Die Corona-Pandemie hat Extremisten gezeigt, wie verwundbar moderne Gesellschaften sind. Drohen uns künftig Anschläge mit künstlich erzeugten Krankheitserregern, Mikroorganismen und Agenzien?
Bars und Restaurants sind wieder geöffnet. Die meisten Geschäfte gut besucht, die Fallzahlen überschaubar und trotzdem treibt Mediziner derzeit vor allem eine Frage um: Kommt in Herbst und Winter eine neue, große Infektionswelle auf uns zu und wenn ja, wie gefährlich wird sie? In Sicherheitskreisen wird inzwischen ein noch weit brisanteres Thema diskutiert: Könnte auf Corona bald schon eine menschengemachte Katastrophe folgen? Könnte also ein Staat, eine Organisation oder ein terroristisches Netzwerk mit einem ausgesetzten Virus, manipulierten Mikroorganismen oder anderen Krankheitserregern absichtlich eine Epidemie auslösen?
„Die Covid-19-Krise hat gezeigt, dass sich weltweite Epidemien leicht aus kleinen Herden entwickeln können und wie verwundbar moderne Gesellschaften durch Virusinfektionen und ihr Erschütterungs-Potenzial sind”, heißt es dazu in einem aktuellen Papier des Ausschusses für Terrorbekämpfung des Europarats in Straßburg. UN-Generalsekretär António Guterres sieht in Bioterrorismus gar eine potenzielle Gefahr für den Frieden und die internationale Stabilität. Das Risiko von Angriffen durch Bioterroristen sei in den vergangenen Monaten jedenfalls gestiegen, so der Portugiese in einer Videokonferenz des Sicherheitsrats. „Die Schwächen und mangelhafte Vorbereitung, die durch das Coronavirus offengelegt wurden, geben Einblicke darin, wie ein bioterroristischer Angriff aussehen könnte.” Guterres weiter: „Wenn nichtstaatliche Gruppen Zugang zu virulenten Stämmen erhalten, könnte das für Gesellschaften auf der ganzen Welt eine ähnliche Verwüstung bedeuten wie nun das Coronavirus.”
Eine Warnung zur rechten Zeit oder übertriebenes Alarmgetöse? Laut Leyla Daskin vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie sei die Bedrohung durch Bioterrorismus durchaus ernst zu nehmen. „Vorfälle wie die unmittelbar auf die Anschläge vom 11. September 2001 folgenden Attacken mit Milzbranderregern in den USA haben gezeigt, dass die psychologischen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen weitaus größer sind als bei ,traditionellen’ Terroranschlägen. Durch die sogenannten ,Anthrax-Briefe’ starben ,nur’ fünf Personen”, so Daskin, „über Wochen und Monate hinweg trauten sich aber Millionen Menschen nicht mehr, ihre Post zu öffnen. Schon vergleichsweise kleine Anschläge mit Biowaffen haben also das Potenzial, ganze Gesellschaften in Angst und Schrecken zu versetzen und unseren Alltag aus dem Lot zu bringen.”
Am ehesten könnte eine derartige Attacke aktuell wohl von Terrororganisationen wie al-Qaida oder dem Islamischen Staat ausgehen, der IS hat in der Vergangenheit bereits Anleitungen zur Herstellung biologischer Kampfstoffe im Internet verbreitet. Vorstellbar wäre auch, dass Extremisten über dunkle Kanäle bei staatlichen Stellen und Streitkräften in die Hand von Biowaffen kommen und diese einsetzen. Nach einem richtiggehenden Entwicklungswettlauf zwischen den Großmächten um immer noch zerstörerischere Biowaffen zur Zeit des Kalten Kriegs sind diese zwar offiziell seit 1975 verboten, einige Staaten – im Verdacht steht unter anderem Nordkorea – sollen sich aber nicht an die Vereinbarungen halten.
Um die Weitergabe durch mögliche schwarze Schafe zu verhindern und verdächtige Fälle rasch aufdecken zu können, fordern Vertreter des Europarats mehr internationale Zusammenarbeit und ein gemeinsames Überwachungssystem. Mit praktischen Übungen sollten sich die Länder zudem auf den potenziellen Ernstfall bestmöglich vorbereiten. Unter Beobachtung stehen rund 100 Erreger, Toxine und biologische Agenzien, die laut Experten Eigenschaften aufweisen, die für Militärs und auch Terroristen interessant sind. Zwölf davon, das sogenannte „dreckige Dutzend”, gelten als wahrscheinliche Ausgangstoffe potenzieller B-Waffen: Bakterien wie die Erreger von Pest und Q-Fieber finden sich darunter ebenso wie Pocken- und Ebola-Viren.
„Vor diesem Hintergrund stufen wir Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen als ein systemisches, also die Resilienz Österreichs gefährdendes Risiko ein. Systemischer Terrorismus, insbesondere in Form von Bioterrorismus, setzt zwei bisherige Grundannahmen strategischer Sicherheitsplanungen außer Kraft: Vorwarnzeiten und Eintrittswahrscheinlichkeiten. Daher müssen bisher als hypothetisch angenommene Risiken, mit geringer Wahrscheinlichkeit aber hohen Auswirkungen, sogenannte strategische Schocks, nunmehr als planungsrelevant eingestuft werden”, so Daskin.
Für Martin Weiler, Referatsleiter Biologie und Toxikologie im ABC-Abwehrzentrum in Korneuburg, geht von Biotoxinen wie dem ebenfalls zum „dreckigen Dutzend” gehörenden Rizin die größte Gefahr aus. „Das sind Giftstoffe, die durch Organismen produziert werden und die vergleichsweise einfach herstellbar sind.” Damit lassen sich zwar keine Massenvernichtungswaffen erzeugen oder eine Pandemie mit übertