Militär Aktuell Doppelinterview: Im Gespräch mit den Buchautoren Oberst des Generalstabsdienstes Markus Reisner und Major Michael Gurschka über die „Wiener Operation” der Roten Armee, Einzelschicksale im Zweiten Weltkrieg und die Doktrin der russischen Streitkräfte.

Die beiden Bundesheer-Offiziere Oberst des Generalstabsdienstes Markus Reisner und Major Michael Gurschka haben kürzlich Bücher zum Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Während Reisner in „Die Schlacht um Wien” die sogenannte „Wiener Operation” der Roten Armee im März/April 1945 aus sowjetischer Perspektive erzählt, lässt Gurschka in „Wir waren die Jüngsten” Zeitzeugen von ihren Fronterfahrungen berichten. Wir haben mit den Autoren über die Schrecken des Krieges und die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels zur Geschichtsaufarbeitung gesprochen, aber auch spannende Brücken in die Gegenwart gebaut.

@Privat
Recherche I: Michael Gurschka hat für sein Buch viele Interviews mit Zeitzeugen geführt.

Herr Gurschka, Sie sind Enkelsohn eines Stalingrad-Überlebenden und schildern in ihrem Buch die Schicksale von Soldaten der letzten elf zum Wehrdienst eingezogenen Jahrgänge 1919 bis 1929. Wie groß ist das Interesse an dem Thema in der Öffentlichkeit?
Michael Gurschka: Sehr groß, das Feedback an meinem Buch aus Österreich, aber auch aus Deutschland ist enorm. Ich habe schon für mein erstes Werk „Vom Weinviertel nach Stalingrad” mit vielen Zeitzeugen gesprochen und 600 Einzelschicksale junger Männer aus Niederösterreich, Wien und dem Burgenland dokumentiert. „Wir waren die Jüngsten” ist nun gewissermaßen eine Fortsetzung und mit dem Material, das ich in der Zwischenzeit sammeln konnte, sind auch bereits zwei weitere Bücher geplant. Ich stieß in meinen Gesprächen mit Zeitzeugen übrigens durchaus auch auf überraschende Aspekte.

Inwiefern überraschend?
Gurschka: Ich hätte bei der Auswertung des Materials, das von Kriegstage- und Soldbüchern bis hin zu Briefkorrespondenzen, Mitschriften und Zeitzeugeninterviews reichte, mit viel Propaganda zum Dritten Reich gerechnet. Tatsächlich kam mir derartiges aber in keinem einzigen Dokument unter. Natürlich wurde da und dort der Feind beschimpft, inhaltlich ging es aber meist um den Alltag an der Front und das Leben zu Hause. Wie die Frau mit der Landwirtschaft klarkommt, wer eingezogen wurde und wie es den Nachbarn geht. Für mich überraschend war auch, wie präsent bei vielen Zeitzeugen, die nicht an der Front waren, immer noch die Angst ist, die sie damals vor einem Besuch des Ortsgruppenleiters hatten. Man wusste, dass er die Sterbeparten von gefallenen Angehörigen überbringt, ein Besuch war also stets mit dem Risiko einer Todesnachricht verbunden.
Markus Reisner: Es ist unglaublich, wie sehr die Ereignisse von damals in den Menschen immer noch nachwirken – und da ist es ganz egal, auf welcher Seite sie gekämpft haben. Auch die russischen Veteranen, mit denen ich gesprochen habe, erzählten unter Tränen, wie ihre Kameraden gefallen sind und welche verheerenden Dinge sie während des Krieges erlebt haben.

„Ich hätte bei der Auswertung des Materials mit viel Propaganda zum Dritten Reich gerechnet. Tatsächlich kam mir derartiges aber in keinem einzigen Dokument unter.“

Herr Reisner, Sie beschreiben in ihrem Buch aus Sicht der Sowjets die „Wiener Operation”, die am 15. April mit der Einnahme Wiens abgeschlossen wurde. Warum wählten Sie diesen Ansatz?
Reisner: Weil wir meist ein sehr einseitiges Bild von sowjetischen Soldaten haben, das sehr von den Übergriffen nach Kriegsende geprägt ist. Tatsächlich gibt es aber kaum Literatur und Originalunterlagen, die uns erklären könnten, wie die sowjetischen Soldaten dachten und warum sie manche Handlungen gesetzt haben. Hat die Armeeführung die Ausschweifungen nach Kriegsende gutgeheißen und wie ist die Rote Armee konkret vorgegangen? Das waren Fragen, die mich interessiert haben und auf die ich in den russischen Archiven und im Gespräch mit Veteranen auch Antworten gefunden habe, mit denen ich diese Lücke in der Zeitgeschichtsschreibung schließen konnte.

@Picturedesk
Neue Front im Osten: Am 22. Juni 1941 begann Hitler seinen Angriffskrieg auf die Sowjetunion. Nach anfänglich großen deutschen Erfolgen leiteten die Niederlage bei Stalingrad und später bei der Operation Bagration (siehe Interview) Deutschlands vollständige Niederlage ein.

