Der Überfall irregulärer Kämpfer der radikalislamischen Milizen Hamas und islamischer Jihad aus Gaza auf den benachbarten Süden Israels, wird als neue Runde der Gewalt in die Geschichtsbücher des Nahen Osten eingehen und dort wohl noch viele Jahre nachwirken – auf beiden Seiten. Die Gründe für die am 7. Oktober begonnene Eskalation sind manigfaltig und da wie dort zu suchen. Eine Analyse von Militär Aktuell-Redakteur Georg Mader.
Vergleiche mit früheren Eskalationen
Obwohl die Attacke am 50. Jahrestag des Yom-Kippur Krieges von 1973 unternommen wurde, sind diverse mediale Vergleiche mit früheren Kriegen Israels unzutreffend. Speziell der dritte Nahostkrieg 1973 war – wie seine Vorgänger – ein (Inter)Agieren der regulären Streitkräfte der Araber und Israelis. Das Vorgehen der Terroristen – und das sind Kämpfer, die wahllos Zivilisten abschlachten und entführen – ähnelt viel eher den Terroranschlägen von 9/11, dem Massaker des IS in der Universität in Nairobi und besonders der Attacke islamischer Angreifer der Lashkar-e-Taiba aus Pakistan im indischen Mumbai im Jahre 2008. Überall dort wurden hunderte Menschen getötet, im Fall der aktuellen Auseinandersetzungen in Israel werden es am Ende wohl mehr als 1.000 sein – inklusive einiger der aktuell rund 150 nach Gaza verschleppten Geiseln des leidgeprüften israelischen Volkes.
Status der Hamas
Leidgeprüft ist auch die palästinensische Gesellschaft, wird sie im Gazastreifen von der radikalen Hamas doch in einer Art Geiselhaft gehalten. Trotzdem trägt sie die Hauptlast der israelischen Luft- und Artillerieschläge und das nicht erst – wohl nun erwartbar stärker als je zuvor – seit dem 7. Oktober, sondern schon seit Jahren. Der Gazastreifen mit seinen zusammengewachsenen Plattenbaustädten Raffah, Khan Younis und Gaza gilt als die am dichtesten besiedelte Region der Welt und ist seit 2007 unter israelischer (und ägyptischer) Blockade, als die Hamas nach Wahlen – auch nach internen Kämpfen – die Macht von „Fatah” übernahm, sich jedoch weigerte, die gewalttätigen Aktionen gegen Israel zu stoppen. Kein Wunder, schließlich steht die Vernichtung Israels ganz prominent in der Hamas-Charta.
Iron Dome Tamir interceptors attempt to destroy a rocket barrage fired at Israel from Gaza a short time ago. pic.twitter.com/lcP3MLF6VZ
— Joe Truzman (@JoeTruzman) October 8, 2023
Die als Reaktion darauf ausgesprochene israelische Blockade wird von der Hamas-Propaganda als einer der Hauptgründe für den aktuellen Angriff angeführt. Brisanterweise spielen der Hamas nun auch die Angriffe Israels in die Propaganda-Hände, sind Treffer in dem dicht besiedelten Gebiet doch leider viel zu oft mit Kollateralschäden und -opfern verbunden. Die Hamas ist zudem Meister darin, ihre getöteten Kämpfer als Märtyrer zu positionieren und damit neues Personal zu gewinnen und die antisemitische Indoktrinierung bereits von Vorschulkindern voranzutreiben. „Mein Kampf“ und andere Nazi-Propaganda findet sich in Gaza – übersetzt in teils prächtigen Festschriften – in vielen Auslagen und auf Märkten.
Große Politik
Ein weiterer Faktor, der im Hintergrund wohl auslösend gewirkt haben mag, ist eine mögliche Normalisierung der Beziehungen Saudi-Arabiens (Hüter der Heiligen Stätten) mit Israel, nach Muster der noch von Präsident Donald Trump initiierten „Abraham Accords”,wie beispielsweise mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) oder Marokko. Die Palästinenser könnten angesichts von Aussagen wie des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS), man komme sich mit Israel täglich näher, befürchten, durch den „Rost der Geschichte” zu fallen. All das kann auch Teheran nicht gefallen, aber auch der neue Krieg würde – so die Einschätzung von Analysten großer Sender – jene Annäherung oder Normalisierung nur verzögern. MBS verlangt für die Palästinenser zwar einen „guten Deal”, hat ihnen aber auch schon ausgerichtet, sich „mit Israel zu einigen oder den Mund zu halten”.
