbstbestimmt und souverän zu agieren, sondern immer noch den großen Bruder USA brauche. Europa müsse souveräner werden, unabhängig davon, wer im Weißen Haus in Washington sitzt. Zwar werde die Idee einer europäischen Verteidigungsunion „gepusht”, aber die allermeisten EU-Länder wären in der NATO und Österreich müsse sich „positionieren”, so Franke.

Deutschland schickt doch Leopard 2 in die Ukraine

Dass Österreich wegen seiner Neutralität unter Druck gerät, sah hingegen Ministerin Tanner aktuell nicht. Die Neutralität sei bei „den europäischen Kolleginnen und Kollegen gar nicht so ein großes Thema, weil dort ja bekannt ist, welchen Beitrag wir als Österreicher leisten”, so Tanner. Ihre europäischen Amtskollegen wüssten, dass Österreich sich seit mehr als 60 Jahren an friedenserhaltenden Operationen beteilige, in manchen Westbalkan-Staaten zu den größten Truppensteller gehöre und auch darüber hinaus große Beiträge leiste, wie etwa die Übernahme des Kommandos der EU-Trainingsmission in Mali (EUTM) in der ersten Jahreshälfte des vergangenen Jahres. Damit hat Verteidigungsministerin Tanner recht und das spricht Österreich und dem Bundesheer auch niemand ab. Ulrike Franke meinte aber bezüglich der Gewichtung zwischen „EU-österreichischer” versus schweizerischer Neutralität wohl einen oder DEN großen Konflikt oder Krieg.

@Georg Mader
Generalmajor Bruno Hofbauer ist Überleitungsverantwortlicher der Direktion Fähigkeiten und Grundsatzplanung sowie Fähigkeitsdirektor des Bundesheeres.

Signifikante Inputs
Generalmajor Bruno Hofbauer
sagte als Planungsdirektor des BMLV im Hinblick auf die europäische Rüstungssituation ganz klar: „Wir sind nicht vorbereitet. Es gibt keine europäischen Verteidigungsplanungen. Die Pläne, die bestehen, beziehen sich immer noch auf ‚Out of Area’, auf Gebiete außerhalb der EU. Aber so auch in Österreich: 55.000 österreichische Soldaten sind auf gar keinen Fall in der Lage, das gesamte Bundesgebiet zu schützen”, so Hofbauer. Es gelte, mithilfe von Technologie zur richtigen Zeit am richtigen Ort im Einsatz zu sein, aber man – gemeint war wohl die in den vergangenen Jahrzehnten eingefahrene „Friedensdividende” – merke nun, dass man jetzt, wo man aufrüsten möchte oder müsse, das im notwendigen Maße gar nicht mehr könne.

„Wir sind nicht vorbereitet. Es gibt keine europäischen Verteidigungsplanungen.“

Generalmajor Bruno Hofbauer
@Georg Mader
Militäranalysten Franz Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies (IISS).

Auch erwähnenswert die Ansichten des Militäranalysten Franz Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies (IISS) in London und einer der vielen Co-Autoren des aktuellen Risikobilds: „Wir haben als Militärs und als Analysten ein Kommunikationsproblem nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der Gesellschaft. Und selbst wenn es nicht zu einem Angriff auf ein EU-Land kommt, droht eine andere Form der Eskalation Rückwirkungen auf Österreich zu erzeugen: Was wir nicht tun dürfen, ist das nukleare Risiko zu unterschätzen.” Denn im publizierten Risikobild sei explizit eher von einem russischen „Kopfkrieg” die Rede, in dem erfolgreich Ängste vor einem Atomschlag und radioaktivem Fallout in der ganzen EU geschürt werden, was schwindende Unterstützung für die Ukraine zur Folge haben möge.

@Georg Mader
Gerhard Christiner ist Vorstand der Austrian Power Grid AG.

Weitere Inhalte
Zusätzliche Themen der Vortragenden waren unter anderem die Corona-Pandemie, die unkontrollierte Migration und die Lehren daraus für das österreichische Krisenmanagement, sowie das immer wiederkehrende Thema Blackout. Wie bereits im Vorjahr standen auch die sogenannten hybriden Bedrohungen, bei denen Angreifer auf eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen setzen – von der Propaganda in Medien und sozialen Netzwerken über Cyberangriffe bis hin zum Einsatz elektronischer Mittel –, im Fokus. Bezüglich Blackout forderte Gerhard Christiner als Vorstand von Austrian Power Grid AG ganz konkret einen validen Plan für die Energiewende in Österreich. So würden Windparks gebaut, bevor es Stromnetze gebe, und Genehmigungsverfahren dauerten viel zu lang: „Wenn wir so fahrlässig weiterfahren, ist das Risiko da, dass es irgendwann ein Blackout gibt.”

Quelle@MBDA, Georg Mader, Bundesheer/Karlovits