Seit Wochen rollt eine Welle der Gewalt durch die Islamische Republik Iran. Ihr Auslöser: Der Tod der Studentin Mahsa Jina Amini. Ihre Folgen für das Mullah-Regime: Noch nicht absehbar. Eine Analyse von IFK-Experte Walter Posch.
Seit Mitte September kommt es in der Islamischen Republik Iran beinahe täglich zu Unruhen. Auslöser war der Tod der Studentin Mahsa Jina Amini in Polizeigewahrsam. Die Proteste gehen über den Anlassfall hinaus, indem sie sich nicht nur gegen die notorische Polizeibrutalität wenden, sondern auch gegen die systemimmanente Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Konfession und der Volksgruppe – Mahsa Jina Amini vereinte alle drei Aspekte, sie war sunnitische Kurdin. Damit sind die Proteste politischer Natur und keine bloßen Brotunruhen, auch wenn die durch internationale Sanktionen und nationale Misswirtschaft verursachte Wirtschaftskrise die Wut der Bevölkerung stärkt.
Im Vergleich zu den großen Demonstrationen von 2009 protestieren heute viel weniger Menschen, weil die Schrecken jenes Jahres eine ganze Generation politisch mundtot gemacht haben. Außerdem fehlen den Protesten Strategie, Organisation und Steuerung sowie eine klare Zielvorstellung, die über den Sturz des Regimes hinausgeht. Exiliranische Kreise übertreiben also, wenn sie von einer Revolution im Lande sprechen. Und dennoch handelt es sich aus mehreren Gründen um die größte Krise des Regimes seit Jahrzehnten.
So fordern die Kopftuchproteste die Ideologie und somit die Legitimation der Machthaber auf zwei Ebenen heraus. Erstens protestieren viele Iranerinnen trotz systematischer Vergewaltigungen und Morde weiter, wodurch ein wichtiges Element der Einschüchterung wegfällt und nutzlos wird. Zweitens ist der Kopftuchzwang für Islamisten zentral, weil sie ihn mit der ideologischen Unterwerfung der Gesellschaft unter ihre Herrschaft gleichsetzen. Hier hat sich nun die Gesellschaft verändert, denn selbst Islamistinnen lehnen den Zwang zum Kopftuch ab und sprechen sich für das Recht der Frauen aus, selbst zu entscheiden, wie sie zum Kopftuch stehen. Der sicherheitspolizeiliche Preis für die zwanghafte Aufrechterhaltung der islamischen Bekleidungsvorschriften übersteigt daher den ideologischen Nutzen dieser Maßnahme bei Weitem. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil die Frauen nicht alleine sind, sondern als Gleichberichtigte für Bürgerrechte im Iran kämpfen.
Unterstützung bekommen sie unter anderem von sunnitischen Schriftgelehrten aus Balutschistan und Kurdistan. Unmittelbar nach ihrem Tod kondolierte der sunnitische Religionsführer aus Zahedan im Ostiran, Moulana Abdulhamid Esmailzahi den Hinterbliebenen Aminis. Die Sunniten aus Balutschistan unterhalten jahrhundertelange Beziehungen zu ihren Konfessionsgenossen in Kurdistan, vor allem nach Sanandaj und Saqez, der Heimatprovinz Aminis. Abdulhamid kritisierte dabei das Regime für seinen schikanösen Umgang mit den iranischen Bürgern. Nicht die Frage, wie fromm jemand ist, sei von politischer Bedeutung, sondern dass im Polizeigewahrsam regelmäßig Menschen zu Tode kommen. Irans Probleme liegen nicht in der Religiosität der Bevölkerung, die sowieso niemand erzwingen kann, sondern in Misswirtschaft, Missachtung der Menschen- und Bürgerrechte und der brutalen Machtausübung durch das Regime, das sich den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung gegenüber taub stellt. Egal ob Sunniten, Schiiten, Christen, Juden, Sufis, Zarathustrier oder Bahais, als iranische Staatsbürger seien sie alle als Gleichberechtigte