Seit Montag üben russische und chinesische Soldaten gemeinsam im Rahmen von „Sibu/Interaction 2021”. Das Manöver findet auf dem Trainingsgelände Qingtongxia der chinesischen Armee in der autonomen Provinz Ningxia Hui im Nordwesten Chinas statt und ist die erste russisch-chinesische Militärübung auf chinesischem Staatsgebiet; davor war immer Russland Gastgeber der gemeinsamen Übungen.
Insgesamt 10.000 Soldaten nehmen an „Sibu/Interaction 2021” teil. Von der russischen Armee beteiligen sich Einheiten aus dem östlichen Militärbezirk, von der Volksbefreiungsarmee aus der westlichen Militärregion. Panzer, Artillerie, Kampflugzeuge und Drohnen sind bei der Übung im Einsatz, darunter russische Su-30SM-Kampfflugzeuge, chinesische Mi-8/17, das Raketenabwehrsystem HQ-17 und das Transportflugzeug Y-20.
Geübt wird unter einem gemeinsamen Kommando, wobei russische Soldaten auch die chinesische Ausrüstung nutzen. Bilder und Videos von der Übung zeigen, wie russische Soldaten unter anderem auf chinesischen ZTL-11 Radpanzern, ZBL-09 Schützenpanzern und ZBL-08 Schützenpanzern mit einem 8×8 Radantrieb trainieren.
Die Übung besteht aus zwei Phasen. In der ersten geht es darum, die gemeinsame Planung, Entscheidungsfindung und Koordination der Operationen zu erproben. Während der zweiten Phase werden Anti-Terror-Aktionen durchgespielt, darunter Sättigungsangriffe, die Zerstörung von feindlichen Operationssystemen und Offensivangriffe.
Das Ziel von „Sibu/Interaction 2021” ist es, die Fähigkeiten und Interoperabilität der Streitkräfte beider Seiten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu testen und zu verbessern. Dabei gehe es auch darum, die militärische Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den Streitkräften beider Seiten zu stärken, heißt es vom russischen Außenministerium. Das Ziel: gemeinsam den Frieden und die Stabilität in der Region stärken.
Die strategische Bedeutung der Übungen betonte während der Eröffnungszeremonie am 9. August der stellvertretende Kommandeur der westlichen Militärregion Chinas Generalleutnant Liu Xiaowu. Das Manöver zeige, dass die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland, deren gegenseitiges Vertrauen und die pragmatische Zusammenarbeit ein neues Niveau erreicht hat, so Liu.
Brothers in arms
Moskau und Peking bekunden wiederholt ihren Willen zur engeren Verteidigungszusammenarbeit. Ende Juli haben der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu und sein chinesischer Amtskollege Wie Fenghe am Rande des Treffens der Verteidigungsminister aller Mitgliedstaaten der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SZO) in Duschanbe, Tadschikistan, die steigende Bedeutung der russisch-chinesischen Partnerschaft betont. Russland und China sind eine stabilisierende Kraft in der heutigen Welt, sagte der chinesische Verteidigungsminister. Wenige Wochen vorher hatten der russische Präsident Wladimir Putin und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping mit der Verlängerung des 2001 unterzeichneten Freundschaftsvertrags ihre Absicht bekräftigt, das bilaterale Verhältnis weiter zu vertiefen.
Eine reine Inszenierung ist die russisch-chinesische Annäherung gewiss nicht. Tatsächlich sind Moskau und Peking in den vergangenen Jahren wirtschaftlich, politisch und militärisch näher zusammengerückt. Die gemeinsamen Militärmanöver finden seit mehr als 15 Jahren statt; in den letzten Jahren haben sie aber deutlich an Frequenz und Ausmaß gewonnen. Im September 2018 beteiligte sich China an dem russischen Großmanöver „Wostok”; 2019 übten sie im Rahmen von „Tsentr” und zusätzlich bei einer Marineübung gemeinsam mit dem Iran im Indischen Ozean; es folgte „Kavkaz” 2020. Seit 2012 üben die beiden Staaten gemeinsam auch auf See, darunter im Südchinesischen, Gelben und Japanischem Meer.
Auch im Rüstungsbereich haben Moskau und Peking ihre Kooperation vertieft. Seit 2016 liefert Moskau der chinesischen Volksbefreiungsarmee Su-35 Kampfjets; 2018 bekam sie die erste Einheit des S-400 Luftabwehrsystems.
Ein weiterer bedeutender, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkter Schritt war das von Moskau und Peking im Mai 2015 unterzeichnete bilaterale Abkommen über „Informationssicherheit”. Beide Seiten verpflichten sich darin, keine Cyberattacken („pledge not to hack”) gegen die Infrastruktur des anderen Staates durchzuführen und Technologien zu bekämpfen, die die „interne politische und sozioökonomische Lage der Länder destabilisieren” und die „öffentliche Ordnung stören” könnten.
