Bei der Übernahme des Vorsitzes im Arktischen Rat signalisierte Russland, dass es an der Wiederaufnahme des militärischen Dialogs zur Arktis interessiert ist. Ein Austausch zu sicherheitspolitischen Fragen wäre angesichts der zunehmenden Militarisierung der Region wohl im Interesse aller arktischen Staaten.
Russland ist neuer Vorsitzender im Arktischen Rat. Der Führungswechsel erfolgte am 20. Mai auf dem 12. Ministertreffen des Rates in der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Damit endete der zweijährige Vorsitz Islands.
Bisher wurde dem 1996 ins Leben gerufenen Gremium mit Sekretariat im norwegischen Tromsø wenig öffentliches Interesse zuteil. Dass die kürzliche Übernahme des Vorsitzes durch Russland so viel politische und mediale Aufmerksamkeit erregt, hat Gründe: In den vergangenen Jahren hat Russland seine militärische Präsenz in der Arktis sichtbar ausgebaut. Bilder von drei russischen atombetriebenen U-Booten, die zeitgleich meterdickes Eis im hohen Norden durchbrochen hatten, machten Schlagzeilen. Für zusätzliche Aufruhr sorgte kurz vor dem Ministertreffen die Aussage des russischen Außenministers Sergej Lawrow zu Russlands Besitzansprüchen in der Region. „Es ist schon lange bekannt, dass die Arktis unser Territorium, unser Boden ist”, sagte Lawrow. Viele stellen sich deswegen nun die Frage, inwieweit Moskau den Vorsitz dafür nutzen wird, seine geopolitischen Interessen durchzusetzen.
Das zentrale Anliegen des Rates ist Umweltpolitik. Klimaschutz, Umweltverschmutzung, nachhaltige Entwicklung, Erhalt der Biodiversität und Katastrophenschutz, aber auch wirtschaftliche und soziale Fragen sind Themen, mit denen sich die sechs Arbeitsgruppen des Rates befassen. Militärische Fragen sind laut Ottawa-Deklaration von 1996 – dem Gründungsdokument des Arktischen Rates – von der Arbeit des Gremiums ausdrücklich ausgeschlossen.
Zu seinen Mitgliedern – den sogenannten „Arktischen 8” – gehören neben den fünf Anrainerstaaten Russland, USA, Kanada, Norwegen und Dänemark (wegen Grönland), auch Finnland, Island und Schweden. Als ständige Teilnehmer mit einer beratenden Funktion vertreten sind Organisationen indigener Völker der Arktis, darunter der Inuit und der Samen. Zudem haben 13 Staaten Beobachterstatus: Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Polen, die Schweiz, Spanien, das Vereinigte Königreich, sowie China, Indien, Japan, Singapur und Südkorea. Als Beobachter vertreten sind weiters auch zwischenstaatlichen Organisationen und internationalen NGOs.
Verbindlich sind die Beschlüsse des Arktischen Rates nicht. Dennoch hat er als einziges zwischenstaatliches Forum zu Fragen die Arktis betreffend eine entscheidende Funktion bei der gemeinsamen Umsetzung von Maßnahmen, die das Leben der indigener Bevölkerung tangieren, wie etwa bei der Prävention ökologischer Katastrophen oder der Durchführung von Such- und Rettungsaktionen.
Statt den üblichen gegenseitigen Warnungen und Machtansprüchen, wurde bei der zeremoniellen Übergabe des Staffelstabs vom isländischen Außenminister Gudlaugur Thór Thórdarson an seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow von allen Seiten der Kooperationswille betont. „Die Arktis ist ein Gebiet des Friedens, der Stabilität und des konstruktiven Zusammenwirkens. Wir stellen fest, dass alle unseren Partner derselben Meinung sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Prosperität der Arktis nur durch Kooperation gewährleistet werden kann”, sagte Lawrow.
