Als Terror-Experte analysiert der studierte Politikwissenschafter Nicolas Stockhammer die Entwicklungen des Terrorismus auch vor dem Hintergrund der aktuellen Coronakrise. Wir haben mit ihm gesprochen.
Herr Stockhammer, in welche Richtung könnte sich das Thema Terrorismus Ihrer Ansicht nach in den kommenden Jahren entwickeln?
Der Terrorismus wird sich in seinen Erscheinungsformen weiter diversifizieren und hybride Gestalt annehmen. Dies betrifft sowohl Szenarien, Akteure als auch Modi Operandi und ideologische Ausprägungen. Wir werden einerseits mit gelegenheitsgetriebenen Low-Level Anschlägen, die dem Simplizitätsparadigma gehorchen, als auch mit projektierten Szenarien, die im hyperterroristischen Bereich des systemischen Terrorismus – also ABC-Szenarien – angesiedelt sind, konfrontiert sein. Akteure werden, wie bereits jetzt, sowohl radikalisierte Einzeltäter als auch autarke, gut strukturierte Zellen sein. Ebenso wird im ideologischen Bereich einerseits eine Entideologisierung zu beobachten sein, das heißt Anschläge von entkoppelten Trittbrettfahrern, die ihr Tun einem losen Terror-Franchise widmen, andererseits kann es wieder zu einer Selbstidentifikation von Gewaltakteuren mit radikalen Ideologieelementen und entsprechenden Gruppierungen kommen. Bemerkenswert ist die sich derzeit abzeichnende Terrorspirale, also ein gegenseitiges Befeuern des rechtsextremistischen Terrorismus mit dem Jihadismus und viceversa. Terroranschläge haben immer häufiger Antwortcharakter. Wesentlicher Game-Changer ist die rasant fortschreitende Digitalisierung, die auch vor dem Terrorismus nicht Halt macht. Sämtliche einschlägige Aktivitäten haben sich in den Cyberraum verschoben – von der Radikalisierung bis zur unmittelbaren Planung von Terroranschlägen. Kurz gefasst: Die Wirkorte und Wirkmittel werden sich weiterhin adaptiv verändern.
Spielt dabei auch die Corona-Krise eine Rolle?
Selbstverständlich. Terrororganisationen haben mit Interesse die Verletzlichkeit und teilweise sogar Hilflosigkeit entwickelter Gesellschaften beobachtet und ihre eigenen strategischen Rückschlüsse gezogen. Es geht um die Ausnützung von Schwächen durch den subkonventionellen Feind. Der IS und Al-Qaida konsolidieren sich in ihren Rückzugsräumen und breiten sich regional auch weiter aus. Sicherheitsthemen wurden global angesichts der Pandemie häufig zu einer subsidiären Kategorie. Sämtliche Kapazitäten und materielle Ressourcen sind auf die Bekämpfung des Virus ausgerichtet. Exekutivkräfte müssen sich europaweit ebenfalls auf Corona fokussieren. Dies erlaubt Freiräume, die von Extremisten unverhohlen ausgefüllt werden. Es braut sich momentan etwas zusammen, denn der Mix aus Kriegsheimkehrern und Gefährdern ist nahezu überall in Europa brisant und toxisch. Die Covid-19-Pandemie ist zugleich Katalysator bestehender Entwicklungen, aber auch eine Folie, auf der sich zukünftige Entwicklungen abzeichnen. Unsere Terrorismusabwehrinstanzen sind gut beraten, genau hinzusehen und eine strategische Lektion zu lernen. Denn Terroristen sind anarchisch lernfähig und wie Trüffelschweine darauf konditioniert, Schwächen von Systemen zu identifizieren und diese bewusst auszunutzen.
„Terroristen sind anarchisch lernfähig und wie Trüffelschweine darauf konditioniert, Schwächen von Systemen zu identifizieren und diese bewusst auszunutzen.“
Sowohl Terroranschläge als auch Pandemien zeigen, wie verletzlich unsere Gesellschaft eigentlich ist. Wo sehen Sie Parallelen, wo Unterschiede?
