Immer wieder wurde in der Vergangenheit hierzulande das neutrale Irland als Beispiel herangezogen, wenn es darum ging, die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer eigenen aktiven Luftraumüberwachungskomponente zu diskutieren. Obwohl der von Irland kontrollierte Luftraum weit westlich hinaus auf den Atlantik reicht und damit in seiner Größe nicht mit dem heimischen Luftraum vergleichbar ist, haben sich im Laufe der Jahrzehnte die irischen Regierungen bewusst dafür entschieden, keine der oft knappen Ressourcen für dessen aktive Kontrolle auszugeben. Vielmehr verließen sie sich auf eine bis heute streng vertrauliche Vereinbarung mit der britischen Regierung zur Bewältigung allfälliger Krisensituationen.
Eine klaffende Lücke
Nun hat sich die irische Luftfahrtbehörde (IAA) jedoch offenbar zum ersten Mal – und zwar öffentlich – in einer Vorlage an die von der Regierung ernannte Kommission für Verteidigung mit dieser Frage befasst. Darin fordert die Behörde, die die Sicherheit der Luftfahrt in Irland fördert und reguliert, dass das irische Militär „voll in der Lage sein sollte, potenzielle hoheitliche Luftraumverletzungen sowie das Ignorieren der Kontrollzonen im nationalen Luftraum aufzudecken und selbst darauf zu reagieren”. Wörtlich heißt es: „Es besteht eine klaffende Lücke, wir haben praktisch keine Kapazitäten, um unseren Luftraum zu überwachen. Der Staat kann nicht erkennen, wer in seiner Region fliegt, es sei denn, die Flugzeugbesatzung alarmiert die Behörden aus irgendwelchen Gründen aktiv selbst. Das irische Militär und das Aer Chór na hÉireann (Irish Air Corps) haben keine luftpolizeilichen Fähigkeiten.”
Russische Bomber als Auslöser
Grund für den aktuellen Kurswechsel dürfte laut „Irish Times” die irische Verärgerung darüber sein, dass – zum dritten Mal in einer Woche und wie schon etliche Male in den vergangenen Jahren – drei Typhoon der britischen RAF aus Schottland russische Langstreckenbomber abgefangen und aus der Shanwick-Kontrollzone begleitet haben, ohne die IAA beziehungsweise das irische Militär am Laufenden zu halten. Seit etwa 2007 haben die russischen Fernfliegerkräfte ihre Patrouillen vom Nordkap kommend und um die britischen Inseln herum wieder aufgenommen, manchmal fliegen sie auch in die Nordsee bis vor die dänische Küste – oder auch weiter nach Kuba oder Venzuela. Das im Kalten Krieg „normale” Katz-und-Maus Spiel mit dem Antesten der Reaktionszeiten der westlichen (NATO)-Jets lebt seitdem wieder auf, ähnlich wie es das auch entlang des Baltikums tut.
Die Tu-95M Bear oder Tu-160 Blackjack fliegen zwar nicht in irisches Hoheitsgebiet ein, kreuzen aber die Kontrollzone des von irischen Behörden kontrollierten Luftraums – und das üblicherweise ohne Transpondersignal und manchmal mit kilometerlang hinterher geschleppten SIGINT-Antennen. All das ergibt regelmäßig flugsicherheitsrelevanten „Stress” für Verkehrsflugzeuge auf den stark frequentierten Flugrouten – etwa 80 Prozent aller Transatlantikflüge passieren den von Irland kontrollierten Luftraum. Manche Maschinen müssen als Folge von der der Flugsicherung umgeleitet werden, Starts werden verzögert. Anzumerken ist zudem, dass Irland nicht nur ein Flugzeug fehlt, welches selbst abfangen kann, sondern auch das einzige Land an der Westküste Europas ist, das über kein Primärradarsystem (à la Goldhaube) verfügt. So kann nicht einmal festgestellt werden, ob nicht (mehr) korrespondierende Ziele nicht doch in den eigentlichen (hoheitlichen) Luftraum hineinfliegen. „Wir wissen es nicht, der Staat weiß nicht was da läuft”, so ein pensionierter Offizier gegenüber der „Irish Times”.
