Wie der Krieg in der Ukraine im Jahr 2024 weitergehen wird, hängt vor allem von der Unterstützung des „Westens”, also vorrangig der USA und der EU, für die Ukraine ab. Vielleicht wäre es – wenngleich geographisch nicht ganz korrekt – besser, vom „globalen Norden” zu sprechen, da neben China auch viele Staaten des „globalen Südens” hier eher die russische Position unterstützen.

Russland geht mit einem sehr hohen Selbstvertrauen in das Jahr 2024 und hofft, in den nächsten Monaten weitere entscheidende – vor allem militärische – Erfolge erzielen zu können. Russland ist zunehmend überzeugt, den längeren Atem gegenüber dem „globalen Norden” zu haben. Das Jahr 2024 ist ein wichtiges Wahljahr, nicht nur in den USA. Russland erwartet in diesem Zusammenhang, dass diese Wahlen jene Kräfte stärken werden, welche einer weiteren Unterstützung der Ukraine ablehnend gegenüberstehen. Daher müsste man nur bis zum prognostizierten Wahlausgang durchhalten. Putin sieht sich auf der Siegerstraße, was auch Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt erübrigt; es geht nur darum, diesen Weg, allen Verlusten zum Trotz, bis zum Ende zu gehen. Putin sieht auch der eigenen Wahl 2024 mit Zuversicht entgegen. Die russische Bevölkerung folgt mit Masse dem Narrativ des „Großen Vaterländischen Krieges 2.0”; abweichende Meinungen werden unterdrückt und finden keine Resonanz.

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Die Kämpfe verliefen bislang für beide Seiten äußerst verlustreich.

Das Jahr 2024 wird daher im Ukraine-Krieg zum Kulminationspunkt, das heißt die in den nächsten Monaten getroffenen oder eben auch nicht getroffenen Unterstützungsmaßnahmen entscheiden über Sieg oder Niederlage der Ukraine und somit auch des „globalen Norden” gegenüber Russland. Die USA sind, abgesehen von der baldigen Präsidentenwahl mit ungewissem Ausgang, zunehmend mit anderen Konflikten und Herausforderungen beschäftigt. Die notwendige maritime Allianz im Roten Meer zum Schutz einer der weltweit wichtigsten Handelsrouten, die militärische und finanzielle Unterstützung von Israel, zunehmende Anschläge auf US-Basen im Irak und in Syrien, das Taiwan-Problem oder auch die Frage der Grenzpolitik zu Mexiko drängen nach Lösungen. Dazu kommt, dass sich die Masse der US-Bürger wenig für außenpolitische Fragen interessieren.

„Damit sind die Europäer gefordert, im Ukraine-Krieg eine größere und vor allem richtungsweisendere Rolle zu übernehmen.“

Damit sind die Europäer gefordert, im Ukraine-Krieg eine größere und vor allem richtungsweisendere Rolle zu übernehmen. Eine Umsetzung der viel zitierten „Zeitenwende”, um diesen in Deutschland aus vollem Elan heraus geprägten Begriff zu verwenden, lässt sich allerdings nicht erkennen. Möchte man verhindern, dass Russland 2024 das Momentum für sich gewinnt, also die besetzten ukrainischen Gebiete nicht nur behält, sondern sogar seine völkerrechtswidrigen Eroberungen ausweitet, dann muss rasch und entschieden gehandelt werden. Passiert dies nicht, droht eine „eingefrorene” Situation analog zum Koreakrieg inklusive einem „Eisernen Vorhang 2.0” oder bei weiteren bedeutenden Gebietsverlusten sogar eine massive Niederlage der Ukraine.

