Die ostukrainische Millionenstadt Dnipro hatte am Donnerstag das äußerst zweifelhafte Vergnügen, als erste Stadt in die Geschichte einzugehen, die von Mehrfachgefechtsköpfen (konventionell) einer Interkontinentalrakete getroffen wird.
Als Antwort auf die Freigabe westlicher Abstandslenkwaffen für Ziele in Russland (mutmaßlich beschränkt auf den Operationsraum Kursk) hat Russland heute eine Rakete, vermutlich der Type RS-26 Rubesch, auf Dnipro abgefeuert.
Der vermutete Startort ist die russische Oblast Astrachan, welche sich am Kaspischen Meer an der Grenze zu Kasachstan befindet. Von dort aus verließ die Rakete die Erdatmosphäre, stieg in ballistischer Flugbahn weit über die Orbithöhe der ISS-Raumstation, bevor die abgetrennten Gefechtsköpfe nahezu senkrecht vom Himmel fielen – die Flugzeit betrug alles zusammen rund fünf Minuten.
Um 05.17 Uhr Ortszeit (04.17 Uhr mitteleuropäischer Zeit) schlugen die Gefechtsköpfe dann binnen weniger Sekunden in sechs Gruppen ein, möglicherweise gepaart mit Täuschkörpern gegen Raketenabwehrsysteme (-> Eine kleine Geschichte der Raketenabwehr).
RS-26 Rubesch im Detail
Beim System RS-26 handelt es sich um eine mobil stationierte, mittelschwere feststoffgetriebene, dreistufige Interkontinentalrakete mit einem Startgewicht von rund 36 Tonnen. Die Rakete wurde vor rund 20 Jahren entwickelt und absolvierte 2012 ihren ersten erfolgreichen Flug. Die bekannten Testflüge erstreckten sich über Distanzen von 2.000 bis 5.800 Kilometer, womit sie vorerst in die Klasse der „Medium-range ballistic missiles” (MRBM) eingeordnet wurde.

RS-26 kann mit mehreren nuklearen oder konventionellen Gefechtsköpfen bewaffnet werden – sogenannten „Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles” (MIRV).
Transportplattform ist ein schwerer 16×16 Lkw der Type MZKT-79221. Das knapp 20 Meter lange Fahrzeug wiegt beinahe 40 Tonnen, ist nur 45 km/h schnell und hat eine Reichweite von rund 500 Kilometern.
Russische und westliche Antworten in der Eskalationsspirale
Eine Rakete dieser Größenordnung kam bislang noch in keinem militärischen Konflikt zum Einsatz. Es ist Russlands Antwort auf die jüngsten ukrainischen Angriffe mit ATACMS-Raketen und Storm Shadow-Lenkflugkörpern (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) auf Ziele in der russischen Oblast Kursk und Bryansk.
Am Dienstag, dem 1.000 Tag seit Beginn der russischen Invasion, hatte die Ukraine acht ATACMS-Raketen auf das russische Munitionsdepot Karatschew, Oblast Brjansk geschossen (67. Arsenal der Hauptverwaltung für Raketen und Artillerie/GRAU). Zwei Tage nachdem US-Präsident Joe Biden den Einsatz dieser Waffen erlaubt hatte, dies als Antwort auf das Auftreten nordkoreanischer Soldaten in der Region.

Am Mittwoch folgte dann ein ukrainischer Angriff mit englisch-französischen Storm Shadow-Lenkflugkörpern auf ein Ziel im Dorf Marino in der russischen Oblast Kursk. Dabei soll es sich um den wichtigsten russisch-nordkoreanischen Kommandobunker für den Operationsraum Kursk gehandelt haben.
Ebenfalls am Dienstag hat der russische Präsident Wladimir Putin erneut ein Dekret zur Abänderung der russischen Nukleardoktrin unterzeichnet. Der Zufolge „eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Nuklear-bewaffneten-Staat, aber mit der Beteiligung oder Unterstützung eines Nuklear-bewaffneten-Staates, künftig als gemeinsamer Angriff auf Russland betrachtet werden kann” (-> siehe auch unser 5-Fragen-an-Interview mit Experte Severin Pleyer von der Helmut Schmidt Universität).
Immer mehr Abstandswaffen
Russland und die Ukraine stecken inzwischen in einer so noch nie dagewesenen, permanenten „Abstandslenkwaffen-Schlacht”.
Trotz Sanktionen gelingt es Russland die Produktion von Cruise-Missiles wie der Kh-101 (X-101/NATO: AS-23 Kodiak) zu steigern und an die für den Bau der Raketen benötigten westlichen Computerchips zu kommen. Die Lenkwaffe wird vom Langstreckenbomber Tupolew Tu-95 Bear getragen und hat eine Reichweite von 3.500 Kilometer.
Gleiches gilt für die aerobalistischen Hyperschallraketen vom Typ Khinshal, die von der MiG-31 aus abgefeuert werden.
Dramatisch der Anstieg, der in Russland als Geran-2 bezeichneten, ursprünglich iranischen Shahed Drohne. Die Produktion der im Soldatenjargon als „Moped” bezeichneten, mit Kolbenmotor und Propeller angetriebenen Fernwaffe hat längst die 1.000 Stück pro Monat überschritten und geht großteils unmittelbar in den Einsatz.
Die Ukraine steht dem kaum nach. Neben den vom Westen zur Verfügung gestellten hochpräzisen und teuren Lenkwaffen produziert die Ukraine eine ganze Reihe eigener „Mopeds” und bereits auch schnelle Langstrecken-Drohnen mit Jetmotor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj hat zuletzt angekündigt, dass die Ukraine 2025 zumindest 30.000 Langstreckendrohnen und 3.000 Langstreckenraketen produzieren wird.
Die Strategie, die beide Seiten in dieser Fernwaffenschlacht verfolgen, ist es, die Raketen-Abwehrkapazitäten des jeweiligen Gegners in Raum und Zeit zu übersättigen, um die gewünschten hochwertigen Ziele weit hinter der Frontline zu treffen.