Den Taliban fielen bei ihrer raschen Rückeroberung Afghanistans auch Dutzende moderne Flugzeuge und Hubschrauber der afghanischen Luftwaffe in die Hände. Vielen Besatzungen waren mit ihren Maschinen aber auch in das Nachbarland Usbekistan geflüchtet.
Inzwischen sind die Bilder vom mit Menschen dicht gefüllten Laderaum der vor einer Woche aus Kabul nach Katar gestarteten C-17 der USAF wohl ebenso mediales „Weltkulturerbe”, wie die Aufnahmen der durch eine Menschenmenge rollenden Maschine. An deren Rumpf klammerten sich zahlreiche – freilich fliegerisch ahnungslose – afghanische Männer, von denen mindestens vier nach dem Start zu Tode stürzen. Darunter laut Medienberichten auch ein 19-jähriger Spieler der afghanischen Fußball-Nationalmannschaft.
Nun wird auch offiziell bestätigt, dass der Frachtjet tatsächlich 823 Menschen an Bord hatte, was einen neuen Rekord zumindest für die USAF bedeutet. Den Weltrekord der meisten Menschen in einem Flugzeug hält damit aber weiterhin eine Boeing 747 der israelischen ELAL, mit der im Mai 1991 in der „Operation Salomon” insgesamt 1.088 äthiopische Juden aus Addis Ababa evakuiert wurden. Die USAF erklärte, dass ihre ursprünglich nach der Zählung in Katar verlautete Zahl von 640 Menschen keine Kinder am Schoß der Eltern enthalten hatte. Inzwischen schildern den Flug bereits mehrere Passagiere, wie beispielsweise ein afghanische Journalist (siehe Video).
Die ausgeflogenen Personen waren mit US-Hilfe zur Evakuierung freigegeben worden, waren aber nicht alle auf dem offiziellen Manifest für diesen Flug, so Defense One. Die Besatzung von „Reach 871” hatte die Wahl, das Flugzeug mit nur Personen auf dieser Liste zu laden, oder zu versuchen, so viele Menschen wie möglich an Bord zu bekommen. „Es ging um Menschenleben, um die Zukunft dieser Leute und nicht um Regeln und Vorschriften – gemäß unserer Ausbildung und den Richtlinien für das Flugzeug konnten wir sicherstellen, das wir diese große Anzahl von Menschen sicher herausholen können”, sagte USAF Lieutenant Colonel Eric Kut als Kommandeur von „Reach 871” laut CNNs News Day. Die USAF hat kurz darauf durch den Chef der 18th Airforce USAF, Generalmajor Thad Bibb, bestätigt, dass die Besatzung wegen der eigenmächtigen Protokollverstöße während des Evakuierungsfluges nicht mit Disziplinarmaßnahmen rechnen müsse.
Afghanische Luftwaffe: Ausgeflogen, abgestürzt, erbeutet
Ebenfalls vorige Woche sind Dutzende der insgesamt 211 von den USA finanzierten Flugzeuge und Hubschrauber der Luftwaffe der ANDSF (Afghanistan National Defence & Security Forces, 167 Maschinen waren mit Ende Juni operationell) offenbar von ihren Besatzungen nach Termez im benachbarten Usbekistan geflogen worden. Satellitenbilder von PlanetLab vom 16. August zeigen dort 22 Flächenflugzeuge (wie zum Beispiel sechs bis acht der 23 leichten Turboprop-Erdkämpfer Embraer A-29 Super Tucano der ANDSF) sowie 26 Hubschrauber (darunter mehrere UH-60 Black Hawk und ein leichter Kampfhubschrauber MD530F Defender). Es scheinen auch mindestens fünf Cessna 208B Caravan (von denen einige AC-208 mit Hellfire beziehungsweise 70mm Advanced Precision Kill Weapon System – APKWS II – gegen Bodenziele konfiguriert waren) dabei zu sein, davon gab es bei der afghanischen Luftwaffe aber insgesamt 33 Maschinen. Auch zu erkennen sind auf den Bildern elf oder zwölf der einst 18 Pilatus PC-12/47NG Aufklärungs- und Überwachungsflugzeuge des (nun ehemaligen) afghanischen Spezialeinsatzgeschwaders SMW (US-Bezeichnung U-28A).
