Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Severin Pleyer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Helmut Schmidt Universität und Experte für nukleare Kriegsführung. Wir haben mit ihm über Russlands Atomdoktrin, den möglichen Einsatz atomarer Waffen in der Ukraine und deren Wirkung gesprochen.

Herr Pleyer, im September teilte Russlands Präsident Wladimir Putin mit, sein Land habe die Atomdoktrin geändert. Nukleare Waffen sollen zukünftig bei geringeren Bedrohungslagen als bisher zum Einsatz kommen. Putinsche Drohgebärde oder tatsächlich ein besorgniserregender Schritt?
Bereits in der Nukleardoktrin von 2020 legte Russland fest, dass wenn ein Gegner Präzisionswaffen zum Beispiel gegen Knotenpunkte einsetzt, das den Einsatz atomarer Waffen rechtfertigt. Was aber hellhörig machen sollte, ist, dass laut der neuen Doktrin Nuklearwaffen auch gegen einen nicht nuklear bewaffneten Staat eingesetzt werden dürfen. Diese rechtliche Grundlage soll einen möglichen Einsatz von Atomwaffen vor allem nach innen legitimieren. Denn, wie russische Institute in Umfragen immer wieder feststellten, die Bevölkerung ist nicht sehr angetan von der Idee eines Nuklearwaffeneinsatzes. Darüber hinaus ist die neue Doktrin aber auch eine explizite Drohung gegen die Ukraine (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) und den Einsatz von Langstreckenwaffen, die von westlichen Nationen freigegeben werden.

„Im westlichen Diskurs wird ja oftmals nicht unterschieden zwischen strategischen, taktischen und operativen Nuklearwaffen. Dadurch erzeugt man die Vorstellung, dass ein möglicher Einsatz zwangsläufig zum atomaren Armageddon führt.“

In welcher Situation könnte Moskau den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine anordnen und gegen welche Ziele könnten sich diese richten?
Im westlichen Diskurs wird ja oftmals nicht unterschieden zwischen strategischen, taktischen und operativen Nuklearwaffen. Dadurch erzeugt man die Vorstellung, dass ein möglicher Einsatz zwangsläufig zum atomaren Armageddon führt. Hier muss man unterscheiden, wie groß die eingesetzten Waffen sind. Taktische Atomwaffen sind bei weitem nicht so groß, um eine Wirkung wie in Nagasaki oder Hiroshima zu erzeugen. Das Ziel taktischer Atomwaffen, so wie sie die Russische Föderation versteht und auch die NATO bisher verstanden hat, jedenfalls bis in die 1990er-Jahre, ist, dass sie eingesetzt werden, um ein taktisches Ziel zu erreichen. Das kann das Aufbrechen von gegnerischen Verteidigungsanlagen auf einer breiteren Front sein oder die Abnutzung eines vorrückenden Feindes. Sie lassen sich daher sowohl in der Verteidigung, als auch bei einem Angriff einsetzen.

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Beobachter des Ukraine-Krieges sagen, der Einsatz nuklearer Waffen sei unrealistisch. Moskau wisse, dass wenn es diese einsetzt, die USA einen atomaren Gegenschlag führen würden, was abschreckende Wirkung habe. Aber würden die USA tatsächlich in jedem Fall mit einem Vergeltungsschlag antworten?
Ich bin nicht davon überzeugt, dass das automatisch geschehen würde. Die Frage ist ja, welche Ziele getroffen werden. Würde ein Schlag auf Kiew ausgeführt werden, gäbe es wohl auf jeden Fall eine Reaktion. Werden aber Truppenkörper oder Munitionsdepots getroffen, bin ich nicht davon überzeugt, dass dies zwangsläufig zu einem Vergeltungsschlag führt. Grundsätzlich steht ja die klassische Frage im Raum, ob der Westen notfalls einen atomaren Schlagabtausch mit Russland riskieren will, um der Ukraine zu Hilfe zu eilen. Diese Frage ist bis heute nicht ganz beantwortet, weil sie keiner beantworten möchte. Denn am Ende wäre es kein konventioneller Krieg mehr, sondern ein nuklearer mit einer Eskalationsspirale dahinter.

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Während der ukrainischen Sommeroffensive 2022 stand Moskau angeblich kurz davor, eine taktische Atomwaffe einzusetzen, habe aber nach Kontakt mit Washington davon abgesehen. Offensichtlich funktionieren die Gesprächskanäle zwischen Washington und Moskau nach wie vor?
Ja, diese Kanäle funktionieren definitiv. Es gab 2022 die Situation bei Cherson, wo bis zu 40.000 russische Soldaten eingekesselt waren. Um diese freizubekommen, hatte Moskau wohl überlegt, taktische Atomwaffen einzusetzen. Diese Pläne waren sehr weit gediehen. Wie die CIA durchsickern ließ, hat sie direkte Kommunikation zwischen hoher russischer Generalität abgefangen, in der über den Einsatz taktischer Nuklearwaffen gesprochen wurde. Außerdem gab es eine Reise des CIA Direktors in die Türkei, wo er sich mit seinem russischen Amtskollegen traf. Wahrscheinlich ist man sich dort einig geworden. Am Ende konnten große Teile der russischen Truppen aus dem Kessel bei Cherson abziehen.

„Dass ein mit Nuklearwaffen beschossenes Gebiet im Anschluss nicht betretbar ist, ist ein Mythos.“

Wie könnte denn ein Staat wie die Ukraine auf einen atomaren Angriff reagieren? Das Angriffsgebiet wäre ja verstrahlt und unzugänglich, was würde das für die Kriegsführung bedeuten?
Dass ein mit Nuklearwaffen beschossenes Gebiet im Anschluss nicht betretbar ist, ist ein Mythos. Die Kampfoperationen würden mithilfe der ABC-Abwehr in dem Gebiet fortgesezt werden. Allerdings müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass es hundertprozentige Sicherheit gibt. Das wird man auf einem nuklear verseuchten Gefechtsfeld nicht gewährleisten können. Die eingesetzten Soldaten würden wohl Langzeitschäden davontragen. Das braucht man nicht beschönigen. Als Truppenführer muss ich mir in so einer Situation die Frage stellen: Wie kann ich das mit mir selber vereinbaren, dass ich die Gefechtsoperationen trotz eines nuklearen Einsatzes auf meine Truppen weiter aufrechterhalte, damit der Feind nicht vordringt? Das heißt, wir haben eine Situation, so wie im Kalten Krieg, dass wir potenziell auch Gebiete aufgeben müssen. Dennoch ist der Einsatz taktischer Nuklearwaffen nicht das Ende der Kampfhandlungen, sondern es geht weiter und das muss man üben.

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Quelle©GIDS