Die US-Armee hat ihre größte Drehflüglerbeschaffung seit 40 Jahren beschlossen: Bell Textron gewann mit seinem V-280 Valor den Wettbewerb für das sogenannte „Future Long-Range Assault Aircraft” (FLRAA) gegen Sikorskys SB-1 Defiant-X.

@Bell
Aus dem umfangreichen Bewertungsverfahren ging der V-280 Valor von Bell letztlich als Sieger hervor.

Im März 2013 forderte die US Army (also die US-Landstreitkräfte) die Industrie auf, Vorschläge für die Systemfamilie „Future Vertical Lift” (FVL) einzureichen, die in Bezug auf Schwebeflug-, Geschwindigkeits-, Reichweiten/Nutzlast- und Kraftstoffeffizienzeigenschaften „über alle aktuellen Drehflügler klar hinausgehen”. Ursprünglich waren dafür fünf Beschaffungs-Kategorien definiert worden, entscheidungsreif sind aktuell aber nur die Bereiche „Future Long-Range Assault Aircraft” (FLRAA) und „Future Armed Reconnaisance Aircraft” (FARA). Während FARA die Ablöse der leichteren –bereits ausgeschiedenen und beispielsweise an Kroatien weitergegebenen – OH-58D Kiowa Warrior geht (deren „Scout-Rolle” zwischenzeitlich der Apache und das Drohnensystem Shadow mitübernommen hatten) betrifft, geht es bei FLRAA um nichts weniger als den langfristigen Ersatz der ab Ende der 1970er-Jahren eingeführten rund 1.700 UH60 Black Hawk Mehrzweck- sowie 1.200 Apache-Kampfhubschraubern. Der FLRAA soll also Truppen auf und vom Gefechtsfeld bringen können und zugleich Feuerunterstützung und Panzerabwehr sicherstellen. Im Programm mit eingebunden sind neben der Army auch das US Spezialoperationen-Kommando (SOCOM) und das US-Marinekorps (USMC).

@Sikorsky
Der SB-1 von Sikorsky sieht futuristisch aus, hat bei der US Armee aber trotzdem keine Zukunft.

Fast eine Milliarde Euro Entwicklungskosten
In einer ersten FLRAA-Entwicklungsphase entstand 2014 ein Joint Multi-Role-Technologiedemonstrator (JMR-TD), zur Erarbeitung aller benötigten Grundlagen. In weiterer Folge wurden sowohl Koaxial- als auch Kipprotorkonstruktionen weiterverfolgt, der Fokus auf größere und etablierte Auftragnehmer gegenüber kleineren Herstellern gelegt. Piasecki, Karem, EADS und AVX wurden anschließend aus dem Programm ausgeschieden und im März 2020 richtete sich der Konzept-Entwicklungsvertrag des Army Contracting Command’s dann nur mehr an den Koaxialrotor mit Pusher-Propeller Defiant-X von Sikorsky Boeing (mit einem Wert von rund 91 Millionen Euro) sowie an den Kipprotor V-280 Valor von Bell Textron (79 Millionen Euro).

Im März 2021 gewährte dieselbe Dienststelle dann Bell eine Aufstockung in Höhe von 276 Millionen Euro sowie dem Sikorsky Boeing-Team 268 Millionen Euro und veranschlagte zum Zeitpunkt der Vergabe jeweils 18 Millionen Euro an Forschungs-, Entwicklungs-, Test- und Bewertungsmitteln für das US-Finanzjahr 2021. Interessant: Sikorsky gehört zu Lockheed Martin, der US-Rüstungshersteller ist mit Rechner-Elektronikeinheiten (im revolutionären und 2020 erstmals vorgestellten Cockpit) sowie Sensoren und Bewaffnung aber auch bei Bells V-280 mit an Bord. Laut Brigadegeneral Rob Barrie als Programmleiter der US Army für die Heeres-Luftfahrt, sollten er und seine Bewerter durch die zusätzlichen Gelder in der Lage sein, „frühzeitig fundierte Entscheidungen zu treffen”, um sicherzustellen, dass die FLRAA-Fähigkeiten „nicht nur erschwinglich sind, sondern dass sie auch die Anforderungen von Multi-Domain-Operationen erfüllen”.

