Hunger, Armut und Krieg prägten viele Jahre das Leben in Äthiopien. Mit Beginn des neuen Jahrtausends setzte dann ein beispielloser Wirtschaftsboom ein, in dessen Sog sich der ostafrikanische Staat zu einem Schwellenland mit Potenzial zu mehr entwickelte. Der Aufschwung scheint nun aber ein jähes Ende zu finden, innenpolitisch kam es zuletzt zu kräftigen Spannungen. IFK-Experte Gerald Hainzl sieht in den Unruhen sogar die Vorboten eines möglichen Bürgerkriegs.
Hohe Wachstumsraten, eine konsumfreudige Mittelschicht und spektakuläre Bauprojekte. Äthiopien galt in den vergangenen Jahren als „the next big thing“, das am Sprung von der Armut in die Moderne stand. Zuletzt hat sich die Wahrnehmung des ostafrikanischen Staates aber stark verändert. Zwar bestätigte Anfang Oktober die Eröffnung einer von China gebauten 756 Kilometer langen elektrifizierten Eisenbahnlinie zwischen der Hauptstadt Addis Abeba und dem Hafen von Dschibuti den wirtschaftlichen Aufschwung. In den Jubel mischten sich aber auch Misstöne. Vor allem in der Provinz Oromia kam es zu Protesten gegen die Entwicklungs- bemühungen der Regierung, die ihren Ursprung bereits im Jahr 2014 haben. Damals sah der geplante Ausbau der Hauptstadt die Vertreibung zahlreicher Menschen von ihrem Land vor.
Die politische Lage besonders brisant machte dabei die Tatsache, dass um Addis Abeba vorwiegend Angehörige der Volksgruppe der Oromo leben und sich diese durch die Regierung benachteiligt fühlten. Sie hatten Angst, ihr Land verlassen und sich woanders ansiedeln zu müssen. Vor allem für Bauern, die auf Subsistenzwirtschaft angewiesen sind, wäre der Verlust von Land gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer Lebensgrundlage und ihrer Identität gewesen, und so kam es in der Folge immer wieder zu Zusammenstößen. Menschenrechtsgruppen zufolge wurden seitdem mehr als 500 Menschen getötet, infolge der aktuellen Proteste sollen 11.000 Menschen verhaftet worden sein. Zwar wurde ein Großteil der Inhaftierten wieder entlassen, unklar ist allerdings, wie viele Personen sich nach wie vor in Haft befinden.
Äthiopien machte ausländische „Elemente“ für die jüngste Protestwelle verantwortlich und beschuldigte Staaten wie Eritrea und Ägypten. Erschwerend wirkte die Entscheidung der Regierung, mit 9. Oktober einen sechsmonatigen Ausnahmezustand zu verhängen. Um den ethnischen Spannungen etwas die Schärfe zu nehmen, kam es in der Regierung im November immerhin zu einer großen Umbildung. Zudem wurden Reiserestriktionen gegen Diplomaten aufgehoben, die sich bis dahin nicht weiter als 40 Kilometer von der Hauptstadt entfernen durften. Die Regierung argumentiert, mit der Erweiterung der Hauptstadt den Anforderungen der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft in Afrika gerecht werden zu wollen. Unterstützung bekommt sie dabei von internationalen Analysten, die den Oromo zumindest eine Teilschuld an der aktuellen Eskalation geben. Demnach haben sie in den vergangenen Jahren eine Form des Ethnonationalismus etabliert, der sich gegen die Regierung und die als dominierend empfundenen Politiker der TPLF (Tigrayan People’s Liberation Front) richtet.
Auch außenpolitisch läuft es für Äthiopien nicht mehr so rund wie zuletzt. Das Land hat sich kürzlich etwa aus der Mission der Afrikanischen Union (AMISOM) in Zentralsomalia zurückgezogen, was mit finanziellen Gründen argumentiert wurde. Kritiker meinten, dass die Truppen aber vielleicht auch im Inland benötigt würden und daher abgezogen wurden. Die weiteren Entwicklungen werden jedenfalls sehr davon abhängen, inwieweit ein inneräthiopischer Ausgleich gefunden werden kann, der allen Gruppen das Gefühl gibt, repräsentiert zu sein. Falls das nicht gelingt, ist in den kommenden Jahren mit weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen zu rechnen, die in Flucht und Vertreibung münden könnten. Und möglicherweise sogar in einen Bürgerkrieg.