Anfang Jänner hat der Ukraine-Experte Oberst des Generalstabsdienstes Markus Reisner in einem eindrücklichen Essay einen nüchternen Ausblick auf bald zwei Jahre Ukraine-Krieg und das aktuelle europäische Sicherheitsumfeld geworfen. Der britische Analytiker Professer Justin Bronk vom Londoner Royal United Services Institut (RUSI) sieht die Lage nun sogar noch düsterer. „Die nächsten zwei bis drei Jahre werden für die Sicherheit Europas in den kommenden Jahrzehnten entscheidend sein.”

Reisner konstatierte in seinem Beitrag, dass sich die Bevölkerung im Westen insgeheim immer noch wünsche, dass „alles so rasch wie möglich wieder beim Alten” sei. Und dies vor allem aus Bequemlichkeit. Der Krieg, den Russland vor mittlerweile fast zwei Jahren am Rande der EU entfesselt hat, sei für viele Europäer und ihre Politiker höchst unangenehm, die Kämpfe würden aber oft genug immer noch nur als lästige und hoffentlich temporär begrenzte Ablenkung von anderen Herausforderungen und „vom Genuss des uns zustehenden Wohlstands” gesehen. Die Entwicklung der vergangenen Jahre nehme darauf aber keine Rücksicht, so Reisner weiter, weshalb wir im Westen nun vor einem Dilemma stünden. Es sei jedenfalls zu befürchten, dass die aus unserer Sicht „guten alten Zeiten” auf absehbare Zeit vorbei seien, so der Analytiker.

@Georg Mader
Justin Bronk 2019 auf der Defence IQ-Sicherheitskonferenz in Salzburg.

Ganz ähnlich der britische Analytiker Justin Bronk, mit dem sich Militär Aktuell seit der Salzburger Sicherheitskonferenz von Defence IQ im Jahr 2019 regelmäßig austauscht und der in seinem ebenfalls zu Jahresbeginn publizierten Ausblick auf den Ukraine-Krieg erklärte: „I’d rather be alarmist than ambushed”.

Justin Bronk …

… über die militärische Aussichten für den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine
„Ja, Luftverteidigungssysteme sind ein wichtiger Faktor, speziell für einen Verteidiger mit einer geschwächten Luftwaffe, gespreizt zwischen der Deckung der Fronteinheiten und dem Schutz des Hinterlandes. Aber dieser Krieg ist nach wie vor ein Artillerie-Krieg. 80 Prozent der Verluste unter den kämpfenden Soldaten werden – und das gilt für beide Seiten – von Artillerie verursacht. Wenn die Ukraine tendenziell immer weniger Granaten zur Verfügung zu haben droht, wird sich die zur Zeit hohe russische Verlustrate voraussichtlich verringern. Und damit wird sich – abseits aller auch moralischen Nuancen – der weitere Kriegsverlauf an der Frage entscheiden, ob es den Ukrainern gelingt, genug Russen zu töten oder schwer zu verwunden, um damit die aus der Mobilisierung zulaufenden neuen Kräfte ,auszugleichen’ und zu binden. Solange das der Ukraine wie im vergangenen Jahr oder im ersten Kriegsjahr gelingt, wird es für die Russen schwierig, große Offensivformationen bereit- und  aufzustellen. Für die reine Defensive braucht man Mannzahlen und Deckung wie Grabensysteme und Bunker, dazu in die gegnerische Tiefe wirkende Systeme und dafür natürlich Munition. Für Offensivoperationen und einen Bewegungskrieg braucht man aber große Verbände – wenigstens auf Brigadelevel – mit ausgebildeter Infanterie, mit EloKa und Drohnen, Schützenpanzern und Logistik und Stäben, die das Zusammenwirken der Kräfte orchestrieren. All das bereitzustellen braucht Zeit. Die Ukrainer finden es zunehmend schwierig, auf dieser Ebene zu operieren – auch weil ihre Übungs- und Reserveräume in gegnerischer Raketen-Reichweite liegen. Und für die Russen sind Offensivoperationen wegen ihren hohen Personalverluste schwierig einzuleiten. Gelingt es den Ukrainer die Verlustraten unter den russischen Soldaten hochzuhalten, dürfte das auch so bleiben und könnten sie möglicherweise selbst im Frühjahr wieder die Initiative ergreifen und damit auch ihren internationalen Partnern signalisieren, sie weiter zu unterstützen.”

@Ukraine MoD
Unterstützung notwendig: Die Ukraine wird ihren Kampf gegen Russland nur mit Unterstützung des Westens erfolgreich fortführen können.

