Ob es letztlich ein Zufall war oder im Zusammenhang mit dem Schicksal des zu diesem Zeitpunkt noch in Schwebe befindlichen „New Start”-Nuklearwaffenvertrag stand – wir wissen es nicht. Aber egal was die Motivation dahinter war, das russische Verteidigungsministerium hat jedenfalls kürzlich brandaktuelle Fotos seiner drei Bombertypen der sogenannten Langstrecken-Luftwaffe (ADD, Авиация Дальнего Действия) veröffentlicht, auf welchen im „westlichen Stil” vor den Maschinen die primären Nuklearwaffen zu sehen sind.

Die Aufnahmen sind Teil eines größeren Bildpakets, welches am 6. November 2020 vom Verteidigungsministerium hochgeladen wurde, zeigen ähnlich inszenierte Frontalansichten der drei Bombertypen, mit denen derzeit die russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte (VKS) ausgerüstet sind. Es handelt sich um Tu-160M (NATO: Blackjack), Tu-95MS (NATO: Bear-H) und Tu-22M3 (NATO: Backfire-C). Jeder der drei Flugkörperträger – alle vom Tupolev-Konstruktionsbüro entwickelt – präsentiert eine ziemlich komplette Auswahl seiner potenziellen Waffenlasten. Allerdings finden sich darunter auch einige „Lücken”.

@Russian MoDTu-160M
Vor dem Überschall-Schwenkflügler – die Russsen bezeichnen ihn als das stärkste Kampflugzeug der Welt – befinden sich zwei Reihen von Unterschall-Marschflugkörpern. Die hintere Reihe bilden zwölf Unterschall-Marschflugkörper vom Typ X-55SM (NATO: AS-15 Kent), eine bekannte Waffe, die ihre Wurzeln in den 1970er-Jahren hat und – via Ukraine – bereits China oder dem Iran als Vorlage für eigene Cruise-Missiles diente. Die Steuerflächen des Turbofan-getriebenen Flugkörpers sind weggeklappt, zwei konforme Kraftstofftanks zur Reichweitenverlängverung auf rund 2.900 Kilometer sind angebracht. Einige der X-55SM wurden auf die nichtnukleare X-555Sch (NATO: AS-22 Kluge) umgerüstet, aber die hier erkennbaren scheinen nuklearbewaffnete X-55SM zu sein, da ihnen die vorderen Stabilisierungsflossen der konventionellen Version fehlen.

@Russian MoDNäher zur Kamera befinden sich auf Trollies ein weiteres Dutzend wesentlich modernere Unterschall-Marschflugkörper X-101/102. Diese Waffe der neuen Generation wurde von Anfang in beiden Varianten entwickelt, der nichtnukleares X-101 (NATO: AS-23A Kodiak) und der nuklearen Version X-102 (AS-23B). Wie die X-55SM werden die Flugkörper von Turbofan-Triebwerken angetrieben, die maximale Reichweite der X-101-Rakete liegt russischen Kollegen zufolge bei 3.000 Kilometer, während die Atomwaffe bis zu 4.000 Kilometer weit fliegen können soll. Die konventionelle Version ging 2010/11 in Serie und wurde während der russischen Kampagne in Syrien sowohl von Tu-160M als auch Tu-95MS eingesetzt. Die Tu-160M kann ihre Waffen nur intern in zwei Tandemschächten tragen, jede enthält einen Rotationswerfer der je sechs Stück tragen kann, insgesamt also zwölf X-55 oder 12 X-101/102.

@Russian MoDTu-95MS
Ein ähnlicher Bomberveteran wie die B-52 der USA sind die Turboprop-Maschinen der 68 Jahre alten Tu-95 Serie (NATO: Bear), hier in der letzten Version Tu-95MS (Bear-H). Die NK-12 Propellerturbinen, welche die gegenläufigen 8-Blatt Propeller mit 5,6 Meter Durchmesser antreiben, leisten je 15.000 Wellen-PS und ergeben das mit rund 900 km/h bis heute schnellste Turbopropflugzeug der Welt.

Wenig bekannt ist hier vielleicht ein Österreich-Bezug, nämlich dass jenes NK-12 das Werk des Wiener Ingenieurs Ferdinand Brandtner ist, welcher als Konstrukteur bei den Junkers-Motorenwerken 1945 nach Russland deportiert und jahrelang beim Kusnezow-Konstruktionsbüro eingesetzt wurde (siehe Buchtipp). Auch die Bear-Serie wurde nach dem Ende des Kalten Krieges für größere Flexibilität auf konventionelle Munition erweitert, daher sehen wir hier die gleichen Waffentypen wie bei der Tu-160M, wie wohl mit unterschiedlicher Anzahl: Sechs X-55SM und acht X-101/102. Intern kann die Tu-95 in einem Bombenschacht auf dem Rotationswerfer nur sechs Flugkörper aufnehmen, daher wurden auf dem H-Modell vier Doppelstarter unter den Flügeln montiert. Daher sind nun auch die neueren X-101/102 möglich, welche zu groß für den Bombenschaft waren.

