Nach „Vom Weinviertel nach Stalingrad” und „Wir waren die Jüngsten” veröffentlichte Major Michael Gurschka kürzlich im Kral Verlag sein bereits drittes Buch „Nie habe ich erfahren, wofür das alles geschah …”. Wie schon in seinen ersten beiden Werken beschreibt Gurschka darin die ganz subjektiven Erlebnisse und Schilderungen von Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg – und auf einige davon kommt er auch im nachfolgenden Militär Aktuell-Interview zu sprechen.

@Michael Gurschka
Der Autor bei der Bergung der sterblichen Überreste des Maschinengewehrschützen Iwan Michailowitsch Achapkins.

Herr Gurschka, Sie haben schon für ihre ersten Bücher (-> Interview zum Buch „Wir waren die Jüngsten”) und nun auch für das neue Buch mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen und anschließend über die unterschiedlichen Schicksale berichtet. Hat Sie dabei ein Schicksal besonders bewegt?
Ja, jenes des Maschinengewehrschützen Iwan Michailowitsch Achapkin. Er diente in der 26. Armee der 3. Ukrainischen Front und ich hatte die große Ehre, seine sterblichen Überreste an der Hochwechselstraße bei Mönichwald bergen zu dürfen. Nach rund zwei Stunden waren alle Knochen geborgen und für den Bestatter auf einer Plane aufgelegt. Die Bergung selbst habe ich als intensive Auseinandersetzung mit dem Tod auf dem Gefechtsfeld empfunden. Zur Erstellung meines dritten Buches habe ich mich ausführlich mit dem Gelände seiner Stellung und dessen Einfluss auf die Einsatzführung des Angreifers, Truppen der sowjetischen 337. Schützendivision, sowie des Verteidigers, Truppen der deutschen 1. Gebirgsdivision, auseinandergesetzt.

Und zu welcher Erkenntnis sind Sie dabei gekommen?
Sein MG-Trupp wurden frontal sowie aus der Flanke mit Flachfeuer bekämpft, welches durch Granatwerfer und Gewehrgranaten verstärkt wurde. Seine Stellung war mit Munitionsresten übersät.

Ein fahrender Bunker, schwer und massig: Der Bison

Was geht einem durch den Kopf, wenn man die Situation vor Ort analysiert und die Knochen ausgräbt?
Meine ersten Gedanken kreisten um die Frage, ob meiner Generation beziehungsweise zukünftigen Generationen wiederum gleiches widerfahren wird. Kämpften im April 1945 im Wechselgebiet Ukrainer und Russen Seite an Seite gegen einen damals gemeinsamen Feind, so stehen sich diese nach rund 80 Jahren heute in der Ukraine als Konfliktparteien feindselig gegenüber. Dieser Umstand stimmt mich, vor dem Hintergrund eines drohenden Zerfalls der hauptsächlich für den innereuropäischen Frieden geschaffenen Europäischen Union, nachdenklich.

Ist Ihnen auch noch eine andere Erzählung besonders in Erinnerung geblieben?
Zu den Schicksalen von Heinz Fischer und Hans Fischer, beide aus Sachsen, gibt es interessante räumliche Bezüge zu meiner Person. Heinz Fischer wurde 16-Jährig zum Panzergrenadierregiment 2 Konopacki eingezogen und mit dem Marsch an die Front wurde sein Regiment um den 15. April 1945 in den Raum Absdorf bei Tulln an der Donau verbracht. Nach einem kurzen Stellungsbezug folgte der Weiter- beziehungsweise Rückmarsch ins nordöstliche Weinviertel, wo ich später aufgewachsen bin. Unterstützt durch Granatwerfer und Wehrmachtseinheiten gelang es Fischers Bataillon im Gegenangriff Einheiten des 285. Gardeschützen Rotbanner Regiments der 93. Gardeschützendivision zurückzuschlagen und zeitlich begrenzt aus der Ortschaft Altlichtenwarth zu werfen.

@Archiv
Das „Oflag, Offizierslager, XVII A” bei Edelbach, dokumentiert durch einen Angehörigen des Landesschützenbataillons 893 auf dem Truppenübungsplatz Döllersheim, heute Truppenübungsplatz Allentsteig, auf dem Autor Michael Gurschka selbst eine beträchtliche Zeit seines militärischen Daseins verbracht hat.

