Michail Gorbatschow sagte einst: „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte”. Im Falle Alexander Lukaschenkas dürfte dieser ein wenig umgedichtete Spruch voll zutreffen: „Wer zu spät geht, den bestraft die Geschichte.” Lukaschenka hatte die Chance in die Geschichte seines Landes als Gründervater des modernen belarusischen Staates einzugehen, diese Chance hat er nunmehr endgültig verpasst. Alexander Lukaschenka weiß keine Mehrheit mehr hinter sich.
Das Regime Lukaschenkas befindet sich auf der Zielgeraden, sein Ende ist nah, doch kann das tatsächliche Ende noch eine Zeit lang auf sich warten lassen, und es steht zu befürchten, dass die letzten Atemzüge des Regimes von noch größeren Gewaltakten als bislang begleitet werden könnten.
Verfassungsreform als Spiel auf Zeit
Die für Lukaschenka entscheidende Frage bleibt die Loyalität der Geheimdienst-, Polizei- und Armeeeliten als tragenden Säulen des Regimes. Sollte es zu einer Spaltung dieser Gruppe kommen, sind die Tage des Regimes gezählt. Wird es ihm aber gelingen die Loyalität dieser Gruppe aufrechtzuerhalten und die Proteste auszusitzen, wird er kurz- bis mittelfristig an der Macht bleiben. Lukaschenka dürfte im Bewusstsein dieser Problematik versuchen, auf Zeit zu spielen, eine Spaltung der Protestierenden sowie auf das Abflauen der Proteste abwarten. In diesem Zusammenhang sollte auch sein Vorschlag nach einer umfassenden Verfassungsreform mit anschließenden Präsidentenwahlen gelesen werden. Diese Verfassungsreform soll unter anderem eine Reduktion präsidialer Kompetenzen zu Gunsten des Parlaments vorsehen. Freilich sollte dieses Angebot nicht überbewertet werden, denn Lukaschenka ist nicht zur Machtabgabe bereit. Diese taktische Finte könnte sich aber für sein Regime als ein Bumerang erweisen und die Spaltung politischer Eliten beschleunigen.
Ambivalente Rolle Moskaus
Auch auf die Hilfe aus Moskau hofft Lukaschenka, doch auch diese Hoffnung dürfte vergebens sein. Im Mittelpunkt der aktuellen Proteste in Belarus steht die Ablehnung des diktatorischen Regimes Lukaschenkas und somit rein interne Gründe, die Frage nach der Beziehung zu Russland beziehungsweise allgemein nach außenpolitischer Ausrichtung der Republik Belarus spielt bislang keine Rolle. Sollte dies weiterhin so bleiben, spricht einiges durchaus für eine ähnlich zurückhaltende Rolle Russlands wie bei den revolutionären Machttransits in Armenien 2018 oder 2003 in Georgien. Moskau hielt sich zurück, wartete ab, stellte sich auf die Seite der Sieger und zeigte die pragmatische Bereitschaft mit den siegreichen Protestierenden zusammenzuarbeiten. Die wichtigste Voraussetzung war dabei aus russischer Sicht die Wahrung russischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen sowie keine Re-Orientierung des Landes in Richtung Westen.
Problematische Sonderrolle der Republik Belarus
Jedoch gilt es die Sonderrolle von Belarus für Russland zu beachten. Belarus ist für Russland von strategisch zentraler Bedeutung, ungleich wichtiger als die annektierte Krim. Es ist der wichtigste sicherheitspolitische Verbündete, ein Vorposten Richtung Westen und ein wichtiges Bindeglied zur Exklave Kaliningrad. Moskaus Minimalziel in der gegenwärtigen Situation dürfte somit die Wahrung eigener Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen und das Verhindern einer westlichen Orientierung von Belarus sein. Das Maximalziel aber ist eine tiefere Integration im Rahmen des Unionsstaates, insbesondere im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich; wirtschaftlich und energiepolitisch ist Belarus von Russland ohnehin massiv abhängig.
Ein Abdriften von Belarus in Richtung Westen wird Moskau nicht akzeptieren. Freilich gibt es derzeit keine Veranlassung von einer Re-Orientierung des Landes in Richtung Westen auszugehen. Allerdings befindet sich die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja in Litauen und hat per Videobotschaft ihre Bereitschaft erklärt, die „nationale Führung” in der Übergangsperiode zu übernehmen. Allein das dürfte in nationalkonservativen Kreisen in Moskau für erste Alarmstimmung sorgen.