Pragmatische Motive
Dass Moskau und Peking auf allen Ebenen verstärkt zusammenarbeiten, hat mit der Entfremdung beider Seiten vom Westen und dem Anspruch der Vereinigten Staaten auf globale Dominanz zu tun. Mit ihrem geopolitischen Schulterschluss wollen beide Seiten dem Einfluss der USA Einhalt gebieten. Zudem sieht sich Russland wegen der westlichen Sanktionen gezwungen, nach anderen wirtschaftlichen Partnern zu suchen.
Der Zusammenhalt Moskaus und Pekings soll auch eine an die eigene Bevölkerung und den Rest der Welt gerichtete Botschaft senden, die lautet: Wir sind nicht isoliert und auf den Westen angewiesen, sondern haben alternative strategische Partner an unserer Seite.
Die Autoren einer Analyse des Carnegie Endowment for International Peace betonen die praktischen Vorteile der Verteidigungskooperation für beide Seiten. Sie stellen fest: Die gemeinsamen militärischen Manöver von Russland und China befreien beide Seiten von der Notwendigkeit einer großangelegten Truppenpräsenz an ihrer 4.000-Kilometer langen Grenze, wie sie noch im Kalten Krieg, einer Zeit des gegenseitigen Misstrauens, notwendig war. Wichtig erscheint den Autoren in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die entspannte Lage es beiden Seiten ermöglicht, ihre Verteidigungsressourcen anderswie zu verteilen, und sich in ihrer Verteidigungsplanung auf die Konkurrenz mit dem Westen zu konzentrieren.
In militärischer Hinsicht scheint von den gemeinsamen Militärmanövern vor allem China zu profitieren. In den vergangenen Jahren hat Russland deutlich an Kampferfahrung dazugewonnen, zuletzt im Rahmen seiner Intervention in Syrien. China selbst hingegen hat kaum Einsatzerfahrung und nutzt die gemeinsamen Übungen dazu, von Russland zu lernen und die eigenen Fähigkeiten zur Durchführung von Operationen zu verbessern.
Eine ambivalente und asymmetrische Beziehung
Trotz gemeinsamer Interessen ist das russisch-chinesische Verhältnis keineswegs frei von Differenzen. Im Gegenteil: Die Beziehung ist asymmetrisch und birgt Konfliktpotential. Die von Peking stets betonte strategische Relevanz der Beziehungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass China nicht zuletzt aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts den Ton angibt. China ist Russlands zweitwichtigster Handelspartner. Die chinesische Volkswirtschaft ist fast zehn Mal so groß wie die russische. Dass Moskau deswegen wenig Verhandlungsspielraum bleibt, zeigte sich, als es 2014 infolge der westlichen Sanktionen die wirtschaftliche Nähe Chinas suchte. Peking stellte Forderungen, Moskau musste sie erfüllen. So setzte es die vor 2014 bestehenden Hürden für chinesische Unternehmen herab und verkaufte China Erdöl und Erdgas zu günstigeren Konditionen.
Vor allem aber fürchtet Moskau eines: dass China sein ökonomisches Gewicht dazu nutzen könnte, um seinen politischen Einfluss auszubauen. Sorgen bereitet Moskau auch Chinas wachsende Präsenz in Zentralasien, einer Region, die Moskau historisch als seinen Hinterhof betrachtet. In den vergangenen Jahren hat China in die Region – das geographische Herzstück von Chinas „One Belt One Road” Infrastrukturprojekt – stark investiert. Russland sieht dadurch seine strategischen Interessen gefährdet. Chinas Ausbau seiner militärischen Präsenz in der Region sieht Moskau als Bestätigung dafür, dass Pekings Pläne für die Region über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgehen. Im Februar 2019 etwa wurde bekannt, dass China seit drei Jahren in der autonomen Provinz Berg-Badachschan an der Grenze zu Afghanistan eine geheime Militärbasis betreibt. Chinesisch-tadschikische Manöver sowie Chinas Unterstützung Tadschikistans bei der Errichtung von militärischer Infrastruktur unterstreichen die Bedeutung, die China dem Land beimisst, das auch für Russland strategisch relevant ist.
Die Partnerschaft mit China ist für Russland ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Denn mit China nicht zu kooperieren, ist keine langfristige Alternative. Indes versucht Russland, die Asymmetrie in der Beziehung zu China soweit es geht auszubalancieren, etwa indem es moderne Waffen an Länder liefert, die mit China rivalisieren oder ungelöste Territorialkonflikte haben, wie Indien und Vietnam. Hanoi etwa hat von Moskau sechs U-Boote erhalten, die es im von China beanspruchten Südchinesischem Meer einsetzen will. Neben den Kampfjets MiG-29 hat Neu Delhi mit Moskau 2018 auch den Kauf von S-400 Luftabwehrsystemen vereinbart, die demnächst geliefert werden sollen. Viele weitere Druckmittel hat Moskau gegen Peking aber wohl nicht.