Als Josef Stalin 1927 in der Sowjetunion an die Macht kam, begann er mit dem Aufbau einer totalitären Diktatur. Angetrieben von ständigem Verfolgungswahn und der Angst vor Überwachung ließ er potenzielle politische Widersacher, aber auch diverse Minderheiten verfolgen und internieren. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sollten die wahren Ausmaße dieser Verfolgungen ans Licht kommen. Dabei gilt besonders die Zeit von 1936 bis 1938 – heute bekannt als „Großer Terror” – als tragischer Höhepunkt.

Stalins Weg an die Spitze

Der am 18. Dezember 1878 in Gori, Georgien, geborene Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili – wie er bis zu der Annahme des Kampfnamens „Stalin” im Jahre 1912 hieß – litt in seiner Kindheit unter seinem trinkenden und gewaltbereiten Vater. Trotzdem zeigte er schon früh mit Charisma und Intelligenz auf, wodurch er auf einer Kirchenschule aufgenommen wurde. Das ist deswegen erwähnenswert, weil ihm diese Schule als Sohn eines Schuhmachers grundsätzlich nicht offenstand. Obwohl Dschugaschwili regelmäßig durch Schlägereien auffiel, verließ er 1894 die Schule als Klassenbester und wurde für den Besuch des orthodoxen Priesterseminars in Tiflis vorgeschlagen, der zu der Zeit bedeutendsten höheren Bildungsanstalt Georgiens.

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Dort kam er erstmals mit marxistischem Gedankengut in Kontakt. 1898 schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) an und verließ das Priesterseminar. Schnell radikalisierte er sich, grenzte sich von gemäßigten Mitstreitern – den sogenannten Menschewiken – ab und nahm Intrigen und Hetzkampagnen in sein Repertoire auf. 1902 wurde der nun schon 23-jährige Josef zum ersten Mal verhaftet, einige weitere Verhaftungen sollten folgen. 1907 überfiel Dschugaschwili mit 20 anderen Personen einen Geldtransporter der russischen Staatsbank in Tiflis. Offiziellen Angaben zufolge kamen dabei fünf Personen ums Leben, heute geht man von etwa 40 aus. Bereits zwei Jahre zuvor kam er erstmals mit Lenin in Kontakt. Politisch waren die beiden jedoch nicht immer einer Meinung.

Stalins Verbrecherkartei von 1911 – ©wikimedia.commons
Die zahlreichen Straftaten Stalins führten dazu, dass er eine Verbrecherkartei besaß.

1913 folgte eine weitere Verhaftung und in der Folge eine Verbannung nach Ostsibirien. Erst 1917 verließ Stalin – wie er mittlerweile hieß – die Gegend Richtung Petrograd, wo er kurz nach der Februarrevolution ankam. Nach einem erfolgslosen Putschversuch im Sommer 1917 wurden die Bolschewiken, wie die Gruppierung um Lenin und Stalin genannt wurde, verfolgt und in den Untergrund gedrängt. Doch bereits im Oktober gelang der Umsturz im Zuge der Oktoberrevolution und Lenin konnte die Macht ergreifen. Im folgenden Bürgerkrieg konnten sich die Bolschewiken an der Macht halten. Ab diesem Zeitpunkt war auch Stalin, der trotz der politischen Differenzen einer von Lenins stärksten Verbündeten war, in der Führungsriege Russlands. Nach dem krankheitsbedingten Rückzug Lenins aus der Politik im Dezember 1922 übernahm ein Führungstrio um Josef Stalin, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew. Die beiden anderen Männer stiegen schnell zu innerparteilichen Widersachern auf, sie wurden 1926 von Stalin aus der Partei gedrängt. Stalins härtester Gegenspieler bei der Machtübernahme war aber Leo Trotzki. Es gelang Stalin allerdings, Trotzki 1927 aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) auszuschließen, womit er de facto Alleinherrscher war. Ab seinem 50. Geburtstag im Dezember 1929 – sein eigentliches Geburtsdatum, 18. Dezember 1878, ließ er um ein Jahr nach hinten verschieben – ließ Stalin sich offiziell als „Führer” titulieren.