Lukaschenka als Oxymoron-Gestalt
Aus russischer Sicht scheint Lukaschenka ungeachtet seiner russlandkritischen Rhetorik eine „unliebsame Idealvariante”, eine sicherheitspolitische Oxymoron-Gestalt zu sein. Lukaschenkas diktatorischer Regierungsstil bildet ein wichtiges Hindernis bei der Annäherung zwischen Belarus und dem Westen. Ein demokratisch legitimierter Präsident wäre ein willkommener Gesprächspartner des Westens und somit aus russischer Sicht per se problematisch. Doch wird Moskau nicht um jeden Preis an Lukaschenka festhalten, sondern nur solange dies sinnvoll erscheint. Dabei dürfte Russland versuchen, einen unkontrollierten Niedergang des Lukaschenka-Regimes zu verhindern.
Sollte es Lukaschenka gelingen die Proteste auszusitzen, wird der Kreml auf eine vertiefte Integration im Rahmen des Unionsstaates drängen, insbesondere im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich, und schrittweise Lukaschenka dazu bewegen, die Macht an einen für Moskau genehmen Nachfolger zu übergeben. Im Falle Lukaschenkas Scheiterns ist mit einem durch Moskau indirekt eng mitbegleiteten und kontrollierten fliegenden Machtwechsel an einen aus der Sicht des Kremls akzeptablen Alternativkandidaten zu rechnen.
Militärisches Eingreifen Russlands unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen
Ein massives militärisches Eingreifen erscheint dagegen aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Bei einer militärischen Intervention geht die Kosten-Nutzen-Rechnung aus der Sicht des Kremls nicht auf. Zu hoch dürften dabei die Kosten sein: eine massive Eskalation und Gegenreaktion der belarusischen Gesellschaft hervorrufen, einen hohen Blutzoll fordern, Russland auf Jahrzehnte von Belarusen entfremden und zu einer Verschärfung westlicher Sanktionen führen. Weiters dürfte der Kreml die Notwendigkeit einer Militärinvasion in Belarus der eigenen Bevölkerung nur schwer vermitteln können. Anstatt wie nach der Annexion der Krim für eine patriotische Mobilisierung zu sorgen, dürfte Vladimir Putin im Falle eines militärischen Eingreifens in Belarus an Unterstützung in der Bevölkerung verlieren.
Nichtsdestoweniger sollte das militärische Eingreifen Russlands nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Russland hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, zu revisionistischen Schritten im Falle ernsthafter Bedrohung eigener Sicherheitsinteressen bereit zu sein. Sollte es zu einem aus Moskauer Sicht unkontrollierten Zusammenbruch des Regimes in Belarus bei gleichzeitiger Ermangelung an für Russland akzeptablen Führungspersönlichkeiten, prowestlicher Rhetorik der Protestierenden und einer sich auch nur in Ansätzen abzeichnenden potentiellen Orientierung von Belarus in Richtung Westen kommen, dürfte sich der Kreml für eine militärische Lösung entscheiden. Auch auf dieses Szenario dürfte sich Moskau vorbereiten.
Kurz- bis mittelfristig erscheint eine prowestliche Orientierung der Republik Belarus auf Kosten der Beziehungen zu Russland äußerst unwahrscheinlich. Die wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeit von Russland ist massiv ausgeprägt: Sei es die Auslandsverschuldung oder die Abhängigkeit belarusischer Staatsbetriebe vom Zugang zum russischen Markt. Weiters dürfte auch nur der Wunsch nach einem Abnabelungsprozess vom Unionsstaat oder der Eurasischen Wirtschaftsunion zwingend zu russischen Wirtschaftssanktionen und zum Ausschluss der Republik Belarus vom russischen Markt führen.
Schrittweise Annäherung an die EU
Um diese offensichtliche Abhängigkeit zu reduzieren, würde es mittel- bis langfristig von Seiten der EU Investitionen in Milliardenhöhe bedürfen. Letzteres ist nicht zuletzt aufgrund der Pandemie und ihrer wirtschaftspolitischen Auswirkungen wohl nicht zu erwarten. Aus diesem Grund sollte die EU auf die Vertiefung der Zusammenarbeit im Rahmen des Programmes Eastern Partnership und auf Visaliberalisierung setzen, um die Jugend und die belarusische Zivilgesellschaft zu unterstützen und das Land schrittweise, aber nachhaltig und langfristig, an die EU heranzuführen.