Die Flight-Tracker-Community erlebte kürzlich eine interessante und überraschende Premiere, als sechs Xi’an Y-20A-Transportflugzeuge der chinesischen Luftwaffe (PLAAF) auf westlichen Kursen in den NATO-Lufträumen der Türkei und Bulgariens auftauchten. Sie lieferten der serbischen Armee ihr neues Mittelbereichs-Flugabwehr-Raketensystem HQ-22.
Thanks to @Aviation_Intel for reaching out to me to discuss last night’s ???????? PLA Air Force Y-20 flights to Serbia!https://t.co/tNonEyo6L5
— Evergreen Intel (@vcdgf555) April 9, 2022
Der Open-Source-Flugzeug-Tracker „Evergreen-Intel-Tracker” (@ameliairheart) teilten mit, dass man die Flüge zuerst über der Türkei nördlich von Istanbul entdeckt habe. Sowohl Flightradar24 als auch die ADSBexchange-Selektivdatenbank zeigte bekannte Y-20A/U-Hexcodes, sagte Evergreen-Intel. Tatsächlich zeigten die verschiedenen Apps diverse Y-20A entlang derselben Flugroute, die etwa 100 Kilometer voneinander entfernt waren und sich von Istanbul bis fast zur georgischen Grenze erstreckten.
Interessant sei auch gewesen, dass die Maschinen alle MLAT (Multilateration) auf Basis der ausgesendeten ADS-B-Signale verwendeten. Angesichts der Tatsache, dass es sich um eine geplante Waffenlieferung gehandelt haben soll, ist dies sinnvoll. Ähnliche NATO-Lieferungen nach Polen oder in die Ukraine durch Militärtransporter hätten zuvor auch MLAT verwendet. Das sei nützlich für Navigation, Aufzeichnungen, Sicherheit und für viele andere Bereiche – für alle Seiten. Man habe Zeitstempel, Höhe, Flugparameter, alles bis auf wenige Meter und viel öfter aktualisiert als mit drei Radar-Antennenumläufen, sehr nützlich speziell in unbekannten und spärlicher abgedeckten Lufträumen (siehe weiterführende Details).
Serbische Quellen behaupteten anfänglich, es wäre nur drei Maschinen gewesen, aber damit könnte auch bloß „nur drei auf einmal” gemeint sein. Denn kurz darauf wurden weitere zwei Y-20A auf Flightradar24 über Armenien und der Türkei Richtung Westen beobachtet, ebenfalls ohne „Callsign”. Sie alle landeten zuerste auf der Batajnica-Airbae zum Ausladen und dann auf dem internationalen Flughafen Nikola Tesla der Hauptstadt Belgrad um für den Heimflug zu tanken, wobei lokale Flugzeugbeobachter beim Endanflug und auf dem Rollfeld bemerkten, dass zumindest bei einigen Flugzeugen die Abdeckungen für die Magazine ihrer Selbstschutz-Gegenmaßnahmen entfernt waren. Das habe sehr danach ausgesehen, als wären jene befüllt gewesen um einer potenziellen Bedrohung zu begegnen – von wem und welcher Art auch immer die China in Europa befürchtete.
Seit 2016 im Dienst
Die erwähnten Transporter sind relativ neu im PLAAF-Bestand, sie wurden erst 2016 in Dienst gestellt. Anfang 2020 wurde im Rahmen der ersten Covi-19-Ausbrüche in Wuhan über ihren ersten Einsatz geschrieben. Seitdem haben sie ihre operative Präsenz ausgeweitet und tauchten 2021 – dort als provokativ verstanden – auch am malaysischen Luftraum auf und ebenso über dem Südchinesischen Meer und in Taiwans Air Defense Identification Zone (ADIZ). Am 28. November 2021 wurde dabei auch erstmals ein Y-20U-Tankflugzeug beobachtet, welches mehr als zwei Dutzend PLAAF-Flugzeuge auf dem Durchflug durch die taiwanesische ADIZ unterstütze.
Zur Ladekapazität: Insgesamt 16 Stück Y-20A könnten durchaus ein volles kombiniertes leichtes Luftlande-Bataillon befördern, inklusive einer Artillerie- sowie einer Raketenwerfer-Kompanie und 12 bis 15 Luftlande-Radpanzern. Die Mission nach Belgrad war dennoch sicherlich keine Routine. Dieser groß angelegte Einsatz zur Lieferung militärischer Ausrüstung nach Europa kann oder soll – angesichts der anhaltenden NATO-Bemühungen, Material für die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu liefern – auch als Bestätigung der strategischen Lufttransportkapazität bsowie der praktischen Demonstration inzwischen globaler chinesischer Reichweite verstanden werden, sowie eines wachsenden operativen Wissens darüber, wie sie eingesetzt werden kann.