Im Fokus des Vorsitzes sollen der Schutz und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung der Arktis stehen. Als Vorsitzender will sich Russland dafür engagieren, dass sie einen besseren Zugang zu Bildung und dem Gesundheitswesen erhalten, dass der Austausch zwischen Menschen, vor allem Jugendlichen, ausgebaut wird, und dass die Eigenständigkeit und das Erbe indigener Völker gefördert werden. Verwunderlich ist der thematische Fokus nicht. Die Verbesserung der Lebensumstände der arktischen Bevölkerung, die den steten Bevölkerungsrückgang stoppen soll, ist auch ein Ziel, das in Moskaus Arktis-Strategie vom vergangenen Jahr festgeschrieben ist.
Wiederbelebung des militärischen Dialogs?
Überraschend kam hingegen der Vorschlag Lawrows, die multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis auch im militärischen Bereich zu arrangieren. Lawrow sprach dabei von der Wiederaufnahme der Gespräche zwischen den Generalstäben der Streitkräfte der arktischen Länder. Gemeint waren damit das 2012 gegründete Arctic Chiefs of Defense Forum und/oder der 2011 gegründete Arctic Security Forces Roundtable, und nicht die Einbindung militärischer Fragen in die Arbeit des Arktischen Rates, wie zahlreiche internationale Medien fälschlicherweise berichtet hatten. Treffen im Rahmen beider Formate wurden 2014 aufgrund der russischen Annexion der Krim ausgesetzt.
Es ist zu erwarten, dass Russland seinen Vorsitz im Arktischen Rat dafür nutzen wird, für die Wiederbelebung des 2014 auf Eis gelegten militärischen Dialogs zu werben. Bereits Anfang des Jahres signalisierte der russische Arktis-Botschafter Nikolai Kortschunow in einem Interview für die russische Tageszeitung Kommersant, dass Russland eine solche Wiederaufnahme der Gespräche anstrebt und das Thema im Arktischen Rat ansprechen werde. Ein erster Schritt in Richtung Wiederbelebung des militärischen Dialogs könnten Gesprächsrunden zwischen militärischen Experten aus den Mitgliedstaaten des Gremiums sein, schlug damals Kortschunow vor. Als mögliche Diskussionsthemen nannte er die Schaffung von Mechanismen operativer Zusammenarbeit mit dem Ziel, mögliche Zwischenfälle in Gewässern außerhalb der Territorialzonen der Anrainerstaaten zu verhindern.
Die strategische Bedeutung der Arktis
In Folge der globalen Erderwärmung hat die Arktis in den vergangenen Jahren an geopolitischer Bedeutung gewonnen. Das schmelzende Polareis legt neue Wege für den Schiffsverkehr frei und öffnet Zugänge zu vermuteten Rohstoffvorkommen. Das hat zur Folge, dass immer mehr Anrainerstaaten Gebiete in der Arktis für sich beanspruchen, die sich jenseits der 200 Seemeilen (370 Kilometer) vor ihrer Küste befinden. Nach dem 1994 in Kraft getretenen Seerechtsübereinkommen kann ein Staat eine Erweiterung seines Meeresgebietes beantragen, wenn er nachweisen kann, dass sich sein Festland unter Wasser über die 200-Seemeilen-Zone hinaus erstreckt. Wird sein Antrag von der zuständigen Kommission für Festlandsockel bei den Vereinten Nationen anerkannt, erhält er Hoheitsrechte bei der Ausbeutung von Rohstoffen am verlängerten Festlandsockel.
Konfliktreich wird das Anliegen, wenn mehrere Anrainerstaaten Anspruch auf dasselbe Gebiet erheben. So ist es etwa im Fall vom Nordpol. Das rund 3,7 Quadratkilometer große Gebiet, wo riesige Öl- und Gasvorräte vermutet werden, gehört nach dem UN-Seerechtsübereinkommen niemandem. Interessiert an dem Gebiet sind alle fünf arktischen Anrainerstaaten. Bisher am deutlichsten seinen Anspruch auf das Gebiet bekundet hat Russland. 2007 ließen zwei russische U-Boote auf dem Meeresgrund am Nordpol eine russische Flagge anbringen. Die Aktion sorgte für Empörung seitens der restlichen Anrainerstaaten, die selbst dabei sind, anhand von geologischen Dokumentationen zu beweisen, dass auch ihr Festlandsockel bis in die Polregion reicht.
