Der Disput zwischen Griechenland und der Türkei über Hoheitsgewässer-Seegrenzen und unangekündigtes türkisches Eindringen in die Athener Fluginformations-Region wird seit Jahrzehnten „gepflegt“, ist aber trotzdem täglich virulent – die NATO-Mitgliedschaft beider Länder hin oder her.
Als die Türkei im November ein sogenanntes Seerechtsabkommen mit der UN/EU-anerkannten aber real auf das durch LNA-General Heftar belagerte Tripolis beschränkten libyschen GNA-Regierung unterzeichnete, hat sich das Klima zwischen Athen und Ankara nochmals abgekühlt, da es große griechische Inseln wie Kreta und Rhodos überhaupt nicht berücksichtigt. Griechenland hält das Abkommen zwar für null und nichtig, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist aber offenbar gewillt, Fakten zu schaffen, die in Athen als Provokation empfunden werden: Erdoğan kündigte vergangene Woche jedenfalls an, die Türkei werde südlich von Kreta in diesem Jahr mit der Gassuche beginnen.
Nun berichtet im griechischen TV-Sender Skai Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos von „mehr als 90 Luftraumverletzungen türkischer Jets an einem Tag, so viele hat es noch nie gegeben!“ Am Dienstag hätten die Türken mit 91 Luftraumverletzungen und 27 Überflügen von insgesamt 20 türkischen F-16 diese Spitze ereicht, Angaben aus Athen zufolge sind sie dabei auch über bewohnte Inseln geflogen, darunter Leros, Kalolimnos, Leipsoi, Arkious, Agathonisi, Oinousses und Panagia. Sechs der Verstöße hätten sogar zu „trockenen Luftkämpfen“ mit griechischen Mirage-2000 Kampfflugzeugen geführt, wie auch einem nun aufgetauchten HUD-Video aus einer Mirage der Elleniki Aeroporia zu entnehmen ist. Laut griechischen Presseberichten seien die 20 türkischen F-16 der THK (Turk Hava Kuvettleri) zusammen mit 5 CN-235 Seeüberwachungsflugzeugen und 19 Helikoptern im Fluginformationsgebiet von Athen unterwegs gewesen, ohne einen Flugplan mitzuteilen.
Ähnliches dürfte sich auch schon am 16. Dezember ereignet haben, da wurden 16 derartige „Dogfights“ gezählt. Brisant: Immer wieder finden die türkischen „Raids“ laut Informationen aus Athen ausgerechnet dort statt, wo sich griechische Generäle, Minister oder der Premierminister aufhalten oder unterwegs sind. Dem griechischen Generalstab zufolge verzeichnete man 2019 um 200 Prozent mehr Luftraumverletzungen und um 600 Prozent (!) mehr Vorfälle auf See mit der Türkei, gemessen am Durchschnitt der Jahre seit 2010.
Spricht man darüber mit türkischen Piloten (etwa beim RIAT oder in Dubai), geben sie an, dass Athen seine Hoheitsgewässer auf zwölf Seemeilen vor der Küste erklären will, was man in Ankara aber ablehene, weil damit der Anteil des internationalen Gewässers in der Ägäis auf 19 Prozent und der des türkischen Gewässers auf 10 Prozent zurückgehen würde. Somit wäre die Ägäis ein griechisches Meer mit einem Anteil von 70 Prozent, was für die Türkei ebenso unannehmbar wäre als dass Seegrenzen weniger als drei Kilometer entfernt vom türkischen Festland verliefen. Wenn man einwirft, dass im Dodekanes und der Ostägäis die geographischen Bedingungen nicht mehr Spielraum zulassen, wird Anspruch und Verärgerung darüber geäußert, weil die Anerkennung des gesamten anatolischen Kontinentalsockels seitens der Staatengemeinschaft ausgeschlossen und nicht mal diskutiert würde. Wie die Tageszeitung Kathimerini diese Woche berichtet, habe der türkische Minister für EU-Angelegenheiten Omer Celik im vergangenen Monat Agathonisi als „türkische Insel“ bezeichnet. Ankara betrachtet auch weitere kleine Inselgebiete – beispielsweise Imia/Kardak – als „rechtliche Grauzonen“ und 2018 sprach ein Minister Erdogan’s im türkischen Parlament nicht von griechischen sondern von „17 besetzten Inseln in der Ägäis, die eigentlich der Türkei gehörten.“
Eigentlich ist ein gutes Stichwort, denn eigentlich regelte der Vertrag von Lausanne nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1919 bis 1922 unter anderem Grenzverläufe zwischen beiden Staaten und die Umsiedelung muslimischer und christlicher Minderheiten. Außerdem wurde der Schutz der verbliebenen Christen in der Türkei und der Muslime in Griechenland vereinbart. Nachdem Erdogan 2017 in der Presse eine Revision dieses Vertrages gefordert hatte, empfing ihn sein griechischer Kollege Alexis Tsypras mit den Worten: „Das Abkommen von 1923 ist das feste Fundament unserer Freundschaft. Es definiert das Territorium und die Souveränität Griechenlands. Dieser Vertrag ist für uns nicht verhandelbar.“
Wie sensitiv die Region auf Luftraumbewegungen reagiert, hat im März auch die minutenlange Verfolgung eines dänischen Aufklärungsflugzeuges im Auftrag von FRONTEX durch türkische F-16 gezeigt, wie einer Anfragebeantwortung im deutschen Bundestag von Anfang April zu entnehmen ist. Die gespannte Lage erklärt auch, warum Griechenland trotz hoher Staatsschulden und Milliarden-Unterstützungen der EU weiter U-Boote kauft, seine Mirage-2000 modernisiert, 85 F-16 auf Block-70 aufrüstet und nun laut Medienberichten sogar über den Ankauf von F-35 nachdenkt. Der bislang mitbauenden Türkei dürfte der Jet wegen des Ankaufs russischer S400-Luftabwehrsysteme ja vorenthalten bleiben.