Ewige Achillesferse
Seit Jahren wird international der Bereich moderner Turbofan-Triebwerke für Kampfflugzeuge sowie (mit großem Verdichter) für Bomber und Transporter, hinsichtlich Ausfallsicherheit und Betriebszeiten (Haltbarkeit) von Serienexemplaren als größte Schwachstelle der chinesischen Militärluftfahrtindustrie beurteilt. Das gilt auch für die Y-20, die in der Grundauslegung durchaus mit der modernen Boeing C-17 Globemaster-III der USAF (und Kanada, UK, Australien, Katar, Indien, UAE und Kuwait) vergleichbar ist. Nicht aber beim Antrieb. Zurzeit gibt es rund 45 der jetzt nach Serbien geschickten A-Version, darunter vermutlich sieben Testzellen. Für die PLAAF sollen unter dem Strich einige hundert Stück angepeilt sein, wobei es sich dabei großteils um die künftig produzierten Y-20B-Varianten handeln soll. Diese sollen dann das lokal produzierte WS-20-Turbofan-Triebwerk mit hohem Nebenstromverhältnis anstelle der WS-18 (chinesische Version der russischen Solowiew D-30KP2-Triebwerke mit je 13 Tonnen Schub aus den 1960er-Jahren wie auf Il-76) verwenden. Jenes WS-20 wurde jahrelang auf einer Innenstation einer Il-76 getestet, nun wurde 2022 zumindest eine Y-20B mit bereits vier Triebwerken auf Testflügen beobachtet.
Warum ist das signifikant? Weil sich mit dem deutlich niedrigerem Verbrauch die Reichweite gegenüber von nur 7.800 Kilometern bei der A-Version auf die annähernd 12.000 Kilometer der C-17 (mit F-117 PW-100 mit je 17,4 Tonnen Schub) und die Nutzlast von 55 auf 65 Tonnen erhöhen sollte. Damit würden sich dann wie bei einer Ladung von Covid-Hilfsgütern nach Tonga – es handelte sich dabei um die längste bisher von Y-20A geflogene Mission – die notwendigen drei Zwischenlandungen in Indonesien, den Philippinen und Fiji erübrigen oder zumindest (abhängig von Wind und Wetter) auf eine reduzieren. Für Evakuierungen gibt es ein zerlegbares „Oberdeck” mit zusätzlichen Sitzen.
Erstes chinesisches Großsystem in Europa
Abgesehen von der dokumentierten Präsenz der PLAAF mit ihren Y-20 nun auch über Europa, ist die Tatsache, dass ein höherwertiges chinesisches Luftverteidigungssystem in Europa operieren wird, ein weiteres Problem, das wahrscheinlich zu erhöhter Aufmerksamkeit sowie zu Reaktionen der Nachbarn Serbiens führen wird. Die Washington Post berichtete schon 2020 über „Warnungen” der US-Regierung an Belgrad vor der Beschaffung chinesischer Systeme. Dennoch entschied sich Serbien in einem überraschenden Schritt für das HQ-22 gegenüber seinem ungefähren russischen Gegenstück, dem S-300 – möglicherweise auch aus Kostengründen.
Das Mittelbereichs-Flugabwehr-Raketensystem HQ-22 (auch die Krone berichtete am 11. April darüber, machte aber daraus „Mittelstreckenraketen”) des chinesischen Herstellers Goizhou Aerospace/Shaanxi Yellow River-Group (auch bekannt als Basis 061 der China Aerospace Science & Industry Corporation Limited, CASIC) ist ein Upgrade des früheren HQ-12 und wird für ausländische Märkte unter der Bezeichnung FK-3 angeboten. Das „chinesische S-300” kann laut CASIC-Broschüre aus Dreier-Startröhren insgesamt zwölf Flugkörper gleichzeitig mit Geschwindigkeiten von bis zu Mach 6 (7.350 km/h) auf bis zu sechs Ziele abfeuern und ist für die Vernichtung von Flugzeugen, Drohnen, Marschflugkörpern und feindlichen Hubschraubern in allen Höhen, sowie für Tag und Nachteinsätze bei allen Wetterbedingungen und unter aktiven funkelektronischen Gegenmaßnahmen des Feindes konzipiert. Das System wurde erstmals auf der Airshow China 2016 in Zhuhai vorgestellt und am 30. Juli 2017 bei einer Parade zum 90. Jahrestag der Gründung der Volksbefreiungsarmee (PLA) vorgeführt. Seit 2018 werden HQ-22 in 13 bis 15 PLA-Batterien eingesetzt.