Die Wahrnehmung der Arktis als strategisch bedeutsame Region lässt sich an der Militarisierung der Region durch die Anrainer-Staaten ablesen. Vor allem die Aufrüstung Russlands in der Arktis hat in den vergangenen Jahren an Fahrt gewonnen. Ausdruck dafür sind etwa die Modernisierung der Nordflotte einschließlich aller U-Boote, oder der Bau von zahlreichen Basen, auf denen russische S-400 Luftabwehrsysteme beziehungsweise MiG-31 Kampfflugzeuge stationiert sind. Anfang 2021 hat Russland gar einen separaten Militärbezirk für die Region geschaffen. Das unterstreicht die strategische Bedeutung der Arktis für Moskau und lässt erahnen, dass die russische Führung ambitionierte Pläne für die Region hat.
Die übrigen Anrainerstaaten reagieren auf das immer selbstbewusstere Auftreten Russlands mit einer Aufrüstung ihrerseits. Neben großangelegten Militärmanövern der NATO wie Trident Juncture, sind vor allem die Vereinigten Staaten darum bemüht, ihren Einfluss in der Region auszubauen. Ausdruck dafür sind etwa der Wiederaufbau des ehemlaigen US-Luftwaffenstützpunktes in Keflavik in Island, die Nutzung der für ihre Raketenabwehr wichtigen Basis Thule in Grönland, oder die Eröffnung eines Konsulats in der grönländischen Hauptstadt Nuuk. Nicht nur die USA und Dänemark, auch Norwegen, Schweden und Finnland beziehen den hohen Norden in ihre eigenen Verteidigungspläne wieder stark mit ein.
Allen Anrainerstaaten Grund zur Beunruhigung gibt das zunehmende Interesse Chinas an der Region aufgrund der neuen Handelswege und Rohstoffvorkommen, die das schmelzende Eis freigibt. Die Bezeichnung als „Near Arctic State”, die China für sich geschaffen hat sowie die geplanten milliardenschweren Investitionen verdeutlichen Pekings Vorhaben in der Region.
Der Elefant im Arktis-Raum ist Sicherheitspolitik
Auch wenn Umweltpolitik aufgrund des Klimawandels ein zentrales Thema bleibt, mit dem sich die arktischen Staaten beschäftigen, sicherheitspolitische Fragen zu ignorieren wird kaum mehr lange möglich sein.
Die steigenden Territorialansprüche und die zunehmende Militarisierung der Region bergen jedenfalls ein gefährliches Konfliktpotential. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Gefahr von Umweltkatastrophen in Folge eines nuklearen Unfalls, die aufgrund des in der russischen Arktis stationierten Atomwaffenarsenals durchaus gegeben ist. Ein solcher Zwischenfall hätte für die Bevölkerung in der gesamten Region über den russischen Teil der Arktis hinaus ernsthafte Folgen. Ein Austausch zu militärischen Fragen macht deshalb auch aus umweltpolitischer Sicht Sinn.
Angesichts der massiven Aufrüstung Russlands im Hohen Norden wäre eine Wiederaufnahme des Dialogs zu sicherheitspolitischen Themen auch im strategischen Interesse aller Beteiligten. Die gute Nachricht: die arktischen Staaten sind Gesprächen zu militärischen Fragen unter Einbeziehung Russlands nicht grundsätzlich abgeneigt. In einem Bericht des U.S. Naval War College von 2020 etwa plädieren zahlreiche Vertreter der Militärs arktischer Staaten für eine Wiederbelebung des Dialogs. Auch das zunehmende Engagements Chinas in der Arktis, das für alle Anrainerstaaten gleichermaßen eine Herausforderung darstellt, ist ein Grund mehr, sich mit Russland an einen Tisch setzen.
Ein sicherheitspolitischer Dialog zwischen den arktischen Staaten könnte helfen, mehr Transparenz und Vertrauen zu schaffen, um letztlich eine mögliche Verschärfung der Spannungen mit dem Risiko einer Eskalation zu verhindern. Der Vorschlag Russlands, Treffen zwischen Militärexperten aus den arktischen Staaten zu organisieren, könnte ein erster wichtiger Schritt sein, den sicherheitspolitischen Dialog zur Arktis wiederzubeleben.