Haben die Antworten Sie überrascht?
Reisner: Es gab schon einige Punkte, die ich nicht erwartet hätte. Entgegen der bei uns vorherrschenden Meinung war es beispielsweise nur selten so, dass die sowjetischen Soldaten betrunken angegriffen haben und mit ihrer Masse die Deutschen mehr oder weniger erdrückt hätten. Das mag insbesondere zu Beginn des Russlandfeldzugs der Fall gewesen sein, als die sowjetischen Offiziere keine anderen Mittel mehr sahen, um die rasch vorrückende Offensive der Deutschen zum Stehen zu bringen. Später haben sie sich aber sehr genau überlegt, wie sie vorgehen. Trotzdem waren die Verluste enorm, wie das auch den Statistiken der 3. Ukrainischen Front zu entnehmen ist, die an der Wiener Operation beteiligt war. Demnach verlor nur dieser eine Großverband auf dem Weg nach Wien pro Tag durchschnittlich 3.500 Mann durch Tod und Verwundung. Am Beginn der Offensive Mitte März 1945 hatte eine selbstständige russische Panzerbrigade 60 bis 65 Panzerfahrzeuge, einen Monat später in Wien waren es dann nur noch fünf bis zehn.
Gurschka: Besonders einprägend war die Erzählung eines Zeitzeugen, der knapp vor Kriegsende im Weinviertel bei einem massiven Artillerieangriff verschüttet wurde und sich nicht mehr selbst befreien konnte. Einer der anrückenden russischen Soldaten wollte ihn erschießen, traf ihn allerdings nicht. Schlussendlich wurde er doch befreit, mitgenommen und später verhört. Die Rote Armee verfügte zu diesem Zeitpunkt bereits über eine gewaltige Feuerüberlegenheit und mit ihren schnell vorrückenden Kräften ließen sie den Deutschen keine Zeit, sich zu reorganisieren. Spätestens ab 1944 und der Operation Bagration war das Momentum ganz klar auf Seite der Sowjets.

„Am Beginn der Offensive Mitte März 1945 hatte eine selbstständige russische Panzerbrigade 60 bis 65 Panzerfahrzeuge, einen Monat später in Wien waren es dann nur noch fünf bis zehn.“

Die Operation Bagration endete im Sommer 1944 mit dem Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte.
Reisner: Wenn wir an das Ende des Deutschen Reichs denken, dann haben wir neben Stalingrad vor allem die Landung in der Normandie als entscheidenden Wendepunkt im Kopf. Die sowjetische Operation Bagration war für den Kriegsausgang aber wesentlich bedeutungsvoller und es trifft die russische Seele nach wie vor hart, dass dieser Erfolg im Westen nicht ausreichend anerkannt wird.

@Kral Verlag
Mit sowjetischen Darstellungen, Zeitzeugenberichten, authentischen Kartenausschnitten und vielen bisher unveröffentlichten Fotos schließt Oberst des Generalstabsdienstes Markus Reisner in seinem Buch „Die Schlacht um Wien 1945” (2020, ISBN 978-3-99024-898-0) eine der letzten Lücken der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung. Er beschreibt die „Wiener Operation” aus Sicht der Roten Amee und liefert dabei auch Interessantes zur tatsächlichen Rolle der österreichischen Widerstandsbewegung.
Major Michael Gurschka wiederum berichtet in „Wir waren die Jüngsten” (2020, ISBN 978-3-99024-896-6) anhand zahlreicher Zeitzeugenberichte und Kriegskorrespondenzen von der letzten groß angelegten Panzerschlacht an der Ostfront 1943 bis zum bitteren Ende im österreichischen Weinviertel. Dabei konzentriert er sich auf Soldaten der letzten elf zum Wehrdienst eingezogenen Jahrgänge (1919 bis 1929).
Beide Bücher sind im Kral Verlag erschienen und im gut sortierten Buchhandel erhältlich.

Zurück zur „Wiener Operation”, die Wien vor großen Kämpfen bewahrt hat.
Reisner: Zum Glück, in Budapest war das kurz zuvor völlig anders. Die Stadt hatte eine lange Belagerung mit mehr als 38.000 Ziviltoten und großen Zerstörungen zu überstehen, Wien drohte Ähnliches. Dabei hält sich übrigens hartnäckig das Narrativ, dass die Widerstandsgruppe um Major Carl Szokoll den Sowjets die Einnahme erleichterte, in dem Oberfeldwebel Ferdinand Käs und Obergefreiter Johann Reif das Oberkommando der 9. Gardearmee der 3. Ukrainischen Armee in Hochwolkersdorf geheim über die deutschen Verteidigungspläne und die Möglichkeit einer Westumfassung der Stadt informierten.