Serbien ist aber der erste fixe Exportkunde (Thailand soll es auch bekommen), auf einem seiner TV-Sender wurden schematisch drei Batterien zur voller Abdeckung des serbischen Territoriums illustriert. Ob aber tatsächlich die Komponenten für drei volle Systeme (samt H-200 Radars) beschafft oder in den Tagen danach weitere noch geliefert werden, ist zurzeit nicht verifizierbar. HQ-22 alias FK-3 wird (vom Hersteller) jedenfalls mit einem Erfassungsbereich von bis zu 250 Kilometer und einer Wirkungsreichweite von 100 Kilometer Entfernung und bis zu 27 Kilometer Höhe angegeben.
Einen offiziellen Kommentar oder detailliertere Verlautbarung seitens Serbien gab es zu den erfolgten Lieferungen zunächst nicht. Es hieß im serbischen Staatsfernsehen allerdings, dass vom kürzlich erneut im Amt bestätigten serbischen Staatschef Aleksandar Vučić zeitnah der „neueste Stolz der serbischen Armee” präsentiert werden soll (Update: Inzwischen hat das stattgefunden, FK-3 in Serbien ist somit auch offiziell, übrigens zusammen mit Pantsir S1 SHORAD). Vučić beschwerte sich ungeachtet dessen darüber, dass die NATO-Staaten, welche die meisten Nachbarn Serbiens ausmachen, sich geweigert hätten Überflüge der chinesischen Transporter über ihren Territorien zuzulassen.
Ein EU-Beitrittskandidat mit russisch-chinesischer Ausrüstung
FK-3 ist nicht die erste chinesische Ausrüstung der serbischen Streitkräfte, 2020 hat Belgrad bereits Chengdu Pterodactyl-1-UCAV-Drohnen (Wing Loong-1 in China) in Dienst gestellt. In den Jahren hat Belgrad mit überholten russischen sowie belarussischen MiG-29 und Mi-35 Hubschraubern seine 1999 von der NATO (Operation Allied Force) dezimierte Luftwaffe wiederhergestellt. Nach Kriegsbeginn in der Ukraine stimmte Belgrad zwar für UN-Resolutionen zur Verurteilung des russischen Angriffs, Aleksandar Vučić weigert sich aber, sich den internationalen Sanktionen gegen seine Verbündeten in Moskau anzuschließen oder die von russischen Truppen begangenen Kriegsverbrechen direkt zu kritisieren. Und vor einigen Tagen verlautbarte er, in einem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach Bayraktar-TB-2 UCAVs gefragt zu haben und das Versprechen erhalten zu haben, „dass wir sie kaufen und in die Waffen der serbischen Armee aufnehmen können!”
Von seiner Bevölkerung wollen übrigens laut einer Ninamedia-Umfrage aus dem Jahr 2021 für die EU-Delegation in Serbien insgesamt 52,3 Prozent der Befragten den Beitritt Serbiens zur EU, 32,6 Prozent waren dagegen. Andererseits glauben junge Menschen unter 30 und Ältere über 60 überwiegend, dass Russland Serbiens bester Freund ist. Demzufolge wird das Verhältnis zwischen Serbien und Russland von 36,2 Prozent der Umfrageteilnehmer am höchsten bewertet. Und für eine relative Mehrheit bestehen die besten Außenbeziehungen ihres Landes zur Volksrepublik China.
Update: Auch im ZDF waren die chinesischen Transporter in Serbien mittlerweile ein Thema (siehe Video oben). Der deutsche Sender hatte auch ein chinesisches Statement sowie eine indirekte Bestätigung über das Gelieferte vom Sprecher des Pekinger Außenministeriums: „Wir hoffen, dass dieses Projekt von den westlichen Medien nicht überinterpretiert wird, denn es hat nichts mit dem laufenden Konflikt in der Ukraine zu tun.”