Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Oberst a. D. Wolfgang Richter. Wir haben den Experten für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Senior Advisor beim AIES gefragt, was von der russischen Übung zum Einsatz taktischer Atomwaffen zu halten ist und inwieweit die vergangene Woche an die Ukraine gelieferten F-16 Kampfjets den Kriegsverlauf beeinflussen können.

Herr Richter, die Ukraine (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) hat eine erste Lieferung an F-16 Kampfflugzeugen aus den USA erhalten. Inwieweit können diese den Kriegsverlauf beeinflussen?
Die USA haben F-16 aus belgischen, niederländischen, dänischen und norwegischen Beständen zur Lieferung an Kiew freigegeben. Die ersten sechs von den insgesamt geplanten 80 sollen Ende Juli in der Ukraine eingetroffen sein. Der volle Umfang der Lieferung dürfte allerdings erst im Laufe des nächsten Jahres erreicht werden. Zur Abwehr ballistischer Raketen sind die F-16 nicht, gegen Marschflugkörper bedingt, und gegen Kampfflugzeuge besser geeignet. Sie können vor allem auch offensiv gegen weit entfernte Bodenziele eingesetzt werden.

Allerdings hängt die operative Wirksamkeit der F-16 von mehreren Faktoren ab. Erstens: Von ihrer Ausrüstung mit abstandsfähigen Lenkwaffen und elektronischen Wirkmitteln gegen die russische Luftverteidigung. Zweitens: Von dem verbliebenen ukrainischen Luftraumkontroll- und Leitsystem. Drittens von der technisch-logistischen Infrastruktur und dem Schutz der Luftwaffenbasen, die Russland jetzt vermehrt mit Raketen angreift. Und viertens von der Anzahl der F-16.

„Die F-16-Lieferung dürfte die Gesamtlage an der Front nicht verändern.“

Die ersten sechs Kampfjets reichen gerade aus, um die jüngsten Verluste der ukrainischen Luftwaffe zu ersetzen. Die Zahl einsatzbereiter Kampfflugzeuge dürfte deutlich unter 70 gesunken sein. Ihnen stehen mehr als 1.200 russische Kampflugzeuge gegenüber, von denen der überwiegende Teil derzeit gegen die Ukraine eingesetzt wird. Zudem wurden bisher nur wenige ukrainische Piloten an der F-16 geschult. Die F-16-Lieferung dürfte daher die Gesamtlage an der Front nicht verändern.

Kiew schickt immer öfter Drohnen (-> hier geht es zu aktuellen Drohnen-Meldungen) gegen russische Ziele in Russland. Ist davon auszugehen, dass derartige Angriffe weiter zunehmen werden?
Ja, davon ist auszugehen. Die Ukraine hat – auch mit Hilfe der westlichen „Drohnen-Koalition” – die Produktion von Aufklärungs- und weitreichenden Kampfdrohen erheblich gesteigert. Vermehrt greift Kiew Ziele von strategischer Bedeutung in der Tiefe Russlands über Entfernungen von mehr als 1.000 Kilometer an, darunter Ölraffinerien und Basen der strategischen Bomberflotte und Frühwarnsysteme zur Erkennung von Nuklearangriffen wie in Armawir im Mai.

Da solche Angriffe in die strategische Balance zwischen den USA und Russland eingreifen, hat Washington daran vorsichtig Kritik geäußert. Die USA wollen zwar die Ukraine weiter unterstützen, aber eine Eskalation des Krieges vermeiden. Außerdem stellt sich bei Angriffen im Hohen Norden die Frage, ob Langstreckendrohnen den weiten Weg nur über russischem Territorium zurückgelegt haben, oder auch alliierten Luftraum zur unerkannten Annäherung genutzt haben.

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Russland übt den Einsatz taktischer Atomwaffen. Wie realistisch ist ein Einsatz dieser Waffen in der Ukraine?
Moskau will mit der Übung taktischer Atomstreitkräfte vor der Gefahr der nuklearen Eskalation warnen. Die Warnung richtet sich an den „kollektiven Westen”, nicht an die Ukraine und nicht spezifisch an die EU. Sie soll vor allem die NATO-Staaten vor einem direkten Eingreifen in den Krieg abschrecken. Dies gilt sowohl für potentielle Angriffe mit weitreichenden Präzisionswaffen der Alliierten gegen strategische Ziele in Russland als auch für die Ausweitung der NATO-Luftverteidigung auf die Ukraine oder die von Präsident Emmanuel Macron angedeutete Option, westliche Bodentruppen zu entsenden, um die Ukraine vor einer militärischen Niederlage zu bewahren.