… über westliche versus russische Kapazitäten
„So lange sie in der Ukraine derart gebunden sind und sich dort abnützen stellen die Russen für uns in Europa keine direkte konventionelle Bedrohung dar. Das Land hat nach den überraschend schweren Rückschlägen und peinlichen Mängeln zu Kriegsbeginn aber mittlerweile auf Kriegswirtschaft umgestellt und verzeichnet von Raketen bis hin zu Artilleriemunition massive Produktionssteigerungen. Die Militärausgaben stiegen im vergangenen Jahr um 68 Prozent auf 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und Russland hat 2023 fast die doppelten Mengen an Kriegsgütern wie im Jahr davor erzeugt. Dazu kommen Lieferungen aus Nordkorea und aus dem Iran, was es unter dem Strich sehr wahrscheinlich macht, dass die sich für einen langen und zermürbenden Krieg rüstenden Russen im Frühjahr in die Initiative gehen. Der Westen bringt im Vergleich dazu seine Produktion nicht vergleichbar hoch, viele Lager sind bereits geleert und so wird eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine für europäische und westliche Länder immer schwieriger und aufwändiger. In der Diskussion könnte es dann in Zukunft nicht mehr darum gehen, wie man die Ukraine unterstützen kann, damit sie den Krieg weiterführen kann, sondern ob man angesichts der wachsenden russischen Bedrohung nicht besser seine eigenen Lager auffüllt. Das hätten die Regierungen natürlich längst tun können, man hatte die Zeichen der Zeit aber nicht erkannt und jetzt ist man von der Situation überrascht und erkennt man zusehends die eigenen Verwundbarkeit – ein Gefühl, dass man so viele Jahre nicht mehr kannte.”

„eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine wird für europäische und westliche Länder immer schwieriger und aufwändiger.“

… über die generelle Lage im Westen
„Wenn wir diesen Krieg weiterhin nur von Monat zu Monat beurteilen und die mittel- bis langfristige Perspektive außer acht lassen, dann habe ich Sorge, dass die dringend benötigten Investitionen nicht oder nicht rechtzeitig getätigt werden. Die Politiker müssen verstehen oder werden verstehen müssen, dass dies auch aus politischer Sicht ein lange andauernder Zustand sein wird. Und wenn sie sich nicht um Produktion und Nachschub kümmern, wird der Krieg trotzdem weitergehen – die Situation wird in dem Fall aber viel gefährlicher sein und wir werden später deutlich mehr investieren müssen, um uns gegen ein viel gefährliches Russland zu verteidigen. Darüber hinaus drohen auch anderswo auf der Welt Eskalationen und daran wird sich so schnell nichts ändern, man beachte dahingehend beispielsweise auch die letzten Reports über Chinas militärische Aufwuchspläne. Die USA sehen sich durch Pekings Aufrüstungspläne überwiegend im Indopazifik gebunden und sollte im Indopazifik tatsächlich etwas passieren, könnten die Russen einen frischen Anreiz bekommen, etwas zu unternehmen. Moskau und der sogenannte „globale Süden” profitieren schon jetzt von der neuen Krise in Gaza und im Roten Meer. Daher müssen wir in Europa zum einen die Investitionen in mehr Produktionskapazitäten hochfahren und zum anderen müssen die Verantwortlichen ihren Wählern klar machen, dass die Investitionen nicht irgendwohin ins Ausland abfließen, sondern damit im großen Stil die eigenen Industrie und die eigene Beschäftigungssituation gefördert werden. Wenn man sich vor Augen führt, welche enormen Mittel Nationen in vielen Fällen in die Hand nehmen, um mit Förderungen und Krediten die Wirtschaft zu beleben, dann könnten dieselben Mittel auch in die verteidigungsrelevante Produktion gepumpt werden. Das muss aber zeitnah passieren. Wir haben dafür nach meiner Einschätzung nur zwei oder maximal drei Jahre Zeit.”

Kommandoübergabe beim EUFOR-Kontingent

… über seine möglicherweise zu alarmistischen oder pessimistische Sichtweisen
„Ja, ich weiß, mein Ausblick klingt sehr düster. Aber vieles an den politischen und öffentlichen Diskussionen über Verteidigung und Militärisches in Europa und in Großbritannien ist immer noch von der Haltung geprägt, dass es sich beim Ukraine-Krieg um eine unangenehme und unwillkommene Ablenkung von anderen Politikfeldern und -aufgaben handelt. Ja, der Krieg ist unbequem und er kommt ungelegen. Und ja, die Unterstützung der Ukraine ist schwierig und teuer und wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht. Aber wir müssen jetzt das beste daraus machen und dafür endlich verstehen, dass es sich dabei um kein Spiel am grünen Tisch handelt. Wir reden hier von einem echten Krieg, der rasche und konsequente Entscheidungen erfordert, und diese sehe ich in vielen Fällen noch nicht. Daher bin ich lieber alarmistisch als zurückhaltend und sehe ich es als meine Aufgabe, auf die Situation hinzuweisen. Natürlich besteht die Gefahr, dass mir Leute in zwei oder drei Jahren sagen, dass ich viel zu besorgt war und zu schwarz gesehen habe. Aber damit kann ich leben. Besser so, als wenn wir nach derselben Zeitspanne – und diese Zeit braucht es, um im Sektor substanziell etwas zu ändern – möglicherweise einen „Siegfrieden” Russlands anerkennen müssen. Dann hätte sich die Situation nur noch mehr verschärft, wir stünden einem substanziell gestärkten Russland gegenüber und wären auf vielen Ebenen erpressbar und eine derartige Situation gilt es in jedem Fall zu vermeiden.”

Quelle@Georg Mader, Ukraine MoD