Bekanntlich und wie auch von Militär Aktuell berichtet sollen alle US-Truppen Afghanistan bis zum 11. September unter den Bedingungen eines von der Trump-Regierung im Februar vergangenen Jahres mit den radikalislamischen Taliban verhandelten Abkommens verlassen. Wie in diversen US-Medien bereits seit Wochen thematisiert, werden nun US-Beamte bis Ende dieses Monats auch mit der Evakuierung afghanischer Verbündeter, Helfer und ihrer Familien in vorerst einen oder mehrere sichere(n) Drittstaat(en) beginnen. Dort sollen ihre Visumanträge für die USA bearbeitet werden.
Wie von einem US-Regierungsbeamter gegenüber Military Times bestätigt, machte die Administration von Präsident Joe Biden die „Operation Allies Refuge” am 14. Juli offiziell (siehe Bericht). Tracey Jacobsen, ehemalige US-Botschafterin im Kosovo, wird die Bemühungen beaufsichtigen. Personal des Verteidigungsministeriums und des Heimatschutzministeriums wird bei den Evakuierungen von Übersetzern, Fahrern, Sicherheits- und anderem Personal helfen, die in den vergangenen 20 Jahren mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben und nun folgedessen mit Sanktionen rechnen müssen, wenn sich die amerikanischen und westlichen Streitkräfte aus dem Land zurückziehen und – wie offenbar auch von den USA erwartet – die Taliban das Land früher oder später (wieder) übernehmen sollten. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, formulierte es so: „Ziel der neuen Operation sind Personen die berechtigt sind, vor dem vollständigen Abzug der Truppen Ende August aus dem Land verlegt zu werden.” Jener sei bereits zu 95 Prozent abgeschlosssen.
Mehr als 18.000?
Soviele afghanische Staatsangehörige sollen sich – teils schon länger – über das „Special Immigrant Visa”-Programm (SIV) des US-Außenministeriums beworben haben, US-Bürger zu werden. Da dieser Prozess um ein reguläres Einwanderungsvisum aber in der Regel Jahre dauert, befürchteten bei einigen Kundgebungen – unter dem Slogan „Lost in Translation” – viele Bewerber, dass sie dann nicht mehr am Leben sein würden. In Folge sagte ein hochrangiger Verwaltungsbeamter, dass „wir die Verpflichtung des Präsidenten erfüllen werden, noch in diesem Monat mit Flügen zu beginnen.” Er stellte aber fest, dass viele Details des Programms, wie beispielsweise wann wieviele Flüge abfliegen und genau wie viele Personen vorerst und wohin evakuiert werden, aus Sicherheitsgründen nur begrenzt bekannt gemacht würden.
US-Sprecher John Kirby erläuterte gegenüber Military Times dass die Beamten jener Ministerien anhand des Informationsdatenpools jenen helfen werden, „von denen wir wissen und bei denen wir verifiziern können, dass sie in den vergangenen 20 Jahren mit uns zusammengearbeitet haben. Und das muss nicht nur an Übersetzer und Dolmetscher gebunden sein.”
Ein damit zwischen den Zeilen angesprochenes Problem scheint aber zu sein, dass die einzelnen Einheiten oder US-Behörden, die Afghanen vor Ort beschäftig(t)en, nicht immer die genauesten Aufzeichnungen geführt haben. Die Konsequenzen sind zweifach: Die Amerikaner wissen nicht wirklich genau, wie viele Afghanen mit ihren Truppen und in der Verwaltung zusammengearbeitet haben und sie können nicht immer die – oft länger zurückliegende -–Beschäftigung derjenigen überprüfen, die den SIV-Prozess bereits begonnen haben. In den offenbar nur wenigen verfügbaren Wochen öffnet sich daher eine Schere – denn einerseits erzählen Betroffene Reportern, dass sie bereits Morddrohungen der Taliban erhalten hätten, andererseits muss vermieden werden, dass Letztere hier Personen einschleusen.
Ex-Präsident Bush bezeichnet Rückzug als Fehler
Gegenüber Reportern der Deutschen Welle äußerte der ehemalige US-Präsident George W. Bush, der 2001 nach dem 11. September den Afghanistan-Einsatz begann, anläßlich des letzten offiziellen Besuch der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel in den USA, seine Sorge besonders hinsichtlich der dortigen Frauen und Mädchen (siehe Bericht). Auf die Frage, ob der Rückzug ein Fehler sei, antwortete George W. Bush: „Wissen Sie, ich denke, das ist es, ja, weil ich denke, dass die Folgen unglaublich schlimm sein werden. Frau Merkel hat den Einsatz in Afghanistan zum Teil auch deshalb unterstützt, weil sie die Fortschritte gesehen hat, die für junge Mädchen und Frauen in Afghanistan gemacht werden konnten. Es ist unglaublich, wie sich diese Gesellschaft seit der Brutalität der Taliban verändert hat, und plötzlich scheint es sehr traurig – ich habe Angst, dass afghanische Frauen und Mädchen wieder weitgehend in ihren Häusern eingesperrt werden und Mädchen keinen Zugang zu Bildung mehr erhalten. Laura (Bush) und ich haben viel Zeit mit afghanischen Frauen verbracht und sie haben nun wieder Angst, dass die Steinzeit zurückkehrt in der sie nur Ware und nicht wertvoller als Haustiere sind.”
Reflektionen zu Saigon 1975
Die nun gestartete Rettung beziehungsweise Evakuierung ist – auch wenn erwartbar wohl weniger chaotisch da zahlenmäßig weit kleiner – für die Amerikaner leider nichts Neues. In Folge des Falls von Saigon an die siegreichen kommunistischen Truppen des Nordens kamen 1975 über 125.000 Vietnamesen (und danach über eine Millione als sogenannte „Boat-People”) in die USA, von denen auch viele beziehungsweise deren Eltern zuvor in irgendeiner Weise für die US-Armee tätig waren und mit ihr zusammengearbeitet hatten. Militär-Aktuell Autor Georg Mader hält seit 2002 Kontakt zu Young A. Le, der als Kind mit seiner Familie aus Vietnam herauskommen konnte und – wenn auch erfolglos – viele Jahre später als Sales Manager von Lockheed-Martin an Österreich F-16/52 verkaufen sollte. Er hat damals recht eindrücklich erzählt, wie seine Eltern von ihrer aller erwartbarem Tod oder mindestens jahrelanger Trennung und Verschleppung überzeugt waren, wenn es mit den US-Papieren nicht geklappt hätte. Das dürfte den nun geschilderten Gefühlen und Befürchtungen im heutigen Kabul recht nahe kommen.