Nach dem Roll-Out, ersten Rolltests und der offiziellen Präsentation vor rund einem Jahr und dem 13-minütigen Erstflug am 21. Februar, hat der staatliche türkische Flugzeughersteller Turkish Aerospace Industries (TUSAS, beziehungsweise TAI) nun bekannt gegeben, dass der erste Prototyp (P0) seines Stealth-Kampfjets Kaan am 6. Mai neuerlich in der Luft war. Testpilot Gökhan Bayramoğlu brachte ihn während des 14-minütigen Fluges von der Fertigungsstätte nahe der türkischen Hauptstadt Ankara auf eine Höhe von 10.000 Fuß.
Auf den ersten Blick ist auf den veröffentlichten Fotos und Videostandbildern des Fluges zu sehen, dass das Flugzeug erneut ohne das gewinkelte Fenster für das elektrooptische Zielsystem unter der Nase und ohne die Infrarot-Suche und -Verfolgungseinheit (IRST) vor dem Cockpit geflogen wurde. Hingegen ist die Maschine nun neu lackiert und der Geschäftsführer von TUSAS, Temel Kotil, gab dazu bekannt: „Ja, wir haben jetzt Kaan gefärbt, aus Zeitgründen flog er zunächst unbemalt.”
Für Modellbauer: Der Jet ist laut Angaben von Kotil mit Militärlacken des türkischen Forschungs- und Chemieunternehmens Botek gespritzt, dabei wurden die Grundierungsfarbe Alpar MIL-PRF-23377 und die Polyurethan-Decklackfarbe MIL-PRF-85285 verwendet. Weiters ist zu erkennen gewesen, dass das „Flattern” der Elevon-Ruder vom ersten Flug eliminiert werden konnte. Auch bei diesem zweiten Flug blieb übrigens das Fahrwerk ausgefahren, der Kaan wurde von einem sogenannten „Chaseplane” begleitet, einer F-16D der türkischen Luftwaffe (THK).
Noch muss man die frischen Ergebnisse abwarten, ob jene jetzt ein erhöhtes Tempo in den anstehenden Flugtests einleiten. Der Flug fand aber zwei Wochen nach dem Abschluss von Verträgen der türkische Behörde für Verteidigungsindustrie (SSB) mit dem Flugzeughersteller statt, die das Entwicklungsprogramm des Kaan in die nächste Phase heben. SSB-Chef Haluk Görgün war bei dem jüngsten Flug jedenfalls anwesend und bezeichnete ihn als „einen weiteren historischen Moment der türkischen Geschichte”.
Zu den weiteren Entwicklungsplänen: Im zweiten Quartal sollen Konferenzen zur Überprüfung des kritischen Designs mit Subunternehmern stattfinden, gefolgt von Treffen zur Überprüfung des kritischen Designs für die Flugzeugsysteme des Blocks 10 im dritten Quartal. Es wird auch an der Qualifizierung von 1,5 Zentimeter an Stealth-Materialien (RAM-Beschichtung) sowie an Windkanal- und Flugsteuerungssystemtests gearbeitet. Zudem soll eine Roadmap für die Software entwickelt werden, um die Flugzeuge auszurüsten und um die Bodensoftware zu fixieren, mit der die Techniker ab der geplanten Einführung des Kaan im Jahr 2028 im Dienst der türkischen Luftwaffe verwenden sollen.
Zudem steht seit wenigen Tagen auch eine mögliche Beteiligung Malaysias am Kaan-Programm im Raum: Der stellvertretende türkische Verteidigungsminister Celal Sami Tufekci offerierte während einer Verteidigungsausstellung in Kuala Lumpur Malaysia die Möglichkeit, bei Kaan einzusteigen und gemeinsam an der Entwicklung des Kampfflugzeugs zu arbeiten.
Kaan-Projekt läuft seit 2010
Die Türkei arbeitet seit Anfang der 2010er-Jahre an Konzepten für ein einheimisches, schwer ortbares Kampfflugzeug der 5. Generation. 2016 wurden schließlich Verträge über die Entwicklung des Flugzeugs vereinbart. BAE Systems wurde beauftragt, die Entwicklungsphase zu unterstützen, wobei seit 2017 bis zu 100 britische Ingenieure in Ankara an dem damals TF-X genannten Programm arbeiten. Deren Präsenz lässt nun nach, da das Programm zu einer nationaleren Anstrengung übergeht.
Laut Celal Nur Alas, dem Leiter des Kaan-Programms bei TAI, ist das Flugzeug zu 90 Prozent „einheimisch”. Demnach unterstützen rund 100 türkische Unternehmen das Programm und stammen 24 der insgesamt 30 Subsysteme, die auf dem P0 verwendet wurden, von inländischen Unternehmen. In Zukunft soll sich dieser Anteil weiter erhöhen, die Re-Nationalisierung von Teilen, die aktuell noch von ausländischen Unternehmen bezogen wird, schreite gut voran, so Alas. Zudem soll ein Business-Jet für Flugtests zu Blitzeinschlägen, Nahfeldradar-Querschnittsversuchen sowie Strukturtests und -Komponentenverifizierungen umgerüstet werden.