@US Army
US-Brigadegeneral Rob Barrie: „Dies ist die größte und komplexeste Beschaffung in der Geschichte der Heeresluftfahrt.”

Meilenstein für die US-Streitkräfte
Der Typenentscheid zugunsten des Bell V-280 von Bell Textron stellt nun einen Meilenstein für die US-Streitkräfte dar, die seit den 1980er-Jahren keine zwei großen Hubschrauber mehr beschafft haben. Der Wunsch dazu war zwar immer wieder vorhanden, sämtliche Versuche dahingehend sind in den vergangenen Jahrzehnten aber gescheitert. So wurde 2004 beispielsweise das Stealth-Hubschrauberprogramm Boeing Sikorsky RAH-66 Comanche eingestellt, nachdem es rund 6,6 Milliarden Euro verschlungen hatte.

Brigadegeneral Barrie hat den Zuschlag an Bell Textron während eines runden Tisches der Medien Anfang Dezember nicht ausführlich begründet und er ist auch nicht näher auf die Frage eingegangen, was den Kipprotor nun von der Konkurrenz abhebt. „Wir werden jetzt nicht über die technischen Einzelheiten der Bewertung sprechen, weil die Entscheidung nicht durch einzelne technische Details begründbar ist. Wir haben das beste Preis-Leistungs-Verhältnis gesucht und für die Berechnung dieses ,Best Value’ zahlreiche Faktoren wie Leistung, Kosten und Zeitplan miteinbezogen.” Barrie weiter: „Dies ist die größte und komplexeste Beschaffung in der Geschichte der Heeresluftfahrt. Dieses System wird uns noch Jahrzehnte begleiten und es versteht sich von selbst, dass wir dessen Erfolg sicherstellen wollen.”

@Georg Mader
Blick in das geplante V-280-Cockpit: Bei der Entwicklung war kurioserwiese auch Sikorsky-Mutter Lockheed Martin mit an Bord.

Das Bell-Team soll nun 19 Monate nach dem formellen Auftragsvergabe-Vertrag – der aber wahrscheinlich durch einen Einspruch von Sikorsky Boeing verzögert wird – eine weitere vorläufig digitale Entwurfsphase mit budgetierten Kosten von 219 Millionen Euro durchführen. Der bereits im Juni 2021 nach 214 Stunden abgestellte V-280 Versuchsträger maß nur 92 Prozent der finalen Abmessungen. Die Armee dürfte dann voraussichtlich im Oktober 2023 in die Konstruktions- und Fertigungsentwicklungsphase eintreten, gefolgt von einer kritischen Entwurfsprüfung Anfang 2025. Der erste Prototyp könnte dann im Sommer 2025 ausgeliefert werden, fünf weitere Prototypen bis Sommer 2026 folgen. Dabei ist von Entwicklungs- und Fertigungskosten bis zu 1,23 Milliarden Euro die Rede. Die fertigungstechnische Entwicklung hin zur Serienproduktion könnte dann weitere 6,6 Milliarden Euro verschlingen. Die Ersatzbeschaffung von Black Hawk und Apache könnte dann über die gesamte Lebensdauer laut Barrie sogar ein Volumen von „bis zu 66 Milliarden Euro” haben.

