Laut einer Studie des Washingtoner Institute for the Study of War liefert der Syrien-Einsatz dem russischen Militär wertvolle Erkenntnisse. Die Erfahrungen werden genutzt, um das Militär auf die moderne Kriegsführung vorzubereiten.
2021 jährt sich der Syrien-Konflikt zum zehnten Mal. Es handelt sich dabei also um einen der längsten Bürgerkriege der jüngeren Vergangenheit. Der Charakter des Krieges hat sich im Laufe der zehn Jahre mehrfach gewandelt. Begonnen hat der Konflikt als demokratischer Aufstand gegen das Assad Regime. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte er sich zu einem internen Machtkampf, der zunehmend Züge eines Stellvertreterkrieges annahm. Mit dem Eintritt externer Akteure wie der Türkei, Saudi-Arabien, dem Iran oder Russland bildete sich in Syrien ein Kristallisationspunkt, an dem verschiedenste Interessen aufeinander trafen.
Russland betrat die Gefechtsbühne zu einem Zeitpunkt, an dem die regierungstreuen Streitkräfte beinahe das gesamte Territorium Syriens an den Islamischen Staat (IS) verloren hatten und die Niederlage Baschar Al-Assads nur mehr eine Frage der Zeit schien. Am 30. September 2015 verkündete der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, dass Russland der Bitte Assads um militärische Unterstützung nachkommen und eigene Streitkräfte nach Syrien entsenden werde.
Bereits wenige Stunden später flogen die ersten russischen Kampfjets am Himmel über Syrien. Seitdem hat Russland seine Militärpräsenz erheblich ausgebaut; neben den Luftstreitkräften – die seit Beginn des Einsatzes die zentrale Rolle spielen – kamen Spezialeinheiten, die Militärpolizei und das private Militärunternehmen „Gruppe Wagner” zum Einsatz. Aus einer in Dauer und Ausmaß zunächst als begrenzt erscheinenden Intervention wurde letztlich der größte und längste Auslandseinsatz Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion.
Aus dem nunmehr fünfeinhalbjährigen Einsatz schälen sich Konturen und Muster immer deutlicher heraus. Immer klarer tritt zutage, welche Lektionen der Syrien-Einsatz dem russischen Militär liefert, wo es Erfolge verzeichnet hat und worin die Herausforderungen bestehen.
Mit diesen und anderen Fragen befasst sich die Studie „The Russian’s Military Lessons Learned in Syria” von Mason Clark vom Institute for the Study of War mit Sitz in Washington. Die zentrale Aussage lautet: Die Präsenz in Syrien gibt dem russischen Militär eine einmalige, bisher nicht vorhandene Gelegenheit zum Sammeln wertvoller Erkenntnisse, die in die Modernisierungsbestrebungen des Militärs aufgenommen werden. Vertreter des russischen Militärs selbst – darunter der russische Generalstabchef General Valerij Gerasimov – bezeichnen Syrien als „zentrale Lernquelle und Wegweiser für die moderne Kriegsführung”.
Nach Mason hat die Syrien-Intervention dem russischen Militär vor allem eines vor Augen geführt: flexible Expeditionsstreitkräfte, die im Ausland für „begrenzte Operationen” eingesetzt werden können, sind ein wichtiger Bestandteil künftiger Kriegsführung. Die Erkenntnisse aus Syrien, die nach Ansicht des Autors die Modernisierungsbestrebungen des russischen Militärs prägen werden, leiten sich daraus ab und lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die zentrale Lektion
Verbessere deine Fähigkeiten in Führung und Kontrolle (Command and Control, C2) unter dynamischen und herausfordernden Bedingungen. Diese seien zentral dafür, um auf dem Gefechtsfeld gegenüber dem Gegner Überlegenheit bei der Entscheidungsfindung zu erlangen. Dies wiederum sei die grundlegende Voraussetzung für die Erreichung aller weiteren Ziele. Überlegenheit – oder „superiority of management”, wie der Autor sie nennt – werde erreicht, wenn man in der Lage ist, nicht nur schneller als der Gegner Entscheidungen zu treffen, sondern bessere Entscheidungen schneller zu treffen, und folglich den Gegner in einen bestimmten Entscheidungsrahmen hineinzuzwängen.
