Erst vor einem Monat hat Militär Aktuell mit Severin Pleyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Helmut Schmidt Universität und Experte für nukleare Kriegsführung, über einen möglichen russischen Atomwaffeneinsatz im Ukraine-Krieg gesprochen. Angesichts der vor wenigen Tagen geänderten russischen Nukleardoktrin und dem erstmaligen Einsatz einer ballistischen Intermediate-Rakete gegen ein Ziel in der Ukraine, haben wir nun nochmals nachgefasst: Herr Pleyer, welchen Zweck verfolgt Russland mit dem Einsatz der Waffe?
Die Ausgangslage
Am 25. September gab der – seit 1.000 Tagen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führende (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) – russische Präsident Wladimir Putin Einblicke in die Änderungen der schon länger erwarteten neuen russischen Nukleardoktrin. An dem im russischen TV übertragenen Treffen nahmen neun hochrangige Beamte teil, darunter Verteidigungsminister Andrej Beloussow, Leiter der Sicherheitsbehörden und Chefs von Rosatom und Roskosmos, staatlichen Unternehmen, die mit dem nationalen Atom- und Raumfahrtprogramm beauftragt sind.
Putin erklärte, dass die „nukleare Mission ausgeweitet” werde, und stellte dabei mehrere Änderungen zur vorherigen Doktrin von 2020 vor. Obwohl die neue Version seit zwei Monaten bekannt ist, wurde sie bisher nicht offiziell als politisches Dokument veröffentlicht. Putins Aussagen spiegeln jedoch die Haltung des Kremls in nuklearen Fragen wider. So betonte etwa Vize-Außenminister Sergej Rjabkow Anfang September, dass Russland seine Doktrin als Reaktion auf die westliche Unterstützung im Ukraine-Krieg anpasse.
Die überarbeitete Doktrin könnte nicht nur zur Abschreckung dienen, sondern auch darauf abzielen, europäische Verbündete und deren „postheroische” Gesellschaften zu verunsichern oder zu spalten. Ziel wäre es, das Risiko, das sie bereit sind, zur Unterstützung der Ukraine einzugehen, gezielt zu beeinflussen.
„Eine nach innen gerichtete Kommunikation der Stärke“
„Die Details der neuen Nukleardoktrin sind nach wie vor nicht bekannt”, so Severin Pleyer im Gespräch mit Militär Aktuell. „Viele der aktuellen Aussagen von Wladimir Putin und seinem Außenminister sind immer noch sprachlich deckungsgleich mit der Nukleardoktrin von 2020. Schon damals wurde zum Beispiel die Bedrohung mit konventionellen Langstreckenwaffen deutlich hervorgehoben. Die Aussage, dass konventionelle Angriffe mit nuklearen Wirkmitteln beantwortet werden können, ist eine Ausformulierung der bereits bestehenden Einsatzgrundsätze der russischen Föderation.”
Pleyer weiter: „Eine wesentliche Neuerung findet sich jedoch in der Aussage: ,Aggression eines Nicht-Atomwaffenstaates unter Beteiligung oder Unterstützung durch einen Atomwaffenstaat’. Bisher galt der Grundsatz keine Nuklearwaffen gegen einen Nicht-Nuklearwaffenstaat einsetzen zu wollen. Aber letztendlich, ist die Ankündigung der neuen Nukleardoktrin zuerst einmal eine nach innen gerichtete Kommunikation der Stärke.”
Ersteinsatz der strategischen Waffe
Der erste Einsatz einer ballistischen Intermediate Rakete RS-26 Rubesch beziehungsweise eines darauf basierenden Hyperschall-Derivats – ohne nukleare Gefechtsköpfe – gegen eine Anlage bei Dnipro durch Russland scheint für Pleyer „ein Versuch zur Wiederherstellung der Abschreckung” zu sein. „Durch die zu oft wiederholte Rhetorik und die Überschreitung vieler gesetzter roter Linien durch die Ukraine, hat sich die russische Föderation wohl dazu veranlasst gesehen, die Glaubwürdigkeit beziehungsweise Bereitschaft ihres Arsenals wiederherzustellen.”
Dabei dürfte auch der Ende September fehlgeschlagene Start einer RS-28 Sarmat, der stärksten Interkontinentalrakete der Welt, eine Rolle gespielt haben. Die vielfach auch als „Weltzerstörer-Rakete” bezeichnete RS-28 explodierte am Weltraumbahnhof Plessek vollgetankt noch in ihrem Startsilo. Weniger Zusammenhang sieht Pleyer mit dem durch die USA, Großbritannien und Frankreich freigegebenen Einsatz weitreichenderer ATACAMS- und Storm Shadow-Raketen.
„RS-26 Rubesch war auch schon länger durch westliche Geheimdienst als eine Waffe identifiziert worden, die gegen den bereits aufgekündigten INF-Vertrag verstoßen würde”, so Pleyer gegenüber Militär Aktuell. „Somit ist der Einsatz als Kommunikation in Richtung der NATO zu verstehen. Diese soll ‚im Risiko’ gehalten werden.”
Pentagon widerspricht Putin’s Sprecher
„Ich kann bestätigen, dass Russland eine experimentelle Mittelstreckenrakete gestartet hat”, beantwortete die stellvertretende Pressesprecherin des Pentagon, Sabrina Singh, am 21. November auf einer Routine-Pressekonferenz eine explizite Frage. „Diese IRBM basiert auf dem russischen Interkontinentalraketenmodell RS-26 Rubesch”. Singh fügte hinzu, dass die US-Regierung 30 Minuten im Voraus über die Kanäle der nuklearen Risikominderung über den Start informiert worden sei. Damit widerspricht sie Aussagen von Dmitri Peskow, dem Sprecher Putins, der sagte, dass Russland „nicht verpflichtet” sei, eine solche Benachrichtigung für den Start von Mittelstreckenwaffen vorzunehmen.
Neue Doktrin gilt auch für Belarus
Noch einmal zurück, zur vorhin bereits erwähnten Sitzung vom 25. September. Damals hieß es, dass Russland eine nukleare Vergeltung in Betracht ziehen werde, „wenn es die Information über einen massiven Angriff mit Luft- oder Weltraumangriffswaffen und deren Überschreiten der Staatsgrenze erhält”. Putin präzisierte, dass dabei Angriffe „mit strategischen und taktischen Flugzeugen, Marschflugkörpern, unbemannten Luftfahrzeugen (UAV) und Hyperschallwaffen sowie anderen Flugzeugen” gemeint seien.
Bemerkenswert dabei: Die Doktrin schließt auch Belarus formell mit ein und besagt, dass „nukleare Vergeltung als Antwort auf einen Angriff auf Russland oder Belarus eingesetzt werden kann, auch wenn der Feind mit konventionellen Waffen angreift”.