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Viele Vor- und Nachteile, letztlich ging es aber …
Sicherlich hat in der nun getroffenen Entscheidung der Reifegrad seines Entwurfs für Bell Textron gesprochen. Bevor Bell im Juni 2021 seinen Valor-Flugdemonstrator in den Ruhestand versetzte, flog das Modell mehr als 214 Stunden und bewies dabei Agilität bei niedriger Geschwindigkeit sowie in Bodennähe und erreichte die für einen Drehflügler außerordentliche maximale Geschwindigkeit von 305 Knoten (569 km/h). Fünf Testpiloten der US Army haben damit insgesamt 15 Flüge absolviert, in deren Feedback wurde bei der Entscheidungsfindung ebenso berücksichtigt wie die Rückmeldungen involvierter Infanterietrupps und – was Sikorsky mit seinem Koaxialentwurf nicht hatte – die bereits mehr als 700.000 geflogenen Stunden mit dem Kipprotor-Vorgänger V-22 Osprey, der auch in Kampfmissionen sein Können zeigen konnte.

Der V-280 ist zudem im Vergleich zum SB-1 deutlich leichter, was auf die umfangreiche Verwendung von Verbundwerkstoffen und die Rolls-Royce AE 1107F Turbowellentriebwerke zurückzuführen ist, die in einer festen Position und verbunden mit einer Welle in den Rotorgondeln montiert sind, während nur die Rotoren selbst kippen. Dies eliminiert den Abgasstrahl und senke laut Hersteller die Kosten gegenüber dem Osprey um 30 Prozent. Sikorskys Defiant-X flog hingegen nur 64 Stunden (Spitzengeschwindigkeit 460 km/h), erschwerend kam ein Absturz eines Sikorsy Raider im August 2017 in West Palm Beach hinzu – dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine kleinere Version des Defiant. Damit blieb Sikorsky nur ein einziges Gerät übrig, um das interne Testprogramm zur Verfeinerung seiner mit dem X2 begonnenen Koaxialhubschrauber-/Pusher-Technologie sowohl für das FLRAA-Programm als auch für FARA fortzusetzen. In jenem liegt übrigens noch eine zweite Chance für Sikorsky, dabei tritt sein S-97 Raider-X gegen Bells konventionelleren Invictus-360 an.

@US Army
Bevor es zur Truppeneinführung kommt, muss Bell mit seinem V-280 noch durch eine mehrjährige Test- und Weiterentwicklungsphase.

… um die Reichweiten!
Ausschlaggebend für die Typenentscheidung waren aber letztlich die Reichweiten. Die Heeresflieger der US Army wurden für Konflikte in Europa und bis zu einem gewissen Grad im Nahen Osten konzipiert, nicht für die Weiten des Pazifiks. Wenn der Kampfradius aber in nur ein paar hundert Meilen gemessen wird, haben Tausende von Hubschraubern während eines Konflikts mit einem – leicht zu erratenden – Gegner auf technologischer Augenhöhe (Near Peer) auf diesem Kriegsschauplatz plötzlich viel weniger verloren. Würden heutige Typen nahe genug vorne aufgestellt, um bei den meisten Arten von Operationen eine Wirkung zu erzielen, würden sie zum Ziel eines wachsamen Gegners. Und selbst der Einsatz tief im Anti-Zugriffsraum des Feindes setzt herkömmliche Helikopter einem extremen Risiko aus. US Army und US Marines – letztere werden wohl die zweithöchste Stückzahl betreiben – wollten daher, dass FLRAA ungefähr 2.810 Meilen oder 4.520 Kilometer (Minimum 1.985 Meilen oder 3.195 Kilometer) ohne Nutzlast und Auftanken zurücklegen kann, daber aber wendig genug ist, um mit 12 bis 14 voll ausgerüsteten Soldaten oder alternativ entsprechenden Außen- sowie Waffenlasten in und aus gefährlichen Hotspots zu manövrieren. Die Einsatzradien dieser Missionen wären dann etwa – immer noch – mindestens ein Drittel jener maximalen Überstellungsreichweiten. Das Ziel war also ein möglichst schnell und weit fliegendes Gerät, und dieser Faktor dürfte auch den anstehenden FARA-Entscheid bestimmen.

Hier geht es zu weiteren Meldungen rund um Hubschrauber-Hersteller Bell.

Quelle@Bell, US Army, Georg Mader, Sikorsky