Terror als probates Mittel

Bereits in der Zeit nach der Oktoberrevolution 1917 wurde der Terror als politisches Mittel von Lenin und der KPdSU legitimiert. So wurde 1917 die WeTscheKA – die Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage – gegründet. Diese Organisation wurde 1922 von der Geheimpolizei der Sowjetunion (GPU) abgelöst. 1934 folgte der GPU das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD). Als tödlichste Maßnahme des Massenterrors in der Zeit Lenins gilt heute die rücksichtslose Politik der Eintreibung von Naturalsteuern bei den Bauern. Dies führte im Winter der Jahre 1921 und 1922 laut Schätzungen zu etwa fünf Millionen Hungertoten. Immer wieder wurden außerdem Schauprozesse durchgeführt, auch im Jahr 1922 als ein solcher gegen 34 Sozialrevolutionäre mit Todesurteilen gegen elf Angeklagte endete.

Die beiden Kollegen Lenin und Stalin – ©Keystone/Getty Images
Politisch nicht immer auf einer Wellenlänge und trotzdem gute Kollegen: Josef Stalin hat seine Macht zu gewissen Teilen auch Wladimir Lenin zu verdanken.

Josef Stalin „perfektionierte” diesen strategischen Terrorapparat nach seiner Machtergreifung. Er führte ein System ein, dass es bereits im Bürgerkrieg gab: Im Zuge der Entkulakisierung – unter einem Kulak verstand man einen wohlhabenden Bauern – entschied ein aus drei Personen bestehendes Gremium, den sogenannten Troikas, außergerichtlich, wer als „Kulak” zu internieren oder bei Widerstand zu erschießen war, wer nach Konfiszierung seines Eigentums in entfernte und unwirtliche Gegenden deportiert wurde und wer innerhalb seiner Ursprungsregion umgesiedelt wurde. Die Troikas setzten sich aus dem ersten Sekretär des Parteikomitees der KPdSU, dem lokalen Vertreter der Geheimpolizei und dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des jeweiligen Sowjets zusammen. Unter einem Sowjet verstand man ein machtloses Lokalparlament.

Nur ein Jahr nachdem Stalin an die Macht kam, ließ er zudem aus seiner Sicht politisch „unzuverlässige” und oppositionelle Personen verfolgen, in Gulags internieren und oftmals auch ermorden. In die Kategorie der politisch „unzuverlässigen” fielen vielfach auch Parteikollegen Stalins, die unter dem Vorwand der Planung einer Verschwörung beseitigt wurden. Ob Stalin diese Vorwürfe lediglich erfand, oder aufgrund seiner Paranoia tatsächlich daran glaubte, ist heute umstritten. Zusätzlich wurden ab 1928 die Bauern erneut dazu gezwungen, Nahrungsmittel abzugeben, auch wenn sie dazu nicht in der Lage waren. Es wurden ihnen die letzten Vorräte gestohlen, ebenso der notwenige Vorrat an Saatgetreide. Damit war dieses für die nächste Aussaat nicht mehr vorhanden. Als Folge dessen kam es 1932 und 1933 in den heutigen Gebieten der Ukraine, Kasachstan und Südrussland zu einer riesigen, mutwillig herbeigeführten Hungersnot. In der Ukraine wird diese heute als „Holodomor” bezeichnet. Manche Schätzungen gehen von über sieben Millionen Hungertoten in dieser Zeit aus.

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„Großer Terror”

Den tragischen Höhepunkt fanden diese Maßnahmen aber in der als „Großer Terror” bekannten Zeit von 1936 bis 1938. Auslöser hierfür war die Ermordung Sergei Kirows, dem Ersten Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, durch einen Leningrader Arbeiter im Dezember 1934. Die Hintergründe sind bis heute nicht geklärt – manche behaupten Stalin sei verwickelt gewesen. In jedem Fall sah sich dieser in seiner permanent wiederholten Behauptung einer Verschwörung gegen die Führung von Staat und Partei bestätigt und nützte dies für eine Repressionswelle. Es kam zu einer Verhaftungswelle, bei der auch Kamenew und Sinowjew, seine ehemaligen Parteikollegen, verhaftet wurden. Im sogenannten Kirow-Gesetz wurde beschlossen, dass fortan Personen, die des Terrorismus beschuldigt wurden, in verkürzten Verfahren und ohne Recht auf Berufung erschossen werden konnten. Noch im Dezember desselben Jahres wurden in Leningrad als Reaktion auf den Mord 6.501 Personen hingerichtet. Im Nachgang der Kirow-Ermordung kam es auch zu ethnischen Säuberungen, die sich vor allem gegen Finnen, Deutsche und Polen richteten. Diese Menschen wurden oftmals ins heutige Kasachstan deportiert.