Der negierte Abnützungskrieg und die Anpassungsfähigkeit der Russen
Der Ukraine gelang am Beginn des Krieges ein spektakulärer Abwehrerfolg. Russland war nach wenigen Wochen gezwungen, in die Defensive über zu gehen. Russland versuchte daher ab Ende März 2022, der Ukraine einen Stellungskrieg aufzuzwingen. Es folgten der massive Einsatz von Artillerie und die ersten grausamen Grabenkämpfe. Ab dem Frühjahr 2022 war daher klar, dass der Krieg den Verlauf eines Abnützungskrieges nehmen wird. Der Westen hätte darauf adäquat reagieren müssen, zumal Russland im Laufe des Jahres 2022 noch mit zahlreichen Herausforderungen in Bezug auf die Reproduktion und die Organisation seiner Kräfte konfrontiert war. Insbesondere waren zu wenig einsatzbereite Truppen verfügbar. Die Mobilisierung neuer Kräfte und die Erhöhung der Rüstungsproduktion stellten ernsthafte Probleme dar; Russland musste monatelang mangelhaft ausgerüstete und ausgebildete Einheiten ohne Rücksicht auf Verluste an der Front „verheizen”.

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Infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine kommt es bis weit ins Hinterland zu gewaltigen Zerstörungen.

Inzwischen aber konnte Russland nicht nur diese Engpässe überwinden, sondern auch seine militärische Leistung auf dem Schlachtfeld verbessern. Es fand immer wieder eine Antwort auf die durch den Westen gelieferten hochwertigen Waffensysteme (beispielsweise Panzerabwehrraketen Javelin, Mehrfachraketenwerfer Himars, Anti-Radar-Luft-Boden Raketen AGM-88, Marschflugkörper Storm Shadow beziehungsweise Scalp, Artillerie-Cluster-Munition) oder die von der Ukraine selbst produzierten Waffensysteme (unter anderem waffenfähige Drohnen).

Überdies unterschätzte der Westen (oder der „globale Norden”) lange die russische Anpassungsfähigkeit auf dem Schlachtfeld ebenso wie seine industriellen Fähigkeiten – eine Folge von Selbstüberschätzung und mangelndem Wissen über den Gegner. Angesichts der zunehmenden russischen Erfolge und der nachlassenden westlichen Unterstützung für die Ukraine wittert Russland nun seine Chance: Entlang der gesamten knapp 1.200 Kilometer langen Frontlinie sind seit Ende 2023 eindeutig verstärkte russische Offensivhandlungen zu erkennen. Hinzu kommen weitere Truppenverlegungen. So sollen alleine im Raum Avdeevka bereits zirka 40.000 (von geschätzten über 420.000 eingesetzten) russische Soldaten im Einsatz sein.

„Angesichts der zunehmenden russischen Erfolge und der nachlassenden westlichen Unterstützung für die Ukraine wittert Russland nun seine Chance.“

Der russische Ansatz verfolgt zwei Zielsetzungen: Einerseits versucht man die Ukrainer dazu zu zwingen, ihre taktischen und operativen Reserven einzusetzen; andererseits möchte Russland, wo auch immer möglich, lokale Durchbrüche – seien sie auch noch so klein – erzielen. So arbeitet man sich stoisch und ohne Rücksicht auf eigene Verluste Schritt für Schritt vor. Die Ende 2023 getroffene Ankündigung, weitere 170.000 russische Soldaten in die Streitkräfte zu übernehmen, zeigt die Bereitschaft Russlands, einen langen Krieg zu führen. Dies bedeutet mittelfristig weitere Offensivhandlungen. In russischen sozialen Netzwerken wird immer wieder damit spekuliert, dass es neuerlich Vorstöße aus russischem Territorium vom Norden her in Richtung Charkiv, Sumy oder sogar Chernihiv (nördlich von Kiew) geben könnte. Damit würde sich die 1.200 Kilometer lange Frontlinie für die Ukraine wesentlich verlängern und eine noch größere Zersplitterung der zunehmend ermatteten ukrainischen Kräfte und Ressourcen bewirken. Möglicherweise kommt es auch zu einer Beteiligung weißrussischer Truppen.