@Russian MoDTu-22M3
Als letzter wird der Tu-22M3 (NATO: Backfire-C) mit mittlerer Reichweite gezeigt, ein weiteres Überschall-Schwingflügel-Design. Hier wurden ausschließlich Freifall-Bewaffnungsoptionen präsentiert, darunter ein Paar riesige FAB-3000-Allzweckbomben mit einem Gewicht von jeweils drei Tonnen, gefolgt von immer kleineren – einschließlich stromlinienförmiger – Waffen sowie zwei verschiedene Arten von Allzweckbomben mit flacher Front und einem Gewicht von 500 Kilogramm. Zusätzliche Bomben sind an den externen Trägern des Backfire unter dem feststehenden Teil der Flügel angebracht. Alle diese Bomben stammen noch aus der Zeit des Kalten Krieges und spiegeln die Tatsache wider, dass die überwiegende Mehrheit der von der VKS eingesetzten Kampfmittel immer noch ungelenkt ist. Offenbar wurde das auch im Syrienkrieg, wo nach anfänglichem Einsatz von Präzisionsmunition immer mehr „dumme” Freifallmunition zu sehen war, auch an eigentlich modernen taktischen Typen wie der Su-34 (NATO: Fullback).

@Russian MoDÜberraschenderweise nicht gezeigt wurde die Raketenbewaffnung des Tu-22M3. Die Backfire-C kann maximal drei, in der Regel jedoch ein oder zwei Exemplare der massigen X-22-Rakete tragen, die der NATO als AS-4 Kitchen bekannt ist und schon Ende der 1960er-Jahre in Produktion ging. Diese Delta-Flügelwaffe, die von einem Raketentriebwerk mit flüssigem Brennstoff angetrieben wird, kann sowohl gegen hochwertige Ziele mit festem Boden als – Tu-22M fliegen in der Marineluftwaffe – auch gegen Kriegsschiffe eingesetzt werden. Mit mehr als Mach 4 im Endanflug bleibt das System trotz seines Alters ein Problem für Luftverteidigungssysteme. Es kann einen nuklearen oder konventionellen Sprengkopf tragen und hat eine maximale Reichweite von knapp mehr als 500 Kilometer. Es wird jetzt durch die äußerlich ähnliche X-32 ersetzt, deren Reichweite auf rund 880 Kilometer erweitert wurde.

Anzumerken ist, dass die Backfire im Gegensatz zu Tu-160 und Tu-95MS nicht durch den Start-Vertrag abgedeckt waren, was die Anzahl der insgesamt erlaubten Bomberflotten betrifft. Vor der nunmehr wieder realistischen Weiterführung des Vertrags (siehe Bericht) wurde damit gerechnet, dass die zwischenzeitlich ausgebaute Luftbetankungsfähigkeit des Tu-22M3 wiederhergestellt würde, um ihm eine echte strategische Reichweite zu bieten.

@VKS RossijPAK-DA
Neben den erwähnten Modernisierungen – teils schon lang – existierender Kampfflugzeuge arbeiten die russischen Konstruktionsbüros parallel auch an künftigen neuen Mustern. Dazu gehört auch der neue Stealth-Bomber PAK-DA, der wie sein US-Gegenstück B-21 in der Lage sein soll, in gut verteidigte Lufträume einzudringen und dabei nicht oder sehr spät detektiert zu werden. Russlands Vize-Ministerpräsident und Minister für den militärisch-industriellen Komplex, Juri Borissow, sagte 2019, dass der PAK-DA-Bomber zwischen 2025 und 2030 in Dienst gestellt werden könnte. Er solle in Baulosen produziert werden und die beschriebenen drei Bombertypen ablösen. Ein Vertrag zum Bau eines Prototyps wurde bereits im April 2017 unterschrieben, der Entwicklungsauftrag für ein neues Triebwerk bereits 2014. Tupolew hat angeblich bereits ein 1:1-Modell des PAK-DA aus Holz gebaut, zudem gibt es verschiedene Airbrush-Zeichnungen, die alle unterschiedliche Konfigurationen zeigen. Auf allen ist im Prinzip ein Nurflügel-Flugzeug mit vier Triebwerken und einem Cockpit für drei oder vier Besatzungsmitglieder erkennbar. Darin ist aber auch viel Phantasie, denn Elemente wie zum Beispiel senkrecht abstehende Winglets würden höchst zweifelhafte Stealth-Eigenschaften ergeben. Zudem modernisiert Tupolev gerade die Tu-160M-Flotte auf den Standard Tu-160M2 und werden einzelne solcher Bomber sogar neu wiedergebaut. Es ist daher schwer zu sagen, ob Russland über genügend personelle, finanzielle und materielle Ressourcen verfügt, um parallel zwei solche Großprogramme im Bomber-Bereich umzusetzen. Zum Vergleich: Schon dieses Jahr könnte erstmals ein halboffizieller Blick auf den kommenden chinesischen, strategischen Stealth-Bomber H-20 zugelassen werden.

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Quelle@Russian MoD, VKS Rossij