Im Juli 1936 ging ein von Stalin selbst mitformulierter Brief des Zentralkomitees der KPdSU an alle Parteiorganisationen in den Republiken und autonomen Gebieten der Sowjetunion. Darin wurde vor „Volksfeinden” gewarnt. Dieses Konzept des „Volksfeindes” wurde grundlegend für den nun beginnenden „Großen Terror”, denn mit diesem Begriff wurde jeder Kritik, jeder Opposition die Legitimation entzogen: Wer gegen die Führung von Staat und Partei seine Stimme erhob, galt als Feind und musste ausgelöscht werden. Ein Vorteil aus Stalins Sicht war, dass damit im Vergleich zu dem bis dahin verwendeten Konzept des Klassenfeindes auch Mitglieder der kommunistischen Partei verfolgt werden konnten. Teilweise wurden einfache Bürger auf offener Straße verhaftet, um die Quote der „auszumerzenden konterrevolutionären Elemente” zu erfüllen.

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Ebenfalls im Sommer 1936, genauer gesagt im August, fand der erste von schlussendlich drei aufsehenerregenden Moskauer Schauprozess statt. In diesem wurden Kamenew und Sinowjew, bereits zuvor in einem Geheimprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt, mit der Todesstrafe belegt. Gleich im Anschluss an die Urteilsverkündung wurde dieses ausgeführt, die beiden hingerichtet. Insgesamt wurden in den drei Prozessen – die beiden anderen waren im Jänner 1937 und März 1938 – von den 54 Angeklagten, häufig aus der politischen Prominenz, nur drei nicht hingerichtet, sondern zu einer langen Lagerhaft verurteilt. Alle drei sollten aus den Lagern nicht mehr zurückkehren. Als Chefankläger in allen drei Prozessen trat Andrei Wyschinski auf, der bei seinem Plädoyer im März 1938 im Video zu sehen ist.

Mitglieder des Zentralkomitees von 1917 – ©wikimedia.commons
Nur wenige der Mitglieder des Zentralkomitees von 1917 starben einen natürlichen Tod.

Neben den drei großen Prozessen fanden zahlreiche kleinere statt, in denen vielfach die Eliten in Politik, Militär und Verwaltung auf der Anklagebank saßen. Von diesen „Säuberungen” waren auch die KPdSU und die Rote Armee nicht ausgenommen. Es war keine Seltenheit, dass weit mehr als die Hälfte der zuständigen Personen verhaftet und vermehrt hingerichtet wurden. So wurden von den 139 Abgeordneten des Zentralkomitees der KPdSU 98 zu Opfern des Terrors. Von den 1.966 Mitgliedern des XVII. Parteitages waren es 1.106. Bei den Befehlshabern in der Armee war diese traurige Quote noch höher: Drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeebefehlshabern, acht von neun Admirälen, 50 von 57 Korpsgenerälen und 154 von 186 Divisionsgenerälen.

Zusätzlich gab es noch zahlreiche andere Massenoperationen, ethnische Säuberungen und Repressionsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung. Erwähnenswert ist eine zweite Säuberungswelle zu Beginn des Jahres 1948. Diese richtete sich hauptsächlich gegen Juden in der Sowjetunion, die als „wurzellose Kosmopoliten” denunziert wurden. Als Folge dieser Kampagne kam es zur Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und zur Hinrichtung zahlreicher jiddischer Intellektueller in Moskauer Gefängnissen, bekannt als Nacht der ermordeten Dichter. Die Säuberungswelle erreichte ihren Höhepunkt in der sogenannten Ärzteverschwörung – laut Stalin planten Mediziner jüdischer Herkunft den Umsturz der sowjetischen Führung – und endete mit Stalins Tod im März 1953.