Und wie sieht die Parallele mit Hans Fischer aus?
Der wurde ebenfalls 16-ährig ohne (!) einer militärischen Einheit anzugehören mit 30 weiteren Jugendlichen vom Truppenübungsplatz Kynschlag/Protektorat im Eisenbahntransport über Prag ins niederösterreichisch-tschechische Grenzgebiet verbracht und einfach seinem Schicksal überlassen. Es folgte eine lange Odyssee in Kriegsgefangenenlagern zwischen Horn im Waldviertel und Rustawi beziehungsweise Tiflis im heutigen Georgien. Am 2. September 1945 beschreibt er die Ankunft im „Oflag, Offizierslager, XVII A” bei Edelbach nordwestlich von Horn wie folgt: „Dieses Lager bestand aus Steinbaracken. Vom Barackenältesten erfuhren wir, dass während des Krieges hier französische Offiziere gefangen gehalten wurden und dass die Franzosen Tunnel zur eventuellen Flucht gegraben haben. Im Verhältnis zu den anderen Lagern war dieses ein sauberes. Man konnte es daran messen, dass die deutsche Lagerführung auf mehr Ordnung und Disziplin achtete. Es gab außerdem einen geregelten und bis auf das Kleinste durchdachten Tagesablauf.”

@Michael Gurschka
Die Zeitzeugin Hertha Gratschmayer, Jahrgang 1928.

Gibt es auch Verbindendes, also Erlebnisse, die so oder ähnlich praktisch alle ihre Gesprächspartner zu berichten hatten?
Das war in erster Linie der Umgang mit fehlenden Ressourcen jeglicher Art an der Front und in Kriegsgefangenschaft gleichermaßen wie in der Heimat. Mit Beendigung der Kämpfe um Wien berichtet zum Beispiel die Zeitzeugin Hertha Gratschmayer (Jahrgang 1928) über den Zusammenbruch, die sowjetische und britische Besatzungszeit sowie den Neubeginn aus der Sicht einer damals 16-Jährigen: „Irgendwie fühle ich mich verpflichtet, diese Erfahrungen den nachfolgenden Generationen weiterzugeben – ausgehend von den Lebensweisheiten meiner Mutter, auch in schwierigen, oft aussichtslos erscheinenden Situationen nicht zu verzagen, sondern weiterzuleben nach der Devise „Irgendwie geht es immer weiter – wenn nicht geradeaus, dann vielleicht ums Eck herum. Ihr späterer Gatte Otto Gratschmayer (Jahrgang 1925) war Angehöriger des Fahnenjunkerregimentes 1239 und überlebte 1945 bei Frankfurt an der Oder, im Zuge der Schlacht um die Seelower Höhen im Rahmen der Berliner Operation, das schwerste Artillerietrommelfeuer des Zweiten Weltkriegs. Er wiederum berichtet von den Entbehrungen in der sowjetrussischen Kriegsgefangenschaft aus Lagern rings um Moskau: „Man glaubt nicht, wozu Menschen fähig sind, wenn anerzogenes Rechtsempfinden und Ordnungsbewusstsein wegfallen und nur mehr der Überlebenstrieb regiert.”

@Michael Gurschka
Der Zeitzeuge Otto Gratschmayer, Jahrgang 1925.

Wie ist es mit derartigen Geschichten konfrontiert zu werden? Stecken Sie das leicht weg? Oder benötigen Sie selbst Zeit, um das Gehörte zu verdauen?
Diese Frage möchte ich einleitend mit zwei weiteren Schicksalen beantworten: Primar Leopold Preier, praktischer Arzt, Facharzt für Allgemein- und Kinderchirurgie (Jahrgang 1928), berichtete unter anderem über einen Luftangriff auf seine Heimatgemeinde Ginzersdorf: „So schnell wir konnten, rannten wir zurück in den Ort. Als ich bei meinem Elternhaus ankam, stockte mir der Atem: Unser Haus hatte einige Bombentreffer bekommen! Ich stürzte in das verwüstete Vorzimmer und sah Josef in einer riesigen Blutlache am Boden liegen. Aus einer klaffenden Wunde unterhalb der rechten Leiste quoll Blut. Ein Schuss aus der Bordkanone hatte seine Oberschenkelarterie zerfetzt. Josef war leichenblass und lag im Sterben. ,Wir werden uns nicht mehr sehen …’, stammelte er noch. Den Transport nach Großkrut zum Hauptverbandsplatz überlebte er nicht mehr.” Nach dem Krieg studierte Leopold Preier Medizin, später war er im Krankenhaus Lainz und im Krankenhaus Mistelbach für die Ausbildung zum praktischen Arzt tätig. Seine weitere Laufbahn setzte er 1962 im Gottfried von Preyerschen Kinderspital fort, in welchem zu dieser Zeit eine Kinderchirurgische Abteilung gegründet wurde.

@Michael Gurschka
Der Zeitzeuge Primar Leopold Preier, Jahrgang 1928.

Bei Leopold Preier habe also möglicherweise diese Erfahrungen seine Berufswahl beeinflusst?
Leicht möglich. Ungewollt wurde er jedenfalls 1945 mit einer Situation konfrontiert, welche den Tod seines Freundes Josef mit sich brachte. In seinem späteren Leben rettete er dann als Kinderchirurg unzähligen kleinen Patienten das Leben.

