Gerade einmal etwas mehr als fünf Prozent der Weltbevölkerung leben in Südamerika, aber jeder dritte (an oder mit) Covid-19-Tote weltweit ist in dieser Region zu beklagen. Alleine das größte südamerikanische Land Brasilien zählte mit Stand vom 2. Juni mehr als 463.000 Corona-Tote und liegt damit in den Statistiken weltweit an zweiter Stelle hinter den USA. Auswirkungen hat das natürlich auch auf die Wirtschaft des Landes, Brasilien steht vor einer der schlimmsten wirtschaftlichen Rezessionen in seiner Geschichte. Millionen bleiben arbeitslos (14,7 Prozent), die Inflation steigt, unzählige Unternehmen gehen unter und mehr Menschen hungern. Staatschef Jair Bolsonaro sieht die Pandemie bis heute aber nur als „kleine Grippe” und scheut sich vor Lockdowns, mit seinen 212 Millionen Einwohnern rutscht Brasilien aber gerade in eine dritte Welle. Und wegen der brasilianischen Virus-Variante P1 prognostizieren (manche) Virologen, dass Siedlungsstruktur und ein schwaches Gesundheitswesen (nur 9,2 Prozent der Bevölkerung sind vollständig immunisiert) den idealen Nährboden für neue Mutationen böten.
Wie auch in Europa seit Beginn der Krise erwartet, rücken vor diesem ernüchternden ökonomischen Hintergrund auch die – von Teilen der polit/medialen Öffentlichkeit oft sowieso als zu hoch, unnötig oder gar unanständig empfundenen – Verteidigungsausgaben in den Fokus der mit der Bewältigung der wohl düsteren Periode beauftragten, absehbar aber auch überforderten Finanzminister. Kurzfristige Budgetkosmetik hin oder her.
Airchief stellt sich Realitäten
In Brasilien hat man nun Klartext gesprochen und bereits ganz konkrete Auswirkungen des durch Covid ausgelösten Wirtschaftsabschwung benannt. Der Kommandant der brasilianischen Luftwaffe (Força Aérea Brasileira, kurz FAB), General (Tenente Brigadeiro) Carlos de Almeida Baptista Jénior, hat am 1. Juni in einem langen Gespräch mit dem Magazin Valor angekündigt, dass unter anderem die geplanten zweistrahligen Jet-Transporter KC-390 nicht in der geplanten Anzahl von 28 Stück kommen werden. Im längerfristigen Ansatz soll aber – vor diesem Hintergrund vielleicht überraschend – die Stückzahl der gerade in Truppen-Einführungstests kommenden 36 Saab Gripen-E/F eventuell sogar verdoppelt werden. Zudem werden große Transport/Tankflugzeuge gesucht.
Keine Putschgefahr
General Baptista ist erst seit zwei Monaten im Amt. Schon vor 22 Jahren wurde übrigens sein Vater als Präsident des Obersten Militärgerichts von Präsident Cardoso kurzerhand zum Luftwaffenchef gemacht. Beiden Vorgängen gingen Proteste der höchsten Offiziere gegen – das stets mehr oder weniger unruhige – Militär betreffende politische Beschlüsse voran. Und auch Bolsonaro hat Anfang April nach Kritik an seinem Krisenmanagement und seinem Umgang mit der Armee bezüglich regionaler Lockdowns den Verteidigungsminister und alle drei Befehlshaber der Teilstreitkräfte neu besetzt beziehungsweise besetzen müssen. Angesprochen auf diese „militärische Intervention” und einen möglichen Putsch, unterstrich Baptista bei seiner Amtseinführung dem Präsidenten versichert zu haben, sich strikt anhand des Verfassungsartikels 142 zu bewegen. Jener gestattet und regelt den internen Einsatz des Militärs, um Recht und Ordnung zu garantieren.