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Der Westen unterstützte die Ukraine zwar mit zahlreichen Waffen (im Bild ein von den Niederlanden bereitgestellter Leopard 2-Panzer) – unter dem Strich wird es aber mehr Entschlossenheit und (deutlich) größere Stückzahlen benötigen, um die ukrainische Armee kampffähig zu halten.

Die gescheiterte ukrainische Offensive und ihre Folgen
Die Russen sehen das Jahr 2023 als einen Erfolg an. Ein Blick in die russischen sozialen Netzwerke zeigt dies nur allzu gut. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Russland bis Mitte 2022 in der Ukraine einen schweren Rückschlag nach dem anderen erlitt. Das Entscheidendste aus russischer Sicht: Es ist den russischen Streitkräften 2023 gelungen, die ukrainische Sommeroffensive abzuwehren. Die in über sechs Monaten von Herbst 2022 bis Frühjahr 2023 errichtete tiefgestaffelte russische „Surovikin-Linie” hat ihren Zweck erfüllt. Als weitere Erfolge kommen die Einnahme von Bachmut und Marjinka hinzu. Für unbedarfte westliche Beobachter mag Marjinka nur eine unbedeutende Kleinstadt mit knapp 10.000 Einwohnern sein, aber mit dieser Stadt verloren die ukrainischen Verteidiger eine weitere wichtige Position, die acht Jahre lang zur Festung ausgebaut worden war. Im Zuge der Kämpfe wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht – ähnlich wie Mariupol (Mai 2022) und Bachmut (Mai 2023). Um die Jahreswende 2023/24 tobten heftige Kämpfe um Avdeevka.

Den Ukrainern fehlen hingegen die geeigneten Waffen für einen umfangreichen Manöverkrieg. Vor allem eine funktionierende Luftwaffe ist nicht vorhanden. Dennoch war es bis Ende 2022 gelungen, einige Siege – unter anderem bei Charkiv und Cherson – zu erringen. Dies vor allem aufgrund der US-Unterstützung mit Aufklärungsdaten und der angesprochenen Probleme der Russen. Im Schwarzen Meer war es zudem möglich, die russische Flotte empfindlich zu treffen. Bis Anfang Juni 2023 konnte man in den russischen sozialen Netzwerken ein gespanntes Abwarten erkennen. Dies änderte sich im Sommer, nach den ersten Abwehrerfolgen der Russen gegen die ukrainische Sommeroffensive, schlagartig. Die hohen russischen Verluste wurden durch die eigenen Abwehrerfolge und mit Bildern brennender westlicher Panzer vom Typ Leopard und Challenger sowie Kampfschützenpanzer vom Typ Bradley, Marder oder CV-90 überdeckt. Die Stimmung begann sich zu drehen.

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Aufnahme des von der Ukraine Ende 2023 angegriffenen und völlig zerstörten russischen Landungsschiffes „Nowotscherkassk“ im Krim-Hafen von Feodossija.

Die russischen Streitkräfte erleiden nach wie vor hohe Verluste. Gleichzeitig aber gewinnen die verfügbaren Soldaten immer mehr Kampferfahrung. Eine laufende Analyse ukrainischer Videos von Angriffen auf russische Einheiten zeigt eindeutig, dass diese in der Lage sind, zu lernen und sich anzupassen. Punktuelle spektakuläre Abwehrerfolge der Ukrainer können nicht darüber hinwegtäuschen. Jede Erkenntnis wird dabei mühsam durch Blut erkauft – dies gilt aber auch für die ukrainischen Soldaten. Umso besorgniserregender ist es daher, dass sich ukrainische Soldaten über die nicht gefechtsnahe Ausbildung von NATO-Einheiten beklagen. Dies zeigt, dass die Lehren des Ukraine-Krieges allem Anschein nach in den westlichen Armeen noch nicht angekommen sind; es scheint immer noch das Narrativ vorzuherrschen, wonach russische Soldaten völlig dilettantisch kämpfen. Den Gegner im Kampf zu unterschätzen, ist aber der größte Fehler. Es könnte hier eine böse Überraschung drohen. Auf dies weisen nicht zuletzt auch ukrainische Offizielle immer wieder hin.