Opferschätzungen

Aufgrund der Tatsache, dass diese Vorgänge der restlichen Welt lange Zeit nicht bekannt waren und die Archive erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nach und nach zugänglich gemacht wurden, sind Schätzungen der Opferzahlen sehr schwer. Diese gehen im Bereich von einer Million bis zu 60 Millionen weit auseinander. In einer Sache ist man sich allerdings einig: Die Daten sind unvollständig, da damals für einige Opfergruppen keine sorgfältigen Daten erhoben worden sind. In der heutigen Literatur ist oftmals die Rede von etwa 1,5 Millionen verhafteten Personen, von denen etwa 700.000 exekutiert wurden. Darin sind allerdings die vielen Millionen Hungertoten durch die bewusst in Kauf genommene Hungersnot 1932 und 1933 nicht inkludiert.

Die Opfer des Hungers: Fußgänger und Leichen verhungerter Bauern auf einer Straße in Charkow 1933 – ©Gareth Jones
Die Opfer des Hungers: Fußgänger und Leichen verhungerter Bauern auf einer Straße in Charkow 1933.

Der russische Schriftsteller Wadim Erlikman ging von 9 Millionen Opfern aus, wobei laut ihm 1,5 Millionen exekutiert wurden, 5 Millionen im Gulag starben, 1,7 Millionen ihr Leben bei der Deportation verloren und eine Million Kriegsgefangene und deutsche Zivilisten umkamen. Stalins Biograf, der sowjetische Generaloberst Dmitri Wolkogonow, schätzte die Zahl jener, die in den Jahren 1929 bis 1953 den „Säuberungen” zum Opfer fielen, sogar auf 22 Millionen. Gunnar Heinsohn, ein deutscher Soziologe, ging hingegen von mindestens 20 Millionen Opfern aus.

Sicht auf Stalin – damals und heute

In den Monaten und Jahren nach Stalins Tod begann der Prozess der „Entstalinisierung”. Sein Nachfolger, Nikita Chruschtschow, distanzierte sich auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 von Stalin, als er die Verbrechen kritisierte, die dieser an anderen Kommunisten verübt hatte. Allerdings kritisierte er nicht das diktatoriale System an sich. Die Bedingungen in den Arbeitslagern wurden ebenfalls verbessert. Schon wenige Monate später, im November desselben Jahres, machte die Moskauer Führung mit der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes allerdings die Grenzen dieses Prozesses klar. Anfang der 1960er-Jahre verschwand der Name Stalin aus der Öffentlichkeit, Stalingrad wurde in Wolgograd umbenannt, Denkmäler wurden beseitigt. Jahre später, unter Michail Gorbatschow, setzte eine umfassendere Kritik an Stalin ein, die weit über die Kritik in der Zeit der Entstalinisierung hinausging.

Stalin-Denkmal im Grutas-Park in Litauen – ©Wojsyl
Eine Stalin-Statue im Grutas-Park in Litauen. Viele Litauer sind der Meinung, dass die Statue beziehungsweise der Park damit das Geschehene verharmlost.

Heute wird Stalin in Russland wieder weit positiver gesehen, nicht zuletzt durch eine Glorifizierung des großen Vaterländischen Krieges – dem Krieg zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland. Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge „Memorial“, kritisierte diesen Aufschwung zum „Superstar”. Zahlreiche Stalin-Denkmäler wurden in den 2000er- und 2010er-Jahren neu erbaut. Eine entscheidende Rolle dabei spielt auch der derzeitige russische Präsident Wladimir Putin, der in Stalin einen entschlossenen Staatsmann sieht, der die Sowjetunion einte und den Faschismus besiegte. Während in einer Umfrage 2012 nur 28 Prozent Stalin positiv sahen, waren es 2017 schon 46 Prozent und 2019 sogar 70 Prozent. Glaubt man Scherbakowa, hängt das vor allem mit Informationen durch Fernsehen und Propaganda zusammen, die die öffentliche Meinung von den historischen Fakten losgelöst haben.

Seit 2006 findet jährlich am 29. Oktober eine Gedenkveranstaltung von „Memorial” – der Organisation wurde 2022 der Friedensnobelpreis verliehen – statt, bei der zwölf Stunden lang Namen von Opfern der Repression Stalins verlesen werden.

Quelle©akg-images, wikimedia.commons, Wojsyl, Keystone/Getty Images, Gareth Jones