Und das zweite Schicksal, von dem Sie gesprochen haben?
Da geht es um Wilhelm Lehmann, einen gebürtigen Allgäuer (Jahrgang 1926), der rund fünf Jahre in sowjetrussischer Kriegsgefangenschaft in Nikolajew am Schwarzen Meer verbrachte. Heute unterstützt er liebevoll eine ukrainische Flüchtlingsfamilie in Österreich. Er steht mittlerweile im 98. Lebensjahr (!) und  neben seinen Arbeiten an Haus und Garten und nach einer durchgemachten Corona-Infektion begleitet er die Familie zum Einkaufen, auf Ämter sowie in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule. Die in der Gefangenschaft erworbenen Sprachkenntnisse kommen ihm dabei zu Gute. In dem Fall hat eine einst schreckliche Geschichte später auch etwas Gutes, aber es ist natürlich schrecklich mit den Geschichten konfrontiert zu werden.

Können einem diese Geschichten auch irgendwann einmal zu viel werden?
Natürlich. Wurden mir die schlaflosen Nächte zu viel, habe ich Tage bis Wochen von den Unterlagen Abstand genommen. Als Ausgleich und um das Gehörte zu verdauen betrieb ich Ausdauersport. Die beiden gerade erwähnten Schicksale zeigen aber auch, wie schreckliche Erlebnisse trotz allem inspirieren und verdaut sowie bewältigt werden können und wie Menschen mit ihren Aufgaben selbst bis ins hohe Alter wachsen.

@Michael Gurschka
Der Zeitzeuge Wilhelm Lehmann, Jahrgang 1926.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie daran denken, dass Ähnliches wie in ihrem Buch beschrieben gerade auch wieder ganz aktuell in der Ukraine (-> Aktuelle News zum Ukraine-Krieg) passiert? Und dort zum Teil sogar in Gebieten, die schon während des Zweiten Weltkrieges zu Schlachtfeldern wurden.
Zu den die Infanterie betreffenden Einsatzberichten frage ich mich, wie ich in den diversen Gefechtssituationen gehandelt hätte und als Lehroffizier meine Zugs- und Kompaniekommandanten der Jägertruppe auf solche Szenarien, wenn auch nicht unmittelbar, vorzubereiten habe. Zum Handwerk des Infanteristen beziehungsweise Jägers gab es in den vergangenen 80 Jahren keine wesentlichen Veränderungen. Stellungen, Unterstände und Schützengräben werden auch heute noch wie im Zweiten Weltkrieg im verteidigungsgünstigen Gelände per Schaufel und Spaten errichtet oder maschinell angelegt sowie im Angriff mit Gewehren und Handgranaten aufgerollt, wie auch durch Drohnen erstellte Videos in der Ukraine eindrucksvoll belegen.

@Kral Verlag
„Nie habe ich erfahren, wofür das alles geschah …”, 2022, Kral Verlag, ISBN: 978-3-99103-075-1, Preis: 39,90 Euro.

Trotz aller Technik und modernen Waffensysteme enden „moderne Kriege” am Ende des Tages also immer noch als Kampf Mann gegen Mann?
Ja – und um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, braucht es eine jahrelange gute Ausbildung. In meiner 20-jährigen Zugehörigkeit zum Einsatzverband Jagdkommando durfte ich erfahren, wie enorm der Bedarf an zeitlichen und materiellen Ressourcen sowie der Bedarf an personellen Ressourcen ist, um in diversen gefechtstechnischen Abläufen, neben der Festigungs- auch die Anwendungsstufe zu erreichen. Das Erreichen dieser mit der Truppe, um der Definition „Gefechtstechnik” überhaupt gerecht zu werden, ist ein unabdingbarer Faktor zur Auftragserfüllung im Einsatz. Zögerndes und unentschlossenes Verhalten von Kommandanten und/oder Schützen sowie unkoordinierte und nicht drillmäßig eingeübte Gefechtstechniken werden sich im Einsatz verheerend auf die Anzahl ausgefallener eigener Soldaten auswirken.

Wer nicht genug übt und sich gut vorbereitet, bereut dies im Anlassfall also durch höhere Verluste?
„Gefechtstechnik = Handwerk = Tun”. So wie ein Handwerker tagtäglich Werkzeuge, Materialien und Baustoffe handzuhaben hat, um beispielsweise ein Fundament zu betonieren, ist es beim Jäger der Umgang mit Waffen und Waffensystemen, Munition und Kampfmitteln um beispielsweise einen auf ein Stellungssystem geführten Angriff erfolgreich abwehren zu können. Die tagtägliche Auseinandersetzung mit  technischen, materiellen und personellen Herausforderungen, Veränderungen und Errungenschaften, um Abläufe effizienter gestalten zu können, sind in beiden Bereichen eine mehr oder weniger Lebensaufgabe.

Quelle@Michael Gurschka, Kral Verlag, Archiv