„die Lehren des Ukraine-Krieges sind allem Anschein nach in den westlichen Armeen noch nicht angekommen; es scheint immer noch das Narrativ vorzuherrschen, wonach russische Soldaten völlig dilettantisch kämpfen.“

Qualität vs. Quantität und die fehlende europäische industrielle Leistungsfähigkeit
Die an die Ukraine bis jetzt gelieferten westlichen Waffensysteme sind zwar von hoher Qualität, aber in einem Zermürbungs- und Abnützungskrieg spielt nicht Qualität, sondern vor allem Quantität eine Rolle. Die Geschichte hat folgendes oft genug gezeigt: Qualität entscheidet vielleicht die Schlacht, aber die Masse und die verfügbaren Ressourcen entscheiden mit hoher Wahrscheinlichkeit den Krieg. Nehmen wir als Beispiel westliche Fliegerabwehrsysteme. Sie machen im Moment einen wesentlichen Unterschied aus, denn sie erreichen bei den laufenden strategischen russischen Luftangriffen hohe Abschusszahlen. Die Frage ist aber: „Kann die Ukraine diese Abschussraten auch in den nächsten Monaten aufrechterhalten?” Gerade wenn die Russen weiter so wie in den ersten Tagen des neuen Jahres mit einer hohen Zahl an Drohnen, Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Hyperschallwaffen angreifen. Jeder einzelne Flugkörper müsste, in Anbetracht der vorhandenen russischen Präzision, abgeschossen werden. Ein finaler Abwehrerfolg ist daher nur möglich, wenn ein steter Fluss an schnell produzierter Fliegerabwehr-Munition an die Ukraine erfolgt. Auf strategischer Ebene benötigt die Ukraine im Moment vor allem Fliegerabwehr-Systeme inklusive Munition, um die Tiefe ihres Raumes gegen die derzeit laufende zweite russische strategische Luftkampagne schützen zu können.

Europa und zum Teil auch die USA haben nach wie vor nicht die Voraussetzungen geschaffen, einen Abnutzungskrieg nähren zu können. Es geht dabei nicht nur um die industrielle Kapazität, sondern auch um die damit verbundenen Kosten. In diesem Zusammenhang geht es auch um Einigkeit, Gemeinschaft und in der Folge um die Einstellung zu unseren – immer wieder beschworenen – westlichen demokratischen Werten. Was sind wir bereit, dafür zu opfern? Während die Russen überschaubare Summen ausgeben, um ihre Kampffahrzeuge zu überholen und kampftauglich zu machen, kosten gleichwertige Fahrzeuge in der Europäischen Union ein Vielfaches mehr. Manche Experten sprechen von einem Kostenverhältnis von 1:40 pro Kampffahrzeug. Russland produziert daher nicht nur effektiv, sondern vor allem effizient. Die Ukraine selbst leidet zudem darunter, dass ihr militärisch-industrieller Komplex zum Großteil zerstört oder der ständigen Bedrohung russischer Angriffe ausgesetzt ist. Sie kann kaum selbst produzieren. Auf dem Schlachtfeld entscheidend waren im Jahr 2023 billige und in Massenfertigung rasch verfügbar hergestellte Waffensysteme. Hier sticht der Einsatz von First Person View (FPV) Drohnen heraus. Deren Einsatz verhindert im Moment auf beiden Seiten jede Bereitstellung und jedes Manöver. Was Stacheldraht und Maschinengewehr im Ersten Weltkrieg bewirkten, sind im 21. Jahrhundert Drohnen. Sie erzeugen ein „gläsernes Gefechtsfeld” und ersticken so jeden, vor allem mechanisierten, Angriff im Keim.