Während 1991 eltiche irakische Suchojs auf ihrer Flucht in den Iran von F-15 gestellt und abgeschosssen wurden, gelangten die afghanischen Maschinen weitgehend unberührt über die Nordgrenze. Ganz ohne Verluste lief es aber auch hier nicht ab: Eine A-29 beispielsweise soll während des Abfangens durch usbekische MiG-29 mit einer solchen kollidiert sein, woraufhin beide Maschinen abstürzten, allerdings alle drei Piloten ausstiegen konnten und überlebten. Angeblich hätte die Besatzung zuerst versucht nach Tadschikistan zu fliegen, als dann aber der Treibstoff knapp wurde. Eine A-29 wurde schon Tage zuvor in Kandahar von den Taliban erbeutet, zusammen mit einigen – auch von den USA finanzierten – Mi-171 (die auch bereits mit Taliban-Kämpfern unterwegs sind), zig-Tausenden Handfeuerwaffen und Hunderten von Humvee und MRAP-Fahrzeugen. Der indische Sender WION formuliert es so: „Eine weltweit als zumindest inkompetent wahrgenommene Biden-Administration hat damit den Taliban moderne militärische Ausrüstung im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar am Silbertablett serviert. Das wird sie, aber vor allem die gesamte Region noch jahrelang beschäftigen!”
Hängen gelassen – und auf Todeslisten
Zusätzlich zur obigen Aufzählung (siehe offiziell auch dieses Video), verfügte die afghanische Luftwaffe auch über vier C-130H Hercules-Transporter, von deren das Schicksal von drei jedoch unbekannt ist. Eine der Maschinen flog mit 100 afghanischen Armeeangehörigen nach Kathlon in Tadschikistan – insgesamt sind mit den Militärflugzeugen 585 Afghanen vor den Taliban geflohen. Sie sind alle (beispielsweise in unserem Nachbarland Tschechien) westlich ausgebildet, auf der AC-208 flog die erste Militärpilotin des Landes. Viele von ihnen haben in den vergangenen Jahren auf ihren Missionen insgesamt Tausende Taliban-Kämpfer getötet, sie stehen also auf den Todeslisten der Taliban wohl ganz weit oben.
In einem Beitrag von Al Jazeera aus Katar vom 19. August, beschwert sich ein ehemaliger afghanischer Hauptmann (ein Pilot oder Waffensystemoffizier – Name verpixelt) bitter darüber, dass die überwiegend von Wartungspersonal von US-Privatfirmen (Contractors) abhängige Luftwaffe in den vergangenen Monaten „schlicht verlassen” worden wäre. Der Soldat erwähnt zum Beispiel die brasilianischen Embraer A-29-Maschinen, die von der US-Firma Sierra Nevada mit US-Sensoren ausgerüstet und technisch betreut worden waren. Der Mann gibt zwar systeminheränte Unfähigkeit zu, eine ausreichende Anzahl von Piloten und Wartungspersonal nachhaltig auszubilden, um die große Abhängigkeit von ausländischen Auftragnehmern abzubauen. Aber als im Frühjahr dieses US-Spezialpersonal im Rahmen des Abzugsplans der Biden-Administration mehr oder weniger abrupt das Land verließ, ging es „in einen Sturzflug der Einsatzbereitschaft”. Dies hätte besonders die UH-60 und die AC-208 betroffen, bei ersteren sank die Verfügbarkeit von 77 Prozent im April auf 39 Prozent im Juni. Bei letzterem von 93 Prozent auf 60 Prozent. Kein Wunder, wenn von den zuvor 409 ausländischen Flugzeugtechnikern und -warten im Juli nur mehr 100 vor Ort waren. Trotzdem haben die Maschinen im Juni noch 491 Einsätze gegen die Islamisten zusammengebracht. Er und seine Kameraden wären auch bis zur letzten Stunde gegen die Taliban geflogen. Als aber Training, Aufklärung, Versorgung und Munition als kohärenter Verband kollabierten, wären viele seiner Kameraden einfach heimgegangen. „Wir wussten, dass die Amerikaner irgendwann gehen werden, aber dann haben sie uns so schlagartig hängen lassen. Und nun bezeichnen uns der US-Präsident und seine Medien als unwillig zu kämpfen, als Feiglinge. Zumindest in unserem Verband trifft das sicher nicht zu – aber wenn technisch nichts mehr funktioniert, kann man nicht mehr kämpfen. Da hätten wir uns nur vor die Mündungen der Taliban geworfen.”