Radikale zionistische Siedler
Ein weiterer Grund für die neue Runde der Gewalt sind laut Palästinensern die extremistischen zionistischen Siedler, die seit mehr als einem Jahr eine aggressive Kampagne mit zahlreichen Provokationen gegen die Palästinenser insbesondere im Raum Jerusalem und Westjordanland fahren. Seit April dieses Jahres haben sie wiederholt die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem gestürmt und (für Moslems) entweiht und damit die sogenannten „Al-Aqsa-Clashes” provoziert. Seitdem reicht diese Kampagne von der Belästigung von Arabern und Menschen, die sichtlich keine Juden sind, bis hin zu Angriffen und Hinterhalte auf Palästinenser an verschiedenen Orten im Westjordanland. Auch soll es zu Angriffen auf und Plünderungen von palästinensischem Eigentum und vereinzelt sogar Lynchmorden an in Israel lebenden Palästinensern gekommen sein. Die Hamas-Führung führt in diesem Zusammenhang mehr als 240 von den Israelis getötete Palästinenser an, Hunderte sollen zudem verhaftet und in israelischen Gefängnissen gefangen gehalten werden.
Unterstützer Iran
In Israel werden die Inhaftierten als „Terroristen” abgetan, was wiederum Wasser auf den Mühlen der Hamas und der sich aktuell offenbar leidlich zurückhaltende libanesische Hezbollah, aber auch des Iran ist. Teheran unterstützt ganz offen die Hamas – hier scheint das Schisma zwischen Schiiten und Sunniten dem übergeordneten Ziel der Zerstörung Israels unerheblich. Allein für Raketen(teile)produktion der zig-tausenden diversen Projektile haben die Mullahs – so iranische Führer in diversen Videos ganz offen – die Palästinenser mit umgerechnet rund 70 Millionen Euro unterstützt. Die Umsetzung obliegt dabei überwiegend den Quds-Einheiten, der „Auslandsabteilung” der mächtigen iranischen Revolutionsgarden. Am 3. Jänner 2020 wurde deren im Iran sehr populäre Kommandant Qasem Soleimani auf Befehl des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump mittels einer Hellfire-Rakete von einer MQ-9 Reaper-Drohne am Flughafen Bagdad getötet. Und die israelische Luftwaffe zerstört immer wieder – meist auf syrischen Flughäfen – gerade aus dem Iran angekommene Waffenlieferungen für Hamas und Hezbollah.
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… aber auch Katar
Während sich der Iran mit seiner Unterstützung auch offiziell brüstet, soll laut diversen Quellen in der Zwischenzeit das Emirat Katar der Hauptsponsor der Hamas sein, mit jährlich über 100 Millionen Euro. Der Löwenanteil davon geht aber – hier sollen israelische Banken beteiligt sein – für die Versorgung des Gazastreifens mit Strom, Wasser und Nahrungsmitteln aus Israel auf. Trotzdem könnte damit auch die Abdeckung von Verlusten und Ersatz von zerstörter militärischer Ausrüstung abgedeckt sein. Das gilt übrigens stets auch für sogenannte Hilfsgelder aus europäischen Staaten, wie sie früher auch Österreich überwies und nun als Reaktion auf die Angriffe einstellte. Sollte das stimmen, was diverse Blogger und Twitter (X) Nutzer behaupten, dürften sowohl Doha als auch Teheran sowie die Hezbollah und Fatah in die Entscheidungskette eingebunden gewesen sein. Vor diesem Hintergrund sei auch an Katars Nähe zum Iran, den Betrieb des TV-Senders Al Jazeera und die Verachtfachung der Luftwaffe des Landes mit US-amerikanischen und europäischen Jets erinnert, was bei den anderen Golf-Monarchien für Unstimmigkeiten gesorgt hatte.
Wie konnte das passieren?
Viele fragen sich, wie die Hamas mit ihrer Operation „Al-Aqsa-Flut” Israel und dessen Geheim- und Sicherheitsdienste so sehr überraschen konnte. Nun, Israel hat trotz COMMINT und klassischem HUMINT in Gaza keine totale Kontrolle – und das gilt auch für befreundete (US) Dienste. Und so anstößig es auch klingen mag und einem gewissen auch „kultivierten Mythos” zum Trotz, sind auch die Israelis trotz ihrem multiplen Erfahrungsschatz aus der jahrzehntelangen Anstrengung nicht ins Mittelmeer getrieben zu werden, keine übernatürlichen Wesen, sondern Menschen wie alle anderen auch. Somit sollte es nicht zu sehr überraschen, dass auch sie Fehler machen und sich mitunter fälschlicherweise in Sicherheit wiegen. Ähnlich wie beim ägyptischen Vorgehen von 1971 bis 1973, als deren (konventioneller) Angriff auf den Suezkanal die Israelis völlig überraschte, hatten nun auch die Israelis keine Ahnung – und keine Vorwarnung.
Allerdings berichten israelische Quellen zum 7. Oktober, dass sehr wohl jenseits des Grenzzauns zum Gazastreifen Militärübungen der Hamas beobachtet worden waren – und zwar wiederholt seit bis zu 20 Tagen. Offenbar waren diese nicht nur zur Steigerung der eigenen Einsatzbereitschaft gedacht, sondern auch um Israels Sicherheitskräfte in Sicherheit zu wiegen. In der Wahrnehmung, dass es sich ohnehin stets nur um Übungen und Drohgebärden handle, nahm wohl die Wachsamkeit ab. Angeblich wurden Warnungen auch aus Kairo negiert, man wäre zudem mehr auf das Westjordanland fokussiert gewesen, als auf Gaza. Dazu kommen das gute Timing der Hamas-Planer, die innenpolitische Krise um die Justizreform, die auch die Sicherheitskräfte und Reservisten betraf, sowie der wichtige gesetzliche Festtag Simchat Tora. Auf Seiten Hamas dürften weiters nur wenige Spitzenkommandeure in den Informationskreislauf eingebunden gewesen sein. Jener des Hamas-Südabschnitts, Muhammad Abu Ghal, wurde übrigens am 8. Oktober von einer Spezialeinheit der IDF (lebend) gefasst.
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„SEAD” des armen Mannes
Offenbar begann die ganze Operation mit einer „Sparvariante” von SEAD (Unterdrückung gegnerischer Luftabwehr): Nachdem die Qassam-Brigaden den IDF-Stützpunkt beim nördlichen Kontrollpunkt Erez-Kontrollpunkts überrennen konnten, stürmten sie von dort zu einem Iron Dome-Standort der israelischen Luftabwehr nahe Sderot. Mit dessen Einnahme entstand eine Lücke in der israelischen Luftverteidigung rund um den Gazastreifen, in die Hamas prombt mit einem Sperrfeuer aus tausenden Raketen vorstieß. Hamas nahm damit das ganze Land von Sderot über Beerscheba bis nach Tel Aviv und Jerusalem ins Visier. Obwohl anderswo die Abwehr intakt blieb, verursachte die aufgerissene Lücke in Summe erhebliche Schäden und Opfer in zahlreichen Gemeinden. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen Lod/Ben Gurion war stundenlang unterbrochen. Gleichzeitig mit der Attacke auf Erez, griffen die Qassam‘den IDF-Stützpunkt in Nahal Oz an. Mit einer Kombination aus Panzerabwehrlenkwaffen, Drohnen nach Ukraine-Muster und mit Motorrädern zerstörten oder erbeuteten die Terroristen vier Kampfpanzer Merkava Mk.IV, ein oder zwei schwere Infanterie-Kampffahrzeuge und mindestens drei gepanzerte Personentransporter M113 (Vietnam Ära). 20 oder 30 israelische Militärangehörige fielen oder wurden gefangen genommen. Im Süden bei Keren Shalom behaupteten die PIJ (Palestinian Islamic Jihad) die israelische Nahal-Brigade überrannt und deren Kommandeur Oberstleutnant Jonathan Steinberg getötet zu haben. Hamas meldete auch die „Ergreifung” von General Nimrod Aloni, den Kommandeur der ganzen Gaza-Division. Dies würde – Israel bestätigt davon nichts – bedeuten, dass sogar ein Teil des lokalen IDF-Hauptquartiers unter Kontrolle gebracht werden konnte.