„US-Präsident Joe Biden hat darauf hingewiesen, dass der drohende Verlust der Krim aus Moskauer Sicht eine rote Linie darstellen würde, die eine nukleare Eskalation auslösen könnte.“

Solche Maßnahmen könnten zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der konventionell überlegenen NATO führen, in der drei westliche Atommächte involviert wären. Nach der russischen Nukleardoktrin können Atomwaffen entweder in Reaktion auf einen feindlichen Atomangriff eingesetzt werden, oder zur Abwehr eines konventionellen Angriffs, der die Souveränität und Integrität des russischen Staates existentiell gefährdet. Die Krim wird von Moskau als russisches Staatsgebiet definiert, was von der Ukraine und dem Westen jedoch nicht anerkannt wird. Sie befindet sich daher in einer strategischen Grauzone. Schon im Frühjahr 2023 hat US-Präsident Joe Biden darauf hingewiesen, dass der drohende Verlust der Krim aus Moskauer Sicht eine rote Linie darstellen würde, die eine nukleare Eskalation auslösen könnte.

Der ukrainische Präsident verkündete unlängst, Russland solle bei künftigen Friedensberatungen mit am Tisch sitzen und schließt offenbar Gebietsabtretungen nicht aus, sofern das Volk dem zustimmt. Wie sind derartige Aussagen einzuordnen?
Dass der Kriegsgegner bei Verhandlungen über das Kriegsende mit am Tisch sitzen muss, ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Konferenz, die nur der Unterstützung der Position einer Kriegspartei dient, kann nicht als „Friedenskonferenz” bezeichnet werden, wenn es keine Aussicht auf einen „Siegfrieden” gibt.

©Militär Aktuell

Bereits im März und April 2022 war die ukrainische Führung nach bilateralen Gesprächen unter türkischer Vermittlung zu einem Kompromiss bereit, wie aus dem „Istanbul-Kommuniqué” vom 29. März 2022 hervorgeht. Demnach sollte Kiew auf den NATO-Beitritt und die Stationierung alliierter Truppen und Raketen verzichten, dem Donbas weitgehende Autonomie zugestehen und auf Gewaltanwendung verzichten, um die Krim der de facto Kontrolle durch Moskau zu entreißen. Ihr Rechtsstatus sollte innerhalb von 15 Jahren geklärt werden. Details zu Begrenzungen der ukrainischen Streitkräfte nach dem Muster des KSE-Vertrags waren noch nicht voll abgestimmt. Beide Seiten wollten zudem Sicherheitsgarantien der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und anderer Staaten erzielen. Schon damals stellte Kiew diese Lösung unter den Vorbehalt eines Referendums.

Die vorläufige Vereinbarung scheiterte an westlichen Vorbehalten, sie gemeinsam mit Russland zu garantieren, und weil ein Teil der politischen Eliten in Kiew gegen die Vereinbarung opponierte. Stattdessen versprach die sogenannte „Ramstein-Koalition” Kiew massive Waffenlieferungen, um den militärischen Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg zu stärken. Gleichwohl hat sich die Verhandlungsposition der Ukraine in den folgenden zwei Kriegsjahren erheblich verschlechtert. Moskau hat im Herbst 2022 vier weitere Gebiete annektiert und will deren Abtretung erreichen. Wie ein faires Referendum in allen Teilen der Ukraine unter den Bedingungen des Krieges, der Besatzung und der gegen Kiew gerichteten Ambitionen ostukrainischer Kräfte umgesetzt werden soll, ist derzeit schwer vorstellbar. Möglicherweise könnte eine neutrale internationale Beobachtung helfen.

Nur noch ein Monat bis zur „Airpower 2024“

Es tauchen immer wieder Nachrichten auf, wonach ukrainische Spezialeinheiten russische Söldner in Syrien und dem Sudan bekämpfen sollen. Was ist davon zu halten?
Diese Nachrichten halte ich für durchaus plausibel. Ukrainische Spezialeinheiten führen nicht nur einen verdeckten Krieg gegen „Kollaborateure” in den besetzten Gebieten, sondern greifen auch russische Ziele in der Tiefe Russlands und im Ausland an. Erst jüngst kam es zu einem Angriff auf die russische Luftwaffenbasis Kuweires in Syrien, an dem die ukrainische Spezialeinheit „Khimik” beteiligt gewesen sein soll. Offenbar will Kiew demonstrieren, dass es trotz der prekären Lage in den Frontgebieten strategisch handlungsfähig bleibt und Russland an anderer Stelle empfindlichen Schaden zufügen kann.

Weitere Analysen zum Ukrainekrieg von Wolfgang Richter hören Sie im Podcast Geotalk vom Center für Strategische Analysen.

Hier geht es zu den anderen Beiträgen unserer Serie „5 Fragen an”.

Quelle©Privat