Oberst Markus Reisner leitet die Entwicklungsabteilung an der Militärakademie in Wiener Neustadt. Hier erklärt er einige Aspekte in Erwartung einer russischen Offensive im Krieg in der Ukraine.
Herr Oberst, worauf wartet Russland? Warum dauert das doch alles länger? Muss der General Dwornikow sich erstmal etablieren?
Die Operation hat bereits begonnen. Wir sehen hier nun eine ganz andere taktische Einsatzführung als in den ersten sechs Wochen des Krieges. Die ukrainischen Stellungen werden erst nach massivem Artillerie- und Mehrfachraketenwerfereinsatz (vor allem mit BM-30 und BM-21 Werfern) angegriffen. Die Russen rücken dann langsam (1,5 km/h) und vorsichtig vor. Dies passiert zurzeit and vier Stellen des sich bildenden möglichen Kessels. Erst bei einem Durchbruch in der Tiefe der Umfassung ist mit einem nachhaltigen massiven russischen Ansatz von Kräften zu rechnen. In der Zwischenzeit werden laufend weitere Kräfte vor allem aus Belgorod herangeführt. Die Gesamtkoordination erfolgt durch General Dvornikov. Er führt diese bereits seit zumindest zehn Tagen durch. Er führte bereits zuvor die Operation in diesem Raum, ist also mit der Lage im Detail vertraut. Das Ergebnis seiner Einsatzführung war bereits die erfolgreiche Umfassung ukrainischer Kräfte bei Izjum und der Ausbruch aus der Enge in Richtung Süden. Ein dabei durchgeführtes Panzergefecht russischer gegen ukrainische Panzer bei Kamina konnten die Russen für sich entscheiden. Trotzdem ist es den ukrainischen Kräften gelungen, sich neu zu organisieren und eine stabile Abwehrlinie zu bilden. Dies zeugt von der überaus hohen Moral der ukrainischen Kräfte.
Mariupol: Warum kann Russland die Stadt nicht einnehmen?
Die Stadt ist zu großen Teilen in russischer Hand. Innerhalb der Stadt sind im Wesentlichen noch zwei Stadtbezirke unter ukrainischer Kontrolle. Hier tobt ein erbitterter Häuserkampf oberhalb und unterhalb der Straßenzüge. Die ukrainischen Verteidiger kämpfen vor allem im Industriewerk „Asovtal” aus den unterirdischen Kabelschächten und Gängen heraus. Der Kampf um die Stadt befindet sich jedoch in seiner letzten Phase. Wiederholte ukrainische Ausbruchsversuche in Richtung Norden und die Gefangennahme größerer Gruppen ukrainischer Soldaten (durch mehrere Videos belegt) zeigen dies. Vor allem die Angehörigen des Azov-Regiments kämpfen nach wie vor bis zum bitteren Ende. Sie rechnen bei einer Gefangennahme, da sie aus russischer Sicht als „Nazis” gelten, mit dem sicheren Tod. Sie haben daher keine Alternativen. Die russische Seite möchte hohe Eigenverluste vermeiden und geht daher vorsichtig (Einsatz von Drohnen und massiver Artillerieeinsatz) vor. Mehrere Entsatzversuche der ukrainischen Seite (darunter der Versuch der Evakuierung mittels Schiff, beziehungsweise durch Hubschrauber) sind bis jetzt gescheitert. Zudem leiden die Verteidiger nach über 40 Tagen Kampf bereits unter massiven Versorgungsengpässen (vor allem Munition und Verpflegung).
Wie positioniert sich derzeit die Ukraine? Kommen Waffen rechtzeitig für die große Ostoffensive an?
Die ukrainischen Kräfte versuchen ihre bestehenden Verteidigungsstellungen im Donbass weiter zu verstärken (beispielsweise durch laufendes Verlegen von Minen) und eine bewegliche Verteidigung zu führen. Das heißt, sie besetzen die Stellungen während der Artillerieangriffe mit geringen Kräften und versuchen erst beim Vormarsch der russischen Bodentruppen einen Abwehrerfolg zu erzielen. Das dazu notwendige Verschieben der Kräfte wird jedoch aufgrund des massiven russischen Drohneneinsatzes (vor allem vom Typ Orlan-10) immer schwieriger. Zudem versuchen die russischen Kräfte durch den Einsatz von Luftmitteln (Kampfflugzeuge, Marschflugkörper, ballistische Raketen) die Versorgungslinien der Ukrainer auszuschalten. Ausgewählte westliche Waffensysteme (Minidrohnen zur Artilleriefeuerleitung, unterschiedliche Panzerabwehrsysteme) befinden sich bereits im Donbass, beziehungsweise sind im Anmarsch (Kamikazedrohnen vom Typ Switchblade 600). Die von westlicher Seite in Aussicht gestellten schweren Waffensysteme (beispielsweise schwere 155mm Artillerieselbstfahrlafetten) sind noch nicht eingetroffen. Ihr zeitgerechtes Eintreffen ist zurzeit nicht rechtzeitig zu erwarten.