Vor diesem Hintergrund hat TAI – beginnend mit dem ersten sogenannten „Schnitt” für die ersten Metallkomponenten im April 2021 – bereits ein Ökosystem und Einrichtungen aufgebaut, um für die vollständige Entwicklung bereit zu sein und die nationale Lieferkette zu stärken. TAI stellte den Kaan im März 2023 in einer re-dimensionierten Veranstaltung vor, nachdem ein großes Präsentationsfest nach den verheerenden Erdbeben in der Südtürkei und Nordsyrien im Februar desselben Jahres abgesagt worden war. Die offizielle Enthüllung fand dann wie berichtet am 1. Mai 2023 in Anwesenheit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan statt, der dann das „Milli Muharip Uçak” (MMU = nationales Kampfflugzeug) offiziell Kaan (türkisch für Khan, das Äquivalent von Großkhan oder König der Könige) nannte.
Kritische Triebwerksfrage beim Kaan
Der allgemeine Fortschritt wird als „nach Zeitplan” bezeichnet, noch 2024 will man mit der zweiten Maschine (P1) in die Endmontage übergehen und diese 2025 auf ihr Fahrwerk setzen, bevor sie dann im nächsten Jahr auch schon fliegen soll, wie es seitens des Herstellers heißt. Hauptangelpunkt der ambitionierten Pläne werden – aus heutiger Sicht – aber die Hochleistungs-Turbofan-Triebwerke sein.
Der Prototyp P0 wird von zwei General Electric F110-GE-129-Triebwerken aus der F-16 angetrieben, aber es ist aus heutiger Sicht fraglich bis unwahrscheinlich, dass diese US-Produkte über alle weiteren Prototypen (behauptet bis eventuell zu P9) hinaus und dann auch für den ersten Serien-Produktionsblock von 20 Stück zur Verfügung stehen werden. Neben industriepolitischen Überlegungen der gegenwärtigen US-Administration ist ein Hintergrund, dass besonders seitens Oppositionspolitikern Kritik und Zweifel am „nationalen Charakter” des Fliegers aufkamen. Es handle sich „nur um eine Montage ausländischer Teile”, heißt es von Kritikern.
Um dem für das gesamte Programm erfolgsgefährdenden Problem zu entgehen, sucht die Türkei aktuell einerseits Partner für eine (stets Jahre dauernde) Neuentwicklung. Denkbar wäre dabei beispielsweise eine gemeinsame Entwicklung durch die türkische KALE-Group zusammen mit Rolls-Royce oder Tusaş Engine Industries (TEI) und dem ukrainischen Hersteller Iwtschenko. Dem ukrainischen Botschafter in Ankara, Vasyl Bodnar, zufolge, werden entsprechende bilaterale Gespräche bereits seit vor dem Beginn des russischen Aggressionskrieges in der Ukraine (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) geführt.
Selbstbewusste Türkei
Andererseits ist aber auch eine gänzlich türkische Entwicklung durch TR-Motor und Tusaş Engine Industries (TEI) denkbar, auch um zukünftige Exporte zu ermöglichen. So wird dem Autor aus dem hochgradig mit seinem „Bruderstaat” militärindustriell verbundenen Aserbaidschan berichtet, dass man über den Fortschritt des Kaan sehr genau informiert (werden) wird. Zudem dementieren dieselben Quellen diverse Berichte, wonach sich Baku für den pakistanisch-chinesischen Jet JF-17 Thunder als Ersatz für die einst aus der Ukraine beschafften „blauen” MiG-29 entschieden habe. „Der würde uns perspektivisch nicht weit genug bringen”, hieß es zu Militär Aktuell.
Gänzlich unmöglich oder unrealistisch ist eine nationale Lösung keineswegs. Im März hat TEI ein erstes völlig eigenständig entwickeltes und funktionsfähiges Strahltriebwerk gezündet. Das TF6000 bestand seine Premiere auf dem Prüfstand – und läutete damit eine neue Phase der Entwicklung ein, an deren Ende ein massentauglicher Turbofan mit Nachbrenner TF10000 mit gut 44 kN Schub stehen soll, mit dessen Antrieb der unbemannte Kampfjet Kizilelma die Schallmauer durchbrechen soll. Dieser könnte dann – wie gesagt Jahre entfernt – ein Technologie-Demonstrator-Engine für den Kaan werden. Mahmut Faruk Akşit als Direktor von TEI ist sich sicher dass man das schaffen werde, immerhin habe man zum ersten Mal monokristalline Turbinenschaufeln selbst hergestellt und im Inland hergestelltes Material in Hochtemperatur-Festigkeitstests habe eine bessere Beständigkeit aufgewiesen als Proben aus dem Ausland.