Die US-Kavallerie am Beginn des Zweiten Weltkriegs

Was so nicht stimmt?
Reisner: Als das Verhör der beiden begann, war der Befehl zur Westumfassung Wiens gemäß sowjetischen zeitgenössischen Unterlagen bereits gegeben. Die tatsächlichen Folgen ihres mutigen Einsatzes waren somit gering, aber sie sind beide ein enormes Risiko eingegangen und waren vom Willen beseelt, einen Beitrag zur Befreiung Österreichs zu leisten. Dies ist überaus beachtenswert und ein Beispiel dafür, dass man auch in höchster Not seinem Gewissen folgen kann. Die Sowjets hatten die Schwachstelle in der deutschen Verteidigung bereits davor erkannt. Ein interessanter Aspekt, der dafür entscheidend war und der in der Zeitgeschichtsschreibung weitgehend ausgeblendet wird, ist die starke sowjetische Frontaufklärung. Teils wurden schon Wochen und sogar Monate vor einer Hauptoffensive in der Tiefe des Feindes kleine Trupps abgesetzt, die gezielt mögliche Vorstoßrouten aufklärten und die im konkreten Fall etwa den Vormarsch mechanisierter Kräfte durch den Wienerwald ermöglichten.

@Privat
Recherche II: Markus Reisner zusammen mit Peter Sixl und einem russischen Veteranen in St. Petersburg.

Wirken diese Erfahrungen immer noch nach? Aufklärung spielt in der russischen Armee schließlich nach wie vor eine große Rolle.
Reisner: Ja, wobei die Aufklärung in der Tiefe des Gegners nur ein Aspekt ist. Auch viele andere vor allem in den Kriegsjahren 1944 und 1945 gemachte Erfahrungen sind bis heute Teil der russischen Militärdoktrin, wenn wir etwa an den massiven Einsatz von Kampfunterstützungsmitteln, von mechanisierten Kräften im eigentlich für diese nicht gangbaren Raum oder schnelle Vorstöße in die Tiefe denken. Ein entsprechendes Vorgehen konnten wir zum Teil auch in Syrien und der Ukraine beobachten.

Inwiefern basierten diese Vorgangsweisen auf den zu Beginn des Krieges gemachten Erfahrungen, als die deutsche Armee in gewaltigen Kesselschlachten innerhalb kurzer Zeit ganze Armeen zerschlagen hat?
Reisner: Streitkräfte entwickeln sich stets aus der Natur eines Staates und aus seiner Geografie heraus. Für die sowjetischen Streitkräfte standen daher aufgrund der enormen Größe des Landes stets der Bewegungskrieg und die Operation mit schnellen Kräften im Fokus. Ziel war es, einen Gegner rasch umfassen und von seiner Versorgung abschneiden zu können. Viele berühmte deutsche Generäle wie Heinz Guderian waren in den 1930er-Jahren in der Sowjetunion und ich behaupte, dass sie von dort auch viele dieser Ideen mitgebracht und anschließend weiterentwickelt haben.

@Getty Images
Ziel erreicht: Die „Wiener Operation“ der Roten Armee endete am 15. April 1945 mit der Einnahme der österreichischen Hauptstadt. Rund drei Wochen später war der Krieg dann mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands auch im restlichen Europa vorbei.

Blicken wir abschließend nochmals zurück zum Zweiten Weltkrieg und dessen Aufarbeitung: Wo stehen wir da, wenn wir bedenken, dass immer noch viele Zeitzeugen ihre Geschichte nicht erzählt haben und es nur wenig Literatur gibt, in der auch Quellen des einstigen Feindes objektiv Beachtung finden.
Gurschka: Eine gute Frage. Meines Erachtens sind wir noch lange nicht fertig, da wird noch viel aufbrechen, wenn in ein paar Jahren die letzten Zeitzeugen gestorben sind. Das Interesse am Thema ist jedenfalls groß und es ist schon eine Genugtuung für mich, mit meiner Arbeit auch zukünftigen Generationen etwas mitgeben zu können.
Reisner: In der Zeitgeschichtsschreibung ist es leider nach wie vor so, dass wir noch oft von „den Nazis” oder „den deutschen Soldaten” sprechen. Was wir dabei vergessen: Unter „den deutschen Soldaten” waren auch viele Österreicher! Wir können die Geschehnisse nur dann objektiv auf­arbeiten, wenn wir uns diesen Aspekt eingestehen. Die Verbrechen wurden nicht nur von „den anderen” begangen, sondern auch von unseren Vorfahren. Das wäre gerade jetzt dringend notwendig. Die Corona-Pandemie lässt viele vermeintlich gut verheilte gesellschaftliche Wunden wieder aufbrechen und man muss sich natürlich fragen, wie es mit dem sozialen Frieden aussieht, wenn wir im Sommer vielleicht 700.000 oder 800.000 Arbeitslose haben. Dann könnten sich durchaus Parallelen zu den 1920er- und 1930er-Jahren auftun, als vermeintliche Retter wie Adolf Hitler verführerisch auf die Bevölkerung wirkten. Natürlich werden wir es mit keinem neuen Hitler zu tun bekommen, aber wir könnten uns plötzlich in Mechanismen wiederfinden, die an faschistische Systeme erinnern.
Gurschka: Teil dieses Prozesses muss auch sein, dass man sich mit dem damaligen Feind auseinandersetzt und Zeitzeugenberichte objektiv gegenüberstellt. Wenn wir das nicht tun und Feindbilder nicht dekonstruieren, werden sie immer Feindbilder bleiben.

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Quelle@Picturedesk, Getty Images, Privat, Kral Verlag