Der Libanon kämpft mit einer der größten Krisen seiner Geschichte. Verantwortlich dafür sind auch die vielen internationalen Player, die im Land unterschiedliche Interessen verfolgen. Eine Analyse von Markus Schauta.
Der Libanon ist bankrott. Nicht nur finanziell, sondern auch politisch. Die herrschenden Eliten blockieren Reformen und haben durch ihre Politik des Klientelismus den Staat und seine Institutionen ausgehöhlt. Das libanesische Pfund verlor seit Oktober 2019 rund 75 Prozent seines Wertes. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze und die Arbeitslosigkeit stieg auf 35 Prozent. Das von der libanesischen Zentralbank angekündigte Ende der Subventionen auf Benzin, Medikamente und Mehl wird sich katastrophal auf große Teile der Bevölkerung auswirken.
Angeheizt durch die Wirtschaftskrise und die verheerende Explosion im Hafen von Beirut, führten seit Herbst 2019 massive Proteste zum Rücktritt von zwei Ministerpräsidenten. Eine neue Regierung konnte bis jetzt nicht gebildet werden. Alleine wird das Land den Weg aus der Krise nicht finden. Doch welche Ziele verfolgen die internationalen Player, die ihre Interessen im Libanon gewahrt sehen möchten?
Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Reformen als Voraussetzung für weitere Finanzhilfen nennt, verfolgen die USA eine Politik des maximalen Drucks gegen Iran und damit auch gegen die Hisbollah. Washington macht die schiitische Miliz dafür verantwortlich, Reformprozesse zu blockieren. Um die Hisbollah zu isolieren, sanktionieren die USA Vertreter der mit der Miliz verbündeten schiitischen Amal- und der christlichen Marada-Partei. Washington widerspricht damit dem Zugang Macrons, der die Hisbollah in mögliche Reformprozesse einbinden möchte. Politikwissenschaftler Maximilian Felsch kann Frankreichs Zugang nachvollziehen: „Wenn man den Libanon reformieren möchte, muss man alle relevanten Größen des Landes einbinden.” Ohne die Einbeziehung wichtiger politischer Kräfte wie der Hisbollah können keine Strukturreformen des politischen und wirtschaftlichen Systems gelingen. Entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft sei aber in jedem Fall der IWF und seine Bereitschaft, den Libanon finanziell zu stützen, so Felsch. Der Politikwissenschaftler geht aber davon aus, dass der IWF kein Geld fließen lässt, solange die USA das kategorisch ablehnen. Dies könne sich aber unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden ändern.
Saudi-Arabien steht mit seiner Libanon-Politik an der Seite der USA und lehnt Verhandlungen mit der Hisbollah ab. Wie der libanesische Politikwissenschaftler Imad Salamey betont, sieht sich Saudi-Arabien als Patron des libanesischen Friedens. Die Golfmonarchie lud 1989 die kriegsführenden Parteien zu Verhandlungen ein, die im Friedensabkommen von Taif und dem Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs gipfelten. „Saudi-Arabien steckte viel Geld in den Wiederaufbau des Libanon”, so Salamey. Gleichzeitig nahm der Golfstaat Tausende libanesische Fremdarbeiter auf, die durch ihre Geldüberweisungen die Nachkriegswirtschaft im Libanon stützten.
Doch die guten Beziehungen zu Beirut trübten sich, als 2005 der Saudi-treue Politiker Rafik Hariri bei einem Bombenattentat ums Leben kam. In den folgenden Jahren gewann die Hisbollah in der libanesischen Politik an Macht, so Salamey. Saudi-Arabien habe das bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. „Umgekehrt erhielt Riad keine Zugeständnisse von der Miliz”, sagt Salamey. Mehr noch: Seit 2011 in Syrien und später auch im Jemen trat die Hisbollah an der Seite Irans offen gegen die Interessen der saudischen Monarchie auf.