Bei beiden hätte man besser vorbereitet sein sollen und können. Die Gefahr einer Pandemie steht seit langem im Raum, doch haben nur einige wenige in kleinen Sicherheitszirkeln die Bedrohung wirklich ernst genommen. Selbiges gilt für die Terrorgefahr. Die Menschen orientieren sich immer an Wahrscheinlichkeiten und erfolgten Terroranschlägen. Die wahrhaft relevante Zahl jedoch gibt die erfolgreich vereitelten größeren Terrorplots an. Diese bewegt sich zwischen 13 und 20 in Europa pro Jahr. Die Risikoeinschätzung sollte professionalisiert und objektiviert werden. Die „Kriege” von gestern sind nicht mehr die Konflikte von morgen. Unterschiede zwischen Pandemie und Terroranschlag sind natürlich mit Blick auf die Schadenswirkung und Eintrittswahrscheinlichkeit festzustellen. Pandemien sind globale Killer, Terroranschläge – mit Ausnahme von ABC-Szenarien – haben stets eine regional begrenzte, meist kurzfristige Dimension. Die Schäden und Opferzahlen sind meist überschaubar. Hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit sind terroristische Attacken in Europa als „hochgradig wahrscheinlich” zu qualifizieren, weitere Pandemien in absehbarer Zeit als „eher wahrscheinlich”.
Inwieweit ist Terrorismus heute noch mit Terrorismus vor 20 oder 30 Jahren vergleichbar?
Nur mehr strukturell, nicht in seinen Erscheinungsformen. Die Natur des Terrorismus bleibt zwar, mit Clausewitz gesprochen, konstant. Der Charakter des Terrorismus hingegen unterliegt einer konstanten Veränderung. Seine unveränderliche Natur betreffend, geht es beim Terrorismus immer um die Bühne: das effektheischende Töten unbeteiligter Dritter vor einem möglichst großen (medialen) Publikum, um politische Zwecke wie Einschüchterung und Destabilisierung zu erreichen. Sein volatiler Charakter entspricht den veränderlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen, die natürlich angepasst an die Zeit und Umstände einem kontinuierlichen Wandel unterliegen.
Worin wird dieser Wandel bestehen?
Die Grundlinien des Kommenden sind bereits erkennbar. Es werden neue, ideologische fundierte Protestformen und Akteure aufkommen, die in politisch motivierte Gewalt umschlagen können∞ Weltverschwörer, Reichsbürger, Eco-Terrorismus und dergleichen. Der Cyber-Space wird auch für den Terrorismus der Zukunft weiterhin Bedeutung gewinnen – ebenso der „echte” Cyber-Terrorismus, der rein politisch motiviert ist. Zudem legen aktuelle Entwicklungen eine weitere Ausprägung des systemischen Terrorismus nahe. Wir werden in fünf bis zehn Jahren katastrophische Terroranschläge aus dem ABC-Spektrum zu verzeichnen haben. Dies ist aus heutiger Sicht geradezu unausweichlich. Terroristen verfügen seit längerem über die Absicht und arbeiten sukzessive an den Fähigkeiten.
Denken Sie, dass es in Zukunft eine stärkere Verlagerung in Richtung ABC-Waffen geben könnte?
Absolut. In einem Zeitraum von etwa fünf bis zehn Jahren könnte die aktuelle Entwicklung schlagend werden. Vorausgesetzt man sieht im Westen weiterhin fast tatenlos zu. Der Kreativität der Terrorplaner sind leider fast keine Grenzen gesetzt, wenn man etwa an Aerosolbomben in Drohnen über Menschen als lebende Biowaffen denkt. Gerade im chemischen aber auch im biologischen Anwendungsbereich wird die Bedrohung kontinuierlich größer.
„Es besteht die Gefahr, dass durch die Konzentration auf virulente Aspekte, strategisch wichtige Dimensionen von Sicherheit außer Acht gelassen werden.“
Konnten Sie für Ihre Forschung zum Thema Terrorismus aus der aktuellen Krise Erkenntnisse ziehen?
Jeder Forscher muss disruptive Ereignisse und globale Krisen ernst nehmen. Die aktuelle Situation zeigt systemische Verwundbarkeiten auf und betont nochmals die Bedeutung von gesamtstaatlicher Resilienz. Zudem offenbart die derzeitige Krise, dass unsere Kapazitäten und monetären Ressourcen gerade im Sicherheitsbereich begrenzt sind. Es besteht die Gefahr, dass durch die Konzentration auf virulente Aspekte, strategisch wichtige Dimensionen von Sicherheit außer Acht gelassen werden. Etwas zynisch formuliert: Irgendwo in Kandahar, Ramadi oder Sirte lacht sich einer ins Fäustchen, wenn die Europäer Millionen in Schutzmasken investieren.