Jahrelang „weggeduckt”
In der Vergangenheit wurde all das regelmäßig beschönigt, meist mit der Begründung, dass es zu teuer wäre etwas dagegen zu tun. Als irische Militärs und Beamte vor einigen Jahren einen Entwurf des Weißbuchs zur Verteidigung verfassten, kamen sie zu dem Schluss, dass die irischen Streitkräfte über Fähigkeiten in allen Bereichen verfügen müssten. Man könne Schiffe in See stechen lassen und Bodentruppen in Irland und in Verlegung an weit entfernten Orten einsetzen. „Theoretisch war das Militär also in der Lage, auf jede Bedrohung der Sicherheit des Staates zu reagieren”, sagte ein ehemaliger Offizier, der an dem Prozess beteiligt war – „außer in der Luft”. Als im August 2015 das 143-seitige Weißbuch erschien, beschränkte sich die Erwähnung dieser nun „klaffenden Lücke” jedoch auf einen einzigen Satz und man versprach, das Thema „zu einem späteren Zeitpunkt” zu untersuchen. Bei der Aktualisierung des Weißbuchs im Jahr 2019 beschränkte sich die Angelegenheit dann allerdings wieder nur auf die einzige Zeile der To-Do-Liste: „Erwägen Sie die Entwicklung einer leistungsfähigeren Luftkampf-/Abfangfähigkeit im Rahmen der Aktualisierung des Weißbuchs.” Status: „Noch nicht begonnen.”
Offenbar haben in der Vergangenheit auch die Briten Irland über diplomatische und militärische Kanäle informell „genuggt”, seine Fähigkeitslücke zu stopfen, die ein britischer Offizier zum Autor vor Jahren als „schwarzes Loch in der Luftverteidigung Westeuropas” bezeichnet hat. Dennoch hat sich diesbezüglich in Irland eine „rundgespülte” Sprachregelung etabliert, mit der die Streitkräfte darauf achten (müssen), Bevölkerung und Politiker nicht mit der Forderung nach einer Luftverteidigung zu verängstigen. Vielmehr sprechen Beamte gern von „Luftraumpolizei”. „Luftraumpolizei ist eher friedensorientiert und befasst sich mit Problemen wie abtrünnigen Flugzeugen und dem illegalen Import von Drogen – eine fast zivile Funktion, die mehr oder weniger zufällig von Militärs wahrgenommen wird”, sagte eine Militärquelle nun zur „Irish Times”.
Mehr „Luftgangster”?
Nicht kooperierende russische Flugzeuge sind vielleicht der aktuelle Anlass, aber es gibt laut Irish Air Corps und der Irish Gardaí auch noch andere. Das Fehlen eines Primärradars verhindert auch, dass die zivile Flugsicherung beziehungsweise die IAA ein möglicherweise entführtes Verkehrsflugzeug mit ausgeschaltetem Transponder entdecken und weiterverfolgen kann. Und selbst wenn es entdeckt würde, wäre die Flotte des Air Corps mit ihren acht leicht bewaffneten Propellertrainern PC-9M (Ausmusterung ab 2025) nicht in der Lage, die Geschwindigkeit oder Höhe zu erreichen, die erforderlich ist, um einer solchen Bedrohungen zu begegnen. Noch weniger offiziell diskutiert wird der Einsatz von Privatflugzeugen durch Kriminelle, um Drogen und Waffen unentdeckt auf kleine Flugplätze zu fliegen – eine Sorge, die im Laufe der Jahre von Offizieren des Air Corps und Gardaí hervorgehoben wurde: „Es gibt einige Geheimdienstinformationen, die darauf hindeuten, dass die Aktivitäten solcher ‚Luftgangster’ immer häufiger werden”, sagte erst diese Woche eine hochrangig mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität befasste Quelle.
Wozu könnte man sich durchringen?
2020 schätzte der ehemalige Commander des Irish Air Corps, Ralph James, dass Irland 16 Kampfjets benötige, von denen für jedes drei fliegende und drei Boden-Besatzungen vorhanden sein müssten, um eine echte 24/7-Reaktionsfähigkeit auf Bedrohungen zu bieten. „Aber Flugzeugsysteme sind ohne die unterstützenden Systeme nichts wert. Also das Radarsystem, die Flugmeldesysteme und die Geheimdienstebene, um Bedrohungen zu bewerten. Und dann noch die Dinge wie Flugsicherung, Feuerwehr und so weiter, das alles wird gern vergessen”, so James. Er hat im Lauf der Jahre Zahlen zu den Kosten für all dies zusammengestellt. Nach seinen Schätzungen würde es kurzfristig mehr als eine Milliarde Euro kosten, also so viel wie der gesamte aktuelle jährliche irische Verteidigungshaushalt.
Laut einer anderen – offiziell nicht veröffentlichten – Vorlage eines anderen pensionierten leitenden Air Corps Offiziers an die erwähnte Verteidigungskommission könnte Irland hingegen mit einer Anfangsinvestition von weniger als 40 Millionen Euro pro Jahr eine Luftpolizeikapazität aufbauen. In dem Fall müsste man auf leichte Kampfflugzeuge (mit Radar) wie die italienische M346FA setzen, mit Gesamtkosten von rund 20 Millionen Euro pro Jahr über eine Lebensdauer von 25 Jahren. Diese Überschallflugzeuge könnten 90 Prozent der Fähigkeiten ihrer weit teureren Cousins zu einem Bruchteil der Kosten bereitstellen und man würde eine angemessene, wenn auch begrenzte Fähigkeit zur Luftpolizei bereitstellen können. Jeder Kauf müsste aber mit Primärradarsystemen kombiniert werden, die etwa 36 bis 40 Millionen Euro kosten würden, heißt es. Die „Irish Times‘”hat dazu erfahren, dass die Streitkräfte bereits vor drei Jahren Vorschläge von drei Herstellern (Thales, Saab und Northrop Grumman) für ein bis drei militärische Radareinheiten erhalten haben. Jede Einheit würde zwischen 15 und 20 Millionen Euro kosten und in der Lage sein, alle Flugzeuge innerhalb einer Reichweite von 450 Kilometern zu erkennen.
Luftpolizeisteuer?
Auch zur Finanzierung all dessen kommen nun innovative Ideen: „Die Kosten könnten bestritten werden, indem den Fluggesellschaften eine zusätzliche Gebühr für die Nutzung des irischen Luftraums in Rechnung gestellt wird”, sagte der ehemalige Offizier und verglich sie mit den Gebühren, die Banken an das Militär für bewaffnete Bargeldeskorten zahlen. „Ein solches Finanzierungsmodell, das auf kommerziellen Einnahmen beruht, könnte alle Schulden, die zur Finanzierung einer Luftpolizeikapazität nötig wären, aus der Bilanz des Staates entfernen. Eine solche Kapitalstruktur wäre hocheffizient und könnte ein Beispiel für noch breitere Anwendungen im Fiskus sein.”
In einem Interview – ebenfalls mit der „Irish Times” – sagte Verteidigungsminister Simon Coveney, Irland müsse „Entscheidungen innerhalb eines angemessenen Maßes an Ressourcenverfügbarkeit treffen, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Wir hatten uns entschieden, keine Kampfjets zu haben und ja, es stimmt, damit hat Irland nicht die Fähigkeit sich in der Luft so zu verteidigen wie viele andere Länder. Wir haben uns stattdessen dafür entschieden, einer Marineflotte Priorität zu geben, einer Armee die hauptsächlich für die Friedenssicherung und andere wichtige Dienste eingesetzt wird.” Er sagte jedoch, er sei bereit, alle nun jüngsten und ehrgeizigen Empfehlungen der Kommission für die Streitkräfte zu berücksichtigen. „Ich habe deren Vorsitzenden Aidan O’Driscoll gesagt, wenn es neue Fragen gibt, die neue Antworten brauchen, die auch radikale Lösungen erfordern, scheuen Sie sich nicht, sie vorzubringen! Die Regierung wird mit den Folgen davon fertig werden und sie umsetzen müssen, wenn es nach neueren Erkenntnissen unumgänglich erscheint.”