Der Hauptstadtstudio-Redakteur des SRF hat Anfang Juli in Bern unter anderen den Militär-Aktuell-Autor zur für viele überraschenden Wahl des F-35 von Lockheed-Martin (Militär Aktuell berichtete) als offiziell günstigsten Anbieter interviewt. Nun legt Journalist Tobias Gasser eine tiefere Analyse zur – ebenfalls überraschenden – Grundlage der Typenfindung vor, die er in der Radiosendung „Heute-Morgen” vom 17. August erklärte.
„F-35 als klarer Sieger …”
… so die (Schweizerisch nüchtern bezeichnete) VBS-Chefin Viola Amherd am 30. Juni vor den Medien. Der F-35 sei der Kampfjet mit dem höchsten Gesamtnutzen und den tiefsten Kosten. Darum falle die Wahl auf das amerikanische Modell. Die Evaluation habe ergeben, dass der Abstand zum Zweitplatzierten groß sei. Es gebe keinen Spielraum für außen- oder sicherheitspolitische Überlegungen, so Amherd. Der Bundesrat müsse sich ergo ans Vergaberecht halten. Anfang 2022 wird er für die sogenannte „Armeebotschaft 2022” die getroffene Typenwahl beraten – während die Linke in der Proporz- oder Konzentrationsregierung ab Herbst die 50.000 Unterschriften für einen erneuten Volksentscheid gegen den „Ferrari der Lüfte” zu sammeln beginnen wird.
Militär Aktuell hat sich in Bern unter anderen auch mit der SP-Abgeordneten Priska Seiler-Graf getroffen. Das Angenehme beim Nachbarn ist eben, dass auch die Gegner keineswegs die Notwendigkeit eines Ersatzes nach 30 Jahren leugnen und sehr wohl konstatieren, dass es neue Flugzeuge brauche. Nur eben bitte nicht dieses. Welch seriöser Unterschied zum einstigen „Beißreflex” hiesiger Genossen. Der heutige SPÖ-Wehrsprecher bedauert die damalige Vorgangsweise übrigens im Gespräch, fordert gleich Trainer-Jets und erteilt diversen LRÜ-Kooperationsideen eine neutrale Absage.
Ende der Überraschung
Aber zurück zu den gesellschaftspolitisch „bauartbedingt” weit nüchtereren Eidgenossen: Es ist nicht überraschend, dass bei einer sicher hochklassigen Bewertung von Dutzenden von Fähigkeiten (Agilität, Durchhaltevermögen, Bewaffnung, Sensoren, …) von marktverfügbaren Systemen, die 5. Generation Kampfjets (Überbegriff „Stealth”) die 4. Generation schlägt. Viele Experten zeigten sich aber trotzdem verblüfft, was denn die neutrale Schweiz inmitten Europas mit einem bauartbedingt klar offensiven Gerät wolle, die Rede war gar von einem „US-Netzwerkrieger”. Überrascht wurden auch die Aussagen aufgenommen, wonach die technische Auswertung ergeben habe, dass der Abstand zwischen dem F-35 und dem – übrigens noch immer unbekannten – Zweitplatzierten so groß sei und dass der F-35 außerdem klarer Bestbieter auch hinsichtlich der Lebensdauer-Kosten gewesen sei. Ein möglicher Kritikpunkt ist dabei vor allem die von Journalist Gasser recherchierte Art der Ermittlung des Bestbieters durch die Beschaffungsbehörde armasuisse. Denn jene hat zur Evaluation erstmals eine neue Methode eingesetzt, die im Schweizer Beschaffungswesen – und vermutlich auch international – unbekannt ist. Armasuisse sagt, die Methode wäre nicht vorgegeben und die gewälte Variante daher zulässig, während externe Spezialisten nun vor einem möglicherweise beeinspruchbaren Verzerreffekt warnen. Laut Tobias Gasser dürften sich die unterlegenen Anbieter, Airbus, Boeing und Dassault jedenfalls nicht bewusst gewesen sein, dass sie nach dieser Methodik beurteilt werden.
Neuer Bewertungsmethode AHP
Die Methode heisst AHP: „Analytic Hierarchy Process” oder Hierarchische Prozessanalyse. Klingt kompliziert – und ist es auch. AHP basiert auf einem mathematischen Verfahren, das nicht – wie bei traditionellen Bewertungsmethoden – mit einem Notensystem arbeitet. Sondern mit Ausscheidungs-Vergleichen zwischen den einzelnen Angeboten. Was heißt das konkret? Die vier verschiedenen Jets wurden in Paaren verglichen. Sie traten – Sportfans vielleicht leichter verständlich – wie bei einem Fußballturnier gegeneinander an, jeder gegen jeden. Jeder hatte drei Gegner. In jeder Partie konnte man Punkte gewinnen. Spielte man unentschieden, dann erhielten beide Mannschaften je einen Punkt. War eine Mannschaft leicht besser, erhielt diese zwei oder sogar drei Punkte. Das bedeutet eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Punkte gegenüber dem Gegner, der nur einen Punkt erhält. Bis zu neun Punkte pro Spiel können so erzielt werden, wenn eine Mannschaft extrem viel besser ist als die gegnerische.