Schlussverkauf für Russland und China?
General Mark Kelly als Leiter des Air Combat Command der USAF versuchte gegenüber Defence News den Punkt zu machen, wonach – anders als bei Fahrzeugen oder Panzern – das allermeiste des nun erbeuteten afghanischem Fluggeräts sichtlich nicht betriebsbereit beziehungsweise nicht funktionell gewesen wäre. „Es ist verständlich, dass die Leute sich Sorgen um Ausrüstung machen, die in die Hände von Leuten fällt, die nicht genau wissen, wie sie sie verwenden soll. Oder um welches Gerät es sich genau handelt, ob es ein M4 ist, ein M16 oder eben ein A-29. Dazu kommt, dass sie solches Gerät nicht instandsetzen und auch nicht effektiv betreiben können und dass ein A-29 nicht auf einem Technologielevel ist, welches US-Kräfte massiv bedrohen oder operationell einschränken könnte. Die Taliban können Manches davon vielleicht tatsächlich in die Luft bringen, aber das ist wohl gefährlicher für sie selbst und für die Menschen am Boden, als für potenzielle Gegner”, so Kelly.
Das mag zwar stimmen, aber erstens ist nicht auszuschließen, dass bisheriges Personal – es gab bereits mehrere Ankündigungen möglicher Amnestien – wieder in den Dienst zurückkehrt. Ähnlich wie iranische Piloten nach dem Sturz des Schahs zuerst eingesperrt und von den Revolutionswächtern gefoltert wurden, nur um dann trotzdem kurz darauf im Krieg gegen den irakischen Angreifer zurückzukehren und auf dürftig gewarteten Maschinen jahrelang teils hervorragende Missionen flogen. Wenn also die Taliban in Bedrängnis gerieten, könnte Ähnliches eintreten. Vielleicht noch wichtiger: Es ist davon auszugehen, dass erbeutetes West-Material jeder Art an Russen und – speziell – Chinesen weitergegeben wird. Ähnlich wie das Wrack der F-117 in Serbien oder jenes des schwer erkennbar gemachten Stealth-Black Hawk vom Bin-Laden-Raid im pakistanischen Abottabad.
Zwei interessante Fußnoten
1) Das US-Außenministerium (State Department) hat bestätigt, dass es sieben alte blau-weiße CH-46E Sea Knight-Hubschrauber (mit Tandemrotor wie CH-47 Chinnok) in Afghanistan zurücklässt, nachdem sie unbrauchbar gemacht wurden. Umgangssprachlich „Phrogs” genannt, waren die vom US-Marinekorps übernommenen Maschinen bereits in der Ausphasung, als zumindest eine davon mit dem Zivilkennzeichen N38TU – wie auch ein CH-47F – bei Anflügen auf das US-Botschaftsgebäude in Kabul gefilmt wurde. Ausdrücklich – so behauptet ein US-Nachrichtenportal – wäre es befohlen gewesen, nicht die Bilder mit dem UH-1 und den Fliehenden am Dach der Botschaft in Saigon 1975 während der Evakuierungsoperation „Frquent Wind” zu wiederholen. Fand sichtlich sehr ähnlich aber doch statt und genau jener N38TU (Seriennummer 154038) im damaligen Inventar des US-Marinekorps war nun an der Operation ebenfalls beteiligt (siehe Bericht).