Als Mohammed bin Salman (MbS) 2017 zum Kronprinz ernannt wurde, änderte sich der Kurs Saudi-Arabiens, so der Politikwissenschaftler Felsch. Noch im selben Jahr ließ MbS den mit der Hisbollah kooperierenden damaligen Premierminister Saad Hariri bei seinem Besuch in Saudi-Arabien festsetzen. MbS zwang den Regierungschef über einen TV-Sender seinen Rücktritt zu verkünden. Zurück in Beirut, zog Hariri diesen Entschluss zwar zurück und bildete eine neue Regierung. Aber die Beziehung zwischen ihm und Riad war nachhaltig beschädigt. „Hariri wird von Saudi-Arabien nicht mehr als Verbündeter angesehen”, sagt Felsch. Mit Reisewarnungen und Investitionsstopps setzte Riad dem Libanon wirtschaftlich die Daumenschrauben an. Libanesen, die in der Golfregion arbeiteten, wurden aufgerufen, in den Libanon zurückzukehren und die Vergabe neuer Arbeitsvisa auf Eis gelegt. „Zurzeit wollen die Saudis den Libanon lieber brennen sehen als weitere Zugeständnisse zu machen”, sagt Salamey. Ihre Hoffnung sei, dass, wenn die Lage im Libanon eskaliert, anti-iranische Kräfte an Bedeutung gewinnen und die Hisbollah dadurch an Relevanz verlieren würde.
Dass es zu einer militärischen Eskalation kommen könnte, hält Felsch jedoch für ausgeschlossen: „Die Hisbollah hat bereits de facto das Sagen im Land.” Alle Schlüsselpositionen seien mehr oder weniger kontrolliert von der Miliz. Der Libanon könne daher keine Entscheidung treffen, die nicht von der Hisbollah und ihren Verbündeten abgesegnet wurde. Auch ein Vorgehen der libanesischen Armee gegen die Hisbollah hält er für unrealistisch, da es innerhalb der Streitkräfte viele Anhänger der Miliz gebe.
Eine politisch und militärisch mächtige Hisbollah stärkt den Einfluss Irans im Libanon und seinen Handlungsspielraum gegenüber Israel. Felsch merkt jedoch an, dass es nicht im Interesse Teherans ist, dass der Libanon zusammenbricht. Gleichzeitig seien Irans Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, beschränkt. „Iran hat eigene Wirtschaftsprobleme, ist von Sanktionen betroffen und steht wirtschaftlich isoliert da”, so Felsch. Zudem sei Teheran im Irak und in Syrien involviert, Länder die für den Schiitenstaat deutlich bedeutender seien als der Libanon. Mit Blick auf Israel sieht Salamey zurzeit kein Eskalationspotenzial. Für die Hisbollah ebenso wie für Israel sei es von Vorteil, das Grenzgebiet stabil zu halten – vor allem in Hinblick auf die laufenden Verhandlungen über Seegrenzen in einer umstrittenen Zone vor der Küste, wo enorme Erdgas- und Ölvorkommen vermutet werden. „Ich sehe derzeit keinen Grund, warum eine der Seiten die Lage eskalieren sollte”, so Salamey.
Aktuell führt Saad Hariri Verhandlungen über eine neue Regierung. Gleichzeitig dauern die Proteste an. Die Aktivisten appellieren an die internationalen Unterstützer, keine Finanzspritzen zu gewähren, bevor nicht sichergestellt ist, dass die politischen Eliten die dringend notwendigen Reformen einleiten. Doch sollte es eine Regierung unter Hariri geben, ist erneut jener Mann an der Macht, der gemeinsam mit seinen politischen Verbündeten über Jahre hinweg wichtige Reformen blockiert hat und deshalb im Zuge der Proteste 2019 zurücktreten musste. „Die Proteste hätten dann nichts bewirkt”, so Felsch. Es wäre damit wieder alles beim Alten und die Gefahr groß, dass sich die Dauerkrise im Libanon fortschreibt.