Die meisten öffentlichen Beschaffungsverfahren nutzen eine traditionelle Nutzwertanalyse. Sie funktioniert nach dem Prinzip Schulnote. Die Behörden und Bewerter entwickelen pro bewertetem Zahlungskriterium vorgängig eine Notenskala, die bestimmt welche (meist Muß- und Soll-) Kriterien erfüllt werden müssen, um eine bestimmte Note zu erhalten. Ein gutes Angebot erhält eine Fünf, ein sehr gutes eine Sechs und ein genügendes eine Vier – und dann gibt es Abstufungen dazwischen. Die Notenskalen können variieren. Sie werden im Vorfeld festgelegt und – wichtig – sie sind den Anbietern in der Regel bekannt. Mit AHP werden aber die Unterschiede bewertet, unabhängig davon, ob ein Angebot gut, sehr gut oder genügend ist.
Wie der Kontrastregler beim Photoshop
SRF hat den deutschen Mathematiker, Wirtschaftsjuristen und Beschaffungsexperten Thomas Ferber befragt, er gehört wahrscheinlich zu den wenigen deutschsprachigen Kennern dieser Methodik. Er erklärt, die Wirkung von AHP sei vergleichbar mit dem Kontrastregler im Bildbearbeitungsprogramm Photoshop. Bei einem Schwarz-Weiß-Bild mit vielen Graustufen werde der Kontrast erhöht, bis fast nur noch Schwarz und Weiß zu sehen seien. „Es ist eine höhere Trennschärfe da”, so Ferber. Dieser Kontrasteffekt entstehe, weil es für einen relativ kleinen Qualitätsunterschied doppelt oder dreimal so viele Punkte gibt. In einem Schulnotensystem würde ein minimaler Unterschied vielleicht mit nur einem halben Notenunterschied bewertet werden.
Die armasuisse-Bewerter um „Projektleiter Neues Kampfflugzeug” Darko Savic bestätigen diesen Kontrasteffekt. Sie betonen aber, dass sie (deshalb) eine Zusatzformel in die Berechnung eingebaut haben, eine sogenannte „Transferfunktion”. Diese mathematische Formel senke die Punkteverteilung, sodass kein Kontrasteffekt entstehe. Nur bei eins und neun komme die volle Punktzahl zum Tragen. Sie sehen viele Vorteile, denn mit der Punkteverteilung nach AHP könne einfacher vermittelt werden, wieso ein Kandidat besser abgeschnitten habe als ein anderer. Und die Methode gebe eine Systematik beim Vergleich der Kandidaten vor. Mit der Punkteverteilung nach AHP könne einfacher ermittelt werden, wieso ein Kandidat besser abgeschnitten hat als ein anderer.
Bieter konnten nichts abschätzen
Das Problem dabei ist jedoch laut SRF/Gasser: Ein bereits mathematisch kompliziertes System wird so noch komplizierter und undurchschaubarer gemacht. Thomas Ferber beschreibt die Nachteile der AHP-Methodik mit einem Vergleich aus dem Bogenschiessen: „Bei einem fairen Wettbewerb weiß jeder Anbieter, wo der Zielkreis ist. Das heißt, jeder weiß, wie die Notenskala aussieht. Bei AHP könne kein Anbieter richtig abschätzen, wo der Zielkreis liege, weil der Standort abhängig sei von den anderen Angeboten.” Für den Mathematiker und Beschaffungsexperten ist AHP dann eine sinnvolle Methodik, wenn nicht messbare, subjektive Dinge bewertet werden, wie zum Beispiel eine Ästhetik, ein Geschmack, Ideen oder Konzepte.
SRF hat sich bei weiteren verschiedenen Expertinnen und Experten im Beschaffungswesen umgehört. Niemand kennt AHP. Wahrscheinlich ist sie in einem öffentlichen Beschaffungsprojekt in der Schweiz auch noch nie eingesetzt worden. Befragte Juristinnen und Juristen, spezialisiert auf Vergaberecht, zeigen sich eher skeptisch gegenüber der Methodik. Denn das Vergaberecht gäbe verschiedene Grundsätze vor, wie die Stärkung des Wettbewerbs, Wirtschaftlichkeit, Transparenz und den Gleichbehandlungsgrundsatz. Gerade der Grundsatz der Gleichbehandlung und die Transparenz könnten durch den Einsatz der AHP-Methodik möglicherweise verletzt sein, sagt beispielsweise Beschaffungsspezialistin Claudia Schneider-Heusi, Anwältin in Zürich mit Spezialgebiet Vergaberecht.