2) Wie genau die Taliban – in den nächsten Wochen und Monaten – ermitteln können, wer in Luftwaffe und Armee gedient hat und wer für die US- und NATO-Truppen und Botschaften und Vertragsfirmen gearbeitet hat, wird auch davon abhängen. wie viel sie von HIIDE auslesen können. HIIDE steht für „Handheld Interagency Identity Detection Equipment” und dessen Endgeräte enthalten identifizierende biometrische Daten wie Iris-Scans und Fingerabdrücke sowie biografische Informationen und werden für den Zugriff auf große, zentralisierte Datenbanken verwendet. Die Taliban haben nun die HIIDE-Ausrüstung erbeutet und könnten damit darin gespeicherte Personendaten von Afghanen/Afghaninnen ermitteln, denen somit eine Zusammenarbeit mit dem Westen nachgewiesen werden könnte (siehe Bericht). Laut der investigativen Reporterin Annie Jacobsen hatte das Pentagon das Ziel, biometrische Daten von 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung zu sammeln, um Terroristen und Kriminelle herauszufiltern. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand jemals über Datenschutz nachgedacht hat oder darüber, was zu tun ist, falls HIIDE in die falschen Hände gerät”, vermutet Welton Chang, Chief Technology Officer für Human Rights First und selbst ein ehemaliger US-Geheimdienstoffizier. Es sei aber erstens unklar, wie viel von der biometrischen Datenbank des US-Militärs über die afghanische Bevölkerung kompromittiert wurde. Und zweitens hätten – glaubt zumindest Chang – die Taliban nicht die Expertise oder Ausrüstung zur Auswertung. „Aber ihre Freunde vom pakistanischen Auslandsgeheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) können das sicher. Und dann haben auch die Chinesen die Daten, ist doch klar.”
Entstehende Anti Taliban-Nordallianz?
Ahmed Massoud, der Sohn des 2001 mit einer Bombe in einer Videokamera ermordeten Ahmad Shah Massoud, wurde am 16. August im Panjschir-Tal gefilmt, wo er zusammen mit dem bisherigen Vizepräsidenten Amrullah Saleh angeblich versucht, alle Anti-Taliban Feldkommandanten zusammenzubringen. Panjschir ist frei von Taliban, aber von ihnen umzingelt.
Amrullah Saleh, Vice President of Afghanistan and Ahmad Massoud, son of Ahmad Shah Massoud spotted in Panjshir.They are bringing all Anti-Taliban commanders together in Panjshir. This province is still free from Taliban. pic.twitter.com/bgb8hUdfwi
— Sudhir Chaudhary (@sudhirchaudhary) August 16, 2021
Letzte Entwicklungen
Das ausgezeichnete Internet-Defence-Portal „The Drive” hat die jüngsten Entwicklungen von seit diesem Wochenende in einer umfangreichen Tweet-Sammlung diverser offizieller und privater Quellen zusammengefasst. Unter anderem über die nun zur dezentralen Evakuierung zum Flughafen Kabul nach Afghanistan verlegten deutschen H145M Hubschrauber (siehe Bericht) und solche des 160. Spezialoperationsgeschwaders der USAF. Aber auch zur Sorge dass IS („Daesh”) die Flüge zur „Evakuierung” von Terroristen und Sympathisanten nützen könnte. Denn die Taliban bekämpfen den IS – im Gegensatz zu was noch von Al Qaida übrig ist.
Entwaffnend offener, aber auch beschämender Satz
Am 31. August soll die US-Evakuierungsmission am Kabuler Flughafen – nach bisherigem Stand – nun enden. Und ein Abzug der USA bedeutet offenbar auch ein Ende aller anderen westlichen Rettungsaktionen. „Wenn die Amerikaner am 31. August abziehen, haben die Europäer nicht die militärische Kapazität, den Flughafen zu besetzen und zu sichern, und die Taliban werden die Kontrolle übernehmen”, warnte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Europa – noch immer kann man wie einst Kissinger fragen was oder wer das ist – kann also keine „Snap-Power-Projection” auf dem Gelände auch nur EINES größeren Flughafens herstellen, für einige Tage oder wenige Wochen. Herr Borrell hat vielleicht nicht den Zugang, die weitere Bedeutung seines Satzes abzuschätzen – ihm ist jedenfalls nichts hinzuzufügen.
Hier geht es zu einem Update von „The Drive”.