zu behandeln. Die Situation in Balutschistan verschlechterte sich am „blutigen Freitag”, dem 30. September, als iranische Sicherheitskräfte 50 unbewaffnete Balutschen erschossen. Es ist einzig Abdulhamid zu verdanken, dass der Volkszorn nicht außer Kontrolle geriet. Da der Sicherheitsapparat Irans ausschließlich durch Schiiten bemannt wird, forderte er die Aufnahme von Sunniten in die Polizei, da diese mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Diese Forderungen werden von Sprechern der Kurden unterstützt. Auch hier sind es die Netzwerke der Moscheen und Derwischorden, die neben den spontanen Protesten Kritik an den Herrschenden üben. Wichtige sunnitische Schriftgelehrte und Vorbeter bei den Kurden wie Kak Hasan Amini oder Mamosta Loqman Amini kritisierten von der Kanzel herab nicht nur die Sicherheitskräfte, sondern auch den Revolutionsführer persönlich. Sie fordern unter anderem die Umsetzung jener Verfassungsartikel, die den Gebrauch der Muttersprache im Schulbetrieb ermöglichen. Ihre Stimme wird von den meist linken bis linksradikalen Exilorganisationen der Kurden überlagert. Gleichwohl ist es die klare Positionierung der konservativen Kurden gegen das Regime, mit der Teheran nicht umgehen kann. Auch in den iranischen Kurdengebieten leistet die Bevölkerung zivilen Widerstand und zahlt einen hohen Preis dafür, 30 Tote allein am „blutigen Montag”, dem 21. November in Javanrud.
Das Besondere bei den Protesten besteht nun in der landesweiten Solidarität der Protestierenden, die klassen-, konfessions- und volksgruppenübergreifend ist. Säkulare Frauen in Teheran beispielsweise unterstützen Kurden und Balutschen, die sich mit den Frauenprotesten solidarisieren. Für das Regime ist die Lage deshalb so kritisch, weil die Reformkräfte als Vermittler zwischen den Massen und dem Regime fehlen; sie wurden von Präsident Ebrahim Raisi und Revolutionsführer Ali Khamenei politisch ausgeschaltet. Aber ohne die „moderierenden” Reformkräfte befindet sich das Regime in einer Zwickmühle zwischen brutaler Durchsetzung und politischer Niederlage. Das trifft zunächst auf den Kopftuchzwang zu, eine Wiedereinführung desselben lässt sich nur mehr mit extrem hohem Gewalteinsatz umsetzen, obwohl es sich um kein Risiko für die Staatsicherheit handelt. Andererseits würde eine Aufgabe des Zwanges logischerweise in der Abschaffung der Sittenpolizei münden, mit deren Hilfe der öffentliche Raum kontrolliert wird und die als Institution treuen Regimeanhängern Arbeit gibt. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung nach einer Untersuchung der Massaker in Zahedan und Javanrud: Eine faire und objektive Prüfung durchführen zu lassen, würde zwangsweise hohe Offiziere der Revolutionsgarde belasten; ein Entgegenkommen beim Unterricht in den Volksgruppensprachen und ein Einhegen oder gar die Abschaffung der Basij-Milizen würden dem Regime als Schwäche ausgelegt und zu noch mehr Forderungen führen.
Mit jedem Tag wird die Möglichkeit, eine auf Bürgerrechten basierende evolutionäre Entwicklung, wie sie von der Bevölkerung gefordert wird, unwahrscheinlicher. Logisch scheint ein hartes Durchgreifen gegen jede Art von Protest, der dann zwangsläufig in den sunnitischen Gebieten zum Glaubenskrieg ausarten muss, ein Schicksal, das dem Iran bisher erspart geblieben ist. Doch aufgrund seiner Reformunfähigkeit bleibt dem Regime wohl keine andere Wahl. Bei ähnlichen Fällen war der Revolutionsführer maßgeblich am Ausgleich innerhalb der militärischen und zivilen Machtstrukturen beteiligt. Er wird bald 90.