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Apropos Raketen
Vielfach wird gefragt wie es käme, dass die Palästinenser im Gazastreifen – der ja wie erwähnt sowohl von Israel als auch von Ägypten blockiert wird – 5.000 Raketen herstellen können, um sie als Überrumpelung und Ablenkung von der Infiltration auf Israel abfeuern zu können. Aber diese „Fähigkeiten”, ihr Aufbau und ihre Pflege dauern schon seit vielen Jahren an. Im Wesentlichen schmuggelt man – vornehmlich über Ägypten – alle notwendigen Materialien ein. Meistens werden die Raketen dann in Großwerkstätten in einem ausgedehnten Labyrinth unterirdischer Tunnel unter dem Gazastreifen hergestellt. Israel hat dieses Tunnelsystem – in dem wird auch alles andere wie Consumer-Elektronik über Brautkleider bis lebende Schlachttiere geschmuggelt – wiederholt ins Visier genommen und dabei wie zuletzt im Frühling 2021 auch große Fortschritte gemacht. Trotzdem macht der Angriff vom 7. Oktober die Grenzen dieser Anstrengungen mehr als offensichtlich. Und was die israelische Raketenabwehr und das vielzitierte Iron Dome-System betrifft, so wurde natürlich eine große Zahl der anfliegenden Projektile abgefangen. Aber zweifellos hat auch eine gewisse Saturierung der Abwehr stattgefunden – die Veröffentlichung von Fotos oder Videos von Treffern auf militärischen Objekten oder Basen (die es klarerweise auch gab) wird die israelische Militärzensur aber wohl nicht zulassen.
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Aktuelle Zahlen und sich hinziehende „Säuberungen”
Der Hamas-Einsatz schien auch noch am dritten Tag nach dem Angriff nicht gänzlich vorüber zu sein. Und es könnte sein, dass die Zahl von rund 1.000 irregulären Kämpfern der sogenannten Nukhba-Truppen der Hamas und des PIJ noch immer eine israelische Unterschätzung ist. So mögen rund 300 an der ersten Welle beteiligt gewesen sein, denen dann Kräfte auf bis zu 1.000 folgten. Immerhin wurden elf (!) Stützpunkte der IDF und 20 israelische Gemeinden (teil)besetzt. Als Grund für sich oft ändernde Zahlenangaben oder -schätzungen muss die Tatsache herhalten, dass auch nach 48 Stunden Lücken oder Löcher im Grenzzaun offenblieben und die IDF auch am zweiten Tag noch weit davon entfernt war, alle zu blockieren. Somit konnten sowohl Hamas als auch PIJ die Zeit nutzen, um auch später zusätzliche Verstärkung durch den Zaun zu schicken. Und wiederum deshalb kam es seit dem Morgen des dritten Tages zu Kämpfen an den Stränden nördlich des Gazastreifens, bis nach Aschkelon und Kiryat Gat (zehn Kilometer nordöstlich des Gazastreifens), nach Sderot im Osten und hinunter nach Kfar Aza. Weiter südlich befanden sich nach zwei Tagen Nahal Oz und Be’eri immer noch unter palästinensischer Kontrolle, trotz mehreren israelischen Gegenangriffen und der ständigen Präsenz israelischer UAVs und Kampfhubschraubern. Ebenso Ofakim, fast 20 Kilometer südlich. Re’im wurde am zweiten Morgen – samt deren Stützpunkt – von der IDF wieder gesichert, dort wurden dann mindestens 260 Leichen der Besucher des Friedens-Rave (!) geborgen, welche – laut Videos während der Veranstaltung – wohl von der mit Motor-Paragleitern einfliegenden Islamisten getötet wurden. Weitere Konzertbesucher (samt deutschen und US-Bürgern) wurden nach Gaza entführt.
IDF airstrikes in Gaza. pic.twitter.com/sccOQLKsvH
— Joe Truzman (@JoeTruzman) October 9, 2023
In der Nacht auf den 9. Oktober wurde in Blogs und X-Tweets sogar von einer dritten Welle der Hamas berichtet, welche über oder um den (lange schon geschlossenen) Kontrollpunkt Kissufim eingedrungen sein soll. Es bleiben also einige Orte offenbar heikel, von denen schon behauptet wurde, sie wären gesichert. Jedenfalls hat die israelische Regierung aber am 9. Oktober die Räumung aller Siedlungen rund um den Gazastreifen angeordnet, was in langen Autokolonnen in nördlicher Richtung resultierte. Mittlerweile wurde 300.000 Soldaten der IDF mobilisiert, laut einem Armeesprecher die größte derartige Maßnahme in der – militärisch doch affinen – Geschichte des kleinen Landes. Mehrere Kolonnen verschiedener israelischer Einheiten werden in Richtung des schwer bombardierten Gazastreifens zusammengezogen, jenem wurde – Stichwort eigene Bevölkerung als Geisel der Hamas – überdies Strom, Wasser und Mobilkommunikation gekappt. Etliche höhere Gebäude mit Antennenanlagen darauf wurden gezielt völlig zum Einsturz gebracht. Israel steht möglicherweise vor einer militärisch wie diplomatisch herausfordernden Bodenoffensive im (und in den Trümmern des) Gazastreifen.
Weiterführende Informationen: Beitrag „Das große Versagen der Geheimdienste” des Handelsblatts.