Nur mehr halb soviele KC-390
„Für dieses Jahr haben wir nur 50 Prozent der Mittel für KC-390- und die Gripen-Finanzierung erhalten”, so der General. Und díeser Zustand wird – er nannte es Haushaltsrealitäten – wohl noch länger so bleiben, zumindest habe er das einzukalkulieren. Die FAB sei vor der Pandemie insgesamt 170.000 Stunden im Jahr geflogen, heuer würden es nur 120.000 sein. Es gibt aber keine Möglichkeit, die Pilotenausbildung zu strecken, zu unterbrechen oder auszulagern – das ruiniere wertvolle Humanressourcen. Es gehe also um Prioritäten rund um ein Problem, das die Gesellschaft angesichts von Bedürfnissen wie Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und eben Streitkräfte nur schwer lösen kann. All das habe ihn dazu bewogen, mit dem nationalen „Big Player” Embraer den Vertrag über die geplante Lieferung von 28 KKC-390-Flugzeugen neu auszuhandeln oder zu stückeln.
Der große und top-moderne Zweistrahler-Hochdecker-Frachter/Tanker der FAB wurde in Partnerschaft mit ihr und dem Unternehmen entwickelt, in einem Projekt das im Jahr 2009 gestartet und von der brasilianischen Regierung subventioniert wurde. Damals zu einem Volumen von umgerechnet gut einer Milliarde Euro. Bisher wurden vier Flugzeuge an die FAB (1° Grupo de Transporte de Tropa 1°GTT „Esquadrão Zeus”, unterstellt dem Ala 2 in Anápolis) geliefert, drei sollen noch heuer folgen. Festbestellungen gibt es zudem für Portugal (fünf Maschinen) und Ungarn (2+1 Option). Embraer hat angeblich zudem internationale Absichtserklärungen für 33 weitere Flugzeuge. In den nächsten drei Monaten soll die nun reduzierte brasilianische Stückzahl einvernehmlich ausverhandelt werden, laut General Baptista wird jene wohl zwischen 13 und 16 liegen. Weniger wären, wie er sagte, „unanständig”, denn für zwölf FAB-Maschinen wären inzwischen schon verschiedene Fertigungsschritte eingeleitet worden, einschließlich der Bestellung von Rohstoffen und Langläuferteilen sowie der Triebwerke. Embraer hat inzwischen angekündigt, die Produktion ab 2022 vorerst auf zwei Maschinen im Jahr (für die FAB) zu drosseln.
Oxigênio para Manaus!
Dabei betonte der Airchief, die vorhandenen vier Flugzeuge hätten sich im Zuge der Covid-Pandemie bereits ausgezeichnet bewährt, als beim Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der Amazonas-Metropole Manaus im Jänner dringend Sauerstoff – in fast 400 Hochdruckbehältern – und Beatmungsgeräte dorthin gebracht werden mussten. Und das wurde in der halben Zeit geschafft, als das mit C-130-Transportflugzeugen möglich gewesen wäre. Auf den Rückflügen dieser Luftbrücke wurden mehr als 900 Patienten aus Manaus in ganz Brasilien umverteilt (nur zur Dimension: Der Inlandsflug Sao Paulo-Manaus ist weiter als Paris-Moskau). Dabei war die vollständige KC-390 Zertifizierung noch gar nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung von Embraer habe man das von Donnerstag bis Samstag gemacht und die KC-390 gingen – mit sehr guter Verfügbarkeitsrate – in einen Instant-Dauerbetrieb. Zugleich wurden vier andere Flugzeuge und sechs Besatzungen nach China geschickt um raschest Brasilianer aus Wuhan herauszufliegen. Kein Crew-Mitglied habe sich angesteckt, es war laut Baptista „eine durchaus erfolgreiche, ja beeindruckende Kriegsoperation”. In Summe entsteht aus den Äußerungen aber das Gefühl, die KC-390 hätten sich als so effizient, flexibel und hochgradig zuverlässig erwiesen, dass man sie jetzt ruhig reduzieren könnte.
Doppelt so viele Gripen – wegen Venezuela?