Sie argumentiert mit dem fehlenden Notensystem: „Wenn ein Angebot sehr gut ist, dann muss es auch eine sehr gute Note erhalten. Und nicht in Abhängigkeit davon, ob es noch weitere sehr gute Angebote gebe oder nicht. Und wenn zwei sehr gute Angebote nahe beieinanderliegen, dann könnte eine kleine Differenz ein großes Gewicht erhalten. Das kann heikel sein und ein Bild auch verzerren”, sagt sie, wohl auch im Hinblick auf mögliche Einsprüche pder Anfechtungen. Bezüglich des Transparenz-Grundsatzes weist sie darauf hin, dass Anbieter im Vorfeld wissen müssten, welche Zuschlagskriterien mit welcher Gewichtung verwendet würden und mit welcher Notenskala ihre Angebote bewertet würden. Weil wenn nur die Differenz bewertet werde, könne das zu einer Veränderung der Gewichtung der Zuschlagskriterien führen. Ein (weiteres) großes Fragezeichen bestehe laut ihr auch darin, ob die Vergabestelle überhaupt begründen könne, wie die Bewertung zustande gekommen sei, erklärt Schneider Heusi.
Armasuisse: Grundsätze eingehalten
Armasuisse betont dazu nochmals, beide Grundsätze seien eingehalten worden. Das würden die hausinternen Juristen und auch eine externe Plausibilitätsüberprüfung durch die Anwaltskanzlei Homburger bestätigen. Wie Projektleiter Darko Savic betont, mache das Vergaberecht keine Vorgaben an die Bewertungsmethode. Und der Grundsatz der Gleichbehandlung sei erfüllt: „Ein Kandidat, der besser ist, erhält mehr Punkte. Wenn Kandidaten ähnlich sind, erhalten sie ähnliche viele Punkte.”
Anwältin Claudia Schneider-Heusi bleibt hingegen skeptisch. Der Einsatz der Methode sei juristisch zumindest heikel, sagt sie. Und auf Gasser’s Frage, was es bedeute, wenn eine Anwältin „heikel” sage, antwortete sie: „Ein angerufenes Gericht könnte zum Schluss kommen, die Vergabestelle sei im konkreten Fall mit der Wahl dieser Methode nicht korrekt vorgegangen. Und dann würde das Gericht den Vergabeentscheid aufheben.” Sie würde deswegen auch vom Einsatz der AHP-Methode abraten.
Wie der SRF-Mann jedoch ausführt, kann im Fall der Kampfjet-Beschaffung kein unterlegener Anbieter an ein Gericht gelangen und sich über die Methodik beschweren. Rechtsmittel sind in diesem konkreten Fall ausgeschlossen.
Kaum Chancen auf Revidierung – nur wegen AHP
Was heißt das jetzt für das Ergebnis der Kampfjet-Beschaffung? Wäre mit einer herkömmliche(re)n Methode ein anderer Gewinner herausgekommen? Wahrscheinlich nicht. Hingegen könnte es durchaus sein, dass die Abstände zwischen den Flugzeugmustern und den Angeboten kleiner wären. Das sind aber hypothetische Annahmen – es gab keine Zweitauswertung mit einer herkömmlichen Bewertungsmethodik.
Anstelle eines Gerichts wird aber die Politik urteilen. Das Schweizer Parlament wird wie erwähnt Anfang nächsten Jahres die „Armeebotschaft-2022” diskutieren. Die Linke (alle größeren Städte sind grün) wird dagegen auftreten und da wird sich sicher auch die Frage auftun: War die AHP-Methode – welche juristische Fragen aufwirft und schwer durchschaubar ist – das richtige Werkzeug, um Kampfjets plus Ausrüstung plus Support über eine Gesamtlebensdauer zu evaluieren und zu bewerten?
Hürden für die Gegner
Sozialdemokraten, Grüne und die „notorischen” Armeeabschaffer der GsoA (Gruppe Schweiz ohne Armee, nicht im Parlament) werden in ihrem Widerstand sicher auch diese Frage aufwerfen. Die 50.000 Unterschriften sind ihnen gewiss. Viel weniger wahrscheinlich sind hingegen „Abweichler” unter den parlamentarischen Befürwortern aus dem Regierungslager – auch wenn die Gegner nach der Wahl eines US-Flugzeuges (und zudem der Patriot von Raytheon für die Boden-Luftabwehr – Militär Aktuell berichtete) auch auf eventuelle „Amerika-Hasser” unter den ganz Rechtskonservativen in der SVP hoffen. Die Gegner – sie sind wie erwähnt mehrheitlich nicht gegen neue Flugzeuge – haben zudem noch eine andere steile Hürde zu nehmen: Die Mehrheit der Anzahl der Kantone – das sogenannt „Ständemehr” aus 1874. Jenes zählt zwar nicht bei jeder Art der Schweizer Volksentscheide, sticht aber das „Stimmenmehr” und ist bei Referenden zu Militärvorlagen noch nie erzielt worden. Bei der stimmenmäßig nur haarscharf knapp-positiven Grundabstimmung von vor einem Jahr, stimmten beispielsweise 18 Kantone mehrheitlich für die neuen Kampfjets, teilweise mit Mehrheiten von deutlich mehr als 60 Prozent.
Militär Aktuell bedankt sich bei Tobias Gasser/SRF für die Zusammenarbeit.
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