Lektion Nummer zwei
Optimiere das Zusammenspiel mit Koalitionsstreitkräften, denn es ist für den Erfolg eines Auslandseinsatzes maßgebend. Dass Russland der Optimierung dieser in Syrien gewonnenen Erkenntnis Bedeutung beimisst, zeigte sich etwa bei dem (seit Sowjetzeiten größten) Militärmanöver „Wostok-2018”. Der Fokus bei dieser Übung – an der auch chinesische und mongolische Streitkräfte teilgenommen haben – lag nämlich auf der Erprobung von Aktionen gemeinsam mit Koalitionspartnern.
Lektion Nummer drei
Erlange auf dem Gefechtsfeld Luftüberlegenheit. Aus dieser Erfahrung heraus investiere Russland verstärkt in die Entwicklung von Präzisionswaffen, unbemannten Flugsystemen (unmanned aerial vehicles, UAVs) und Fähigkeiten zur Bekämpfung gegnerischer UAVs, so Clark.
Lektion Nummer vier
Denke unkonventionell, handle flexibel und kreativ. Diese Eigenschaften würden für die Erreichung militärischer Überlegenheit in künftigen bewaffneten Konflikten essentiell sein. Eine wichtige, wenn auch schwer umsetzbare Erkenntnis aus Syrien, findet der Autor der Studie. Der Syrien-Einsatz habe gezeigt, dass die in der Sowjetzeit tief verwurzelte stark hierarchische Führungsstruktur den Anforderungen moderner Kriegsführung nicht mehr gerecht werden. Diese Erkenntnis sei bei hochrangigen russischen Offizieren angekommen und werde beim Training zunehmend berücksichtigt. Bis sich die Führungskultur langfristig ändert, werde es aber eine ganze Generation brauchen.
Das Fazit der Studie
Russland hat in Syrien viele wertvolle Erfahrungen gewonnen. Dass sie aber direkt in die Modernisierungsbestrebungen des russischen Militärs aufgenommen und 1:1 auf andere Einsätze übertragen werden könnten, sieht der Autor kritisch. Ein Beispiel seien die Waffen. In Syrien hat Russland zum ersten Mal neue Waffensysteme getestet – darunter trägergestützte Flugzeuge, Su-57 Kampfjets der fünften Generation, Marschflugkörper des Typs Kalibr und Drohnen zur Informationsgewinnung und Aufklärung (Orlan-10 und Forpost – eine russische Weiterentwicklung der israelischen Searcher), die in diesem Ausmaß bisher noch nicht eingesetzt wurden. Das Ausmaß in dem sie eingesetzt wurden, findet der Autor, reiche aber nicht dafür aus, dass daraus essentielle Schlüsse für die Weiterentwicklung jener Waffen gezogen werden könnten.
Ein anderes Beispiel sei die hohe Anzahl der russischen Offiziere die in Syrien eingesetzt wurde. Das angewandte Rotationsprinzip ermöglichte es, dass fast alle Offiziere über der Ebene Brigade und die Kommandeure aller russischen Militärbezirke Gefechtserfahrung sammeln konnten. Andererseits aber wären die sechs Monate Einsatzzeit zu wenig dafür, ein tieferes Verständnis von der Operation zu entwickeln und die Erfahrung auf andere künftige Operationen zu übertragen.
Unterschätzen sollte der Westen den Syrien-Einsatz Russlands dennoch nicht, warnt der Autor. Auch wenn es noch dauern wird, bis Russland die gewonnenen Erfahrungen erprobt und implementiert hat, so habe die Intervention einige wichtige Facetten moderner Kriegsführung aufgezeigt. Dazu habe sie deutlich dazu beigetragen, dass Russland in die militärisch-technologische Modernisierung verstärkt investiert.
Viele Fragen bleiben trotzdem weiterhin offen. Auch wenn das Bild von der russischen Syrien-Intervention heute schärfer ist als zu Beginn des Einsatzes, so ist es auch vielschichtiger und komplexer. Über die tatsächlichen langfristigen Auswirkungen der Erfahrungen aus Syrien zum jetzigen Zeitpunkt zu sprechen, wäre reine Spekulation. Zum einen, weil die Intervention noch nicht beendet ist, zum anderen, weil die Erfahrungen aus Syrien nicht direkt auf jeden beliebigen Kontext übertragen werden können. Es bleibt abzuwarten, welche gewonnenen Erkenntnisse sich letztlich tatsächlich als umsetzbar und nützlich erweisen werden.
Hier geht es zur Studie.