Der Drohnenkrieg in der Ukraine nimmt weiter Fahrt auf

Fluch und Segen moderner Waffensysteme
Auf operativer Ebene wäre es für die Ukraine notwendig, durch verfügbare weitreichende Boden-Boden- oder Luft-Boden-Waffensysteme (beispielsweise weitreichende Boden-Boden-Raketen ATACMS oder GLSDB) die russische Kommandostruktur und Logistik zu treffen. Dies würde der Ukraine Zeit verschaffen, sich neu aufzustellen. Obwohl vereinzelt weitere Fliegerabwehrsysteme (unter anderem je ein System Patriot und Iris-T) eintreffen, verzögert sich die Lieferung der GLSDB bis in das Jahr 2024. ATACMS scheinen überhaupt nur einmalig geliefert worden zu sein. Auf taktischer Ebene hingegen haben derzeit Anti-Drohnen-Systeme (C-UAS) die höchste Bedeutung. Verfügbare C-UAS-Systeme kommen jedoch nur spärlich ins Land. Diese Entwicklungen sind eindeutig zu Ungunsten der Ukraine. Es wird aber erst jene Kriegspartei wieder die Initiative ergreifen können, welche über Waffen verfügt, die helfen, das oben beschriebene Dilemma zu überwinden. Ziel ist es, das elektromagnetische Feld zu beherrschen. Dafür sucht man die „Wunderwaffe”, von der der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Zalushny, in seinem aufsehenerregenden Essay sprach.

Auch für dieses Jahr gelten die traditionellen Faktoren: Kraft, Raum, Zeit und Information. Wer diese mit neuen Waffensystemen zu seinen Gunsten beeinflussen kann, wird siegreich bleiben. An dieser Stelle sei ein positives Beispiel für die Ukraine angeführt: Sie hat es geschafft, mit schnell fahrenden und mit hoher Reichweite ausgestatteten unbemannten Überwasserdrohnensystemen (Kraft), basierend auf einem vom Westen gelieferten „in time” Lagebild (Information), die russische Schwarzmeerflotte in nur wenigen Monaten aus dem westlichen Schwarzen Meer (Raum) zurückzudrängen. Das ist ein klarer Erfolg – und ging so schnell (Zeit), dass die Russen bis jetzt keine wirkliche Antwort darauf haben. Zunehmend spielt Software zur Unterstützung der Zielaufklärung eine Rolle. Hier kommt bereits künstliche Intelligenz ins Spiel.

„Der Kampfpanzer ist noch immer das einzige Mittel, das es schafft, kampf- und stoßkräftig Gelände in Besitz zu nehmen.“

Trotz dieser Lehren kommen den Fähigkeiten herkömmlicher Waffensysteme immer noch hohe Bedeutung zu. Der Kampfpanzer ist beispielsweise noch immer das einzige Mittel, das es schafft, kampf- und stoßkräftig Gelände in Besitz zu nehmen. Er ist hoch beweglich, verfügt über eine starke Panzerung und hat hohe Feuerkraft. Er kann seine Vorteile aber nur im Verbund zur Entfaltung bringen. So wie er gegenwärtig und zukünftig die Infanterie benötigt, um ihn bei Bedarf – beispielsweise im urbanen Gelände – zu schützen, benötigt er in Zukunft mitfahrende Fliegerabwehr kurzer Reichweite (= SHORAD beziehungsweise VSHORAD). Ohne sie kann er rasch Opfer der im Moment das Gefechtsfeld beherrschenden FPV- oder Kamikaze-Drohnen werden. Dutzende Videos von erfolgreichen FPV-Angriffen auf Leopard-Kampfpanzer und Bradley-Kampfschützenpanzer zeigen dies nur zu gut. Die Onlineplattform Oryx nennt im Moment unter anderem 33 beschädigte oder zerstörte Leopard- und Challenger-Kampfpanzer sowie 73 beschädigte oder zerstörte Bradley-, CV90- und Marder-Kampfschützenpanzer.

Unsichtbare Verbündete und Unterstützer
Russland könnte diesen Krieg alleine weder führen noch gewinnen. Aber, und dies macht einen Riesenunterschied: Es kann sich auf den „globalen Süden” abstützen (wobei auch dieser Begriff geographisch ungenau ist). Waffen aus Nordkorea und dem Iran halfen den Russen, Engpässe auszugleichen. So konnten die russischen Frontlinien laufend verstärkt und versorgt werden. Es gelang mittels diplomatischer Initiativen, die russische Position im globalen Süden zu festigen und sogar neue Partnerschaften zu bilden. Neue Konflikte, wie zum Beispiel im Gazastreifen oder die Angriffe der Huthis im Roten Meer, bereiten dagegen dem „globalen Norden” zunehmend Probleme. Das ist aus russischer Sicht ein Erfolg und gibt der russischen Führung Selbstvertrauen. Des Weiteren ist es der russischen Seite dadurch möglich, in der Informationskriegsführung entsprechend potent aufzutreten, die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen und massiv weiter anzugreifen.

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Der Papst brachte es letztes Jahr treffend auf den Punkt, als er von einem „Weltkrieg auf Raten” sprach. Die derzeitige Lage ist äußerst schwierig. Viele westliche Verbündete resignieren zusehends und denken hinter vorgehaltener Hand bereits über eine geteilte Ukraine nach. Auf strategischer Ebene bedeutet die atomare Bewaffnung beider Seiten – zwischen der NATO und Russland – ein Patt, vergleichbar der Lage im „Kalten Krieg” vor 1990. Die USA ist weiterhin in allen Waffengattungen dominant gegenüber den wesentlichen sie bedrohenden Staaten, also China und Russland. Vor allem China stellt jedoch im maritimen Bereich eine immer größere Herausforderung für die USA dar. Die USA haben dies bei ihrer Unterstützung der Ukraine im Blick.

Die NATO hat in Europa überdies nach wie vor potente Luftstreitkräfte mit einem entsprechendem konventionellen Abschreckungspotential verfügbar. Fatal ist hingegen der Zustand der Masse der NATO-Landstreitkräfte. Hier haben nur wenige Staaten wie beispielsweise Polen den Ernst der Lage erkannt und rüsten massiv nach. Im schlimmsten Fall stünde die NATO bei einem Vorrücken russischer Truppen auf das Gebiet von NATO-Staaten vor der Entscheidung, darauf mit dem Einsatz von Atomwaffen zu reagieren. Genau dafür wurden sie geschaffen. Wir können nur hoffen, dass dies Ereignis mittel- oder langfristig nicht eintritt. Russland hat demgegenüber eine breite Palette hybrider Möglichkeiten zur Auswahl. Dazu zählen unter anderem eine aktive „Konfliktproliferation” und das Schüren von Angst im Informationsraum. Putin sieht die Russland „historisch zustehenden” Grenzen im Osten der NATO, doch diese schließen neben der Ukraine möglicherweise Teile Polens oder die baltischen Staaten mit ein. Die Bevölkerung dieser Staaten sieht das naturgemäß anders, hat sie doch, wie beispielsweise Polen, im letzten Jahrhundert traumatische Erlebnisse mit der sowjetischen/russischen Besatzung gemacht. Diese Staaten würden daher einem russischen Angriff nie nachgeben. Sie haben aus ihrer Geschichte gelernt!

@Archiv
Entgegen seinen ursprünglichen Erwartungen musste Russland im Ukraine-Krieg auch Verluste seiner Luftstreitkräfte hinnehmen – darunter auch moderne Maschinen.

Ein elender Krieg mit zunehmender globaler Note
Es gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Somit liegt es in erster Linie an der Ukraine, zu entscheiden, wie sie weitermachen möchte oder kann. Im Moment gilt der klare Wunsch des Großteils der Bevölkerung, das Land zur Gänze zu befreien und Teil der EU und NATO zu werden. Es ist uns im Westen historisch nicht bewusst, welchen Anziehungseffekt wir – der Westen – nach dem Ende der Sowjetunion in den zentral- und osteuropäischen Ländern ausgelöst haben. Nicht die USA und Europa haben diese Länder in die EU und in die NATO „gezwungen”, sondern diese Länder und ihre Bevölkerungen wollten Teil dieser Gemeinschaft sein. Die „Zentraleuropäer” wollten keine „Osteuropäer” mehr sein. Konsum und Wohlstand, also „Soft Power”, waren einfach zu verlockend. Hier wiederholte sich in gewisser Weise eine Entwicklung, die in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat – erinnern wir uns daran, welchen verführerischen Ruf die USA in den 1950er- und 1960er-Jahren gehabt hatten.

Russland konnte und kann dies nicht bieten. So sehr große Teile der russischen Bevölkerung, vor allem der Jugend, in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren den Westen als Vorbild sahen, so wenig galt dies für die russische Führung der Ära Putin. Im Gegenteil propagierte man ein „Gegenmodell” der traditionellen Werte – verbunden mit dem patriotischen Auftrag, Russland wieder zu der ihm zustehenden Größe zu führen. Wir im Westen haben diese Gefahr lange nicht ernst genommen, dachten, wie Francis Fukuyama 1989 schrieb, das „Ende der Geschichte” sei angebrochen. Dazu kam das Wunschdenken, Kriege gehörten der Vergangenheit an. Das hat uns eingeholt!

Neue Investitionen in die AB212-Helis geplant

Was sagen Sie einem Ukrainer, der aus tiefsten Herzen sagt: „Ich möchte zu Europa gehören! Von eurem Wohlstand profitieren!” Wäre unsere egoistische Antwort: „Tut uns leid, das geht nicht, denn dann würden wir die Russen verärgern!” Wir selbst wünschen uns insgeheim, dass alles so rasch wie möglich wieder beim „Alten” ist. Und dies vor allem aus Bequemlichkeit. Damit wir weiter den „uns zustehenden” Wohlstand genießen können. Da ist so ein Krieg am Rande der EU äußerst unangenehm. Und das Schicksal der Welt, des globalen Südens, der Chinesen, Inder, Afrikaner und vieler anderer interessiert uns allenfalls rudimentär. Genau das ist das Dilemma, denn es ist zu befürchten, dass diese aus unserer Sicht „guten alten Zeiten” vorbei sind.

„Viele Staaten in Europa verharren seit zumindest einem Jahr, wenn nicht sogar seit Beginn der Auseinandersetzungen – trotz aller Lippenbekenntnisse – immer noch im Dornröschenschlaf.“

Die globale Welt ordnet sich gerade neu. Der „globale Süden”, durch technologische, wirtschaftliche und demographische Entwicklungen potent aufgestellt, fordert seinen Platz ein. Wenn wir das mit einem Tisch vergleichen, an dem alle zum Essen, also zur Ressourcenverteilung, Platz nehmen wollen: Bis jetzt saßen wir als Europäer sehr gut platziert, aber wenn wir nicht aufpassen, dann wird dies zukünftig nicht mehr so sein. Und darauf sind wir nicht vorbereitet. Viele Staaten in Europa verharren seit zumindest einem Jahr, wenn nicht sogar seit Beginn der Auseinandersetzungen – trotz aller Lippenbekenntnisse – immer noch im Dornröschenschlaf. Es liegt an uns, den Unterschied zu machen – in unserem eigenen Interesse.

über@Jade Koroliuk auf Unsplash, Archiv, Netherlands Ministry of Defence