Im Gespräch mit Valor sprach General Baptista auch die Notwendigkeit an, die Beschaffung einer weiteren Tranche von Gripen-E Kampfflugzeugen von der längerfristigen Strukturplanung her einzuleiten. Ein erster Prototyp sei mit Testpiloten in Betrieb, die ersten vier der zurzeit 36 bestellten Serien-Kampfflugzeuge werden Ende 2022 ausgeliefert. Der General erwähnte bei der Gelegenheit – wohl nicht zufällig – als „Destabilisierungsfaktor” das sozialistische und unter anderem mit Su-30MV (mit niedrigem Klarstand) und S-300 russisch gerüstete, aber intern instabil bleibende Venezuela und die Präsenz russischer Truppen im „Maduro-Land”. (Anmerkung: Das reicht von Dutzenden Militärflügen über Einschleusen nicht uniformierter paramilitärischer Offiziere, bis zur Entsendung offizieller Militärberater und Assistenten für Maduro. Tu-160-Bomber flogen bereits bis nach Venezuela – siehe Bericht) Aber – so der Kommandant auf Nachfrage – ganz unabhängig von Venezuela könne man für ein Land von der Ausdehnung Brasiliens nicht bei 36 Maschinen verharren. Das wäre angeblich auch der Politik klar, Pandemie hin oder her.
Im aktuellen Gripen-Vertrag für Brasilien macht Embraer die Montage, Prüfung und die Lieferung von 15 Maschinen, der Rest kommt aus Schweden. Zudem werden die acht Zweisitzer Gripen-F zur Gänze in Brasilien entwickelt und gebaut, Schweden sieht (übrigens auch für Finnland) keine Notwendigkeit für jene (versus D-Modellen und Simulator). Seit einem Jahr sind im neuen Werk „Saab Aeron-utica Montagens„ in der Nähe von Sao PauloHeck-Konus, Vorderrumpf, Flügelkasten und F-Vorderrümpfe in Fertigung, 70 Spezialisten – davon 35 in Schweden ausgebildet – sind dort tätig. Die Endfertigung erfolgt dann im nahegelegenen Werk von Embraer in Sao Paulo und am Hauptproduktionsstandort in Linköping.
Transporter/Tanker-Nöte
2018 hat die FAB das Leasing einer Boeing-767 nicht verlängert, die vier alten KC-707 wurden 2013 abgestellt. Präsident Jair Bolsonaro hat – um auch angesichts von Covid den plötzlichen dringenden Bedarf der FAB an Lufttransportkapazität zu decken – Großbritannien als Hauptkandidat für die Veräußerung von zwei seiner Tanker/Transporter-Flugzeuge A330MRTT (Voyager in der RAF) angesprochen. Und erst letzten Monat gab der (neue) brasilianische Verteidigungsminister und ex-Armeegeneral Walter Souza Braga Netto grünes Licht für den Erwerb von zwei solchen gebrauchten Exemplaren. Direkt und ohne Ausschreibung, genannt „Programm KC-X3”. Welche RAF-Maschinen ganz oder temporär an den Amazonas gehen könnten ist noch nicht bekannt, die RAF nutzt zwei Varianten: Voyager KC2, mit einem Cobham 905E Schlauchtrommelbehälter unter jedem Flügel und die KC3, mit einer zusätzlichen dritten Station Modell Cobham 805E, im hinteren Teil des Rumpfes. Jene wird zur Betankung großer Flugzeuge wie der A400M verwendet. Die brasilianischen Militärflugzeuge AMX, F-5E oder C295 – und natürlich auch KC-390 – sind alle „Korbtanker”. Die A330MRTT gehören aber alle – trotz RAF-Markierungen – nicht der RAF, sondern dem Konsortium „Air Tanker”. Jenes vermietet sie an die RAF und stellt die täglich angeforderte Anzahl bereit. Teil von „Air Tanker” sind Airbus, Cobhan und Rolls-Royce – mit jenen werden General Baptista und Minister Netto (!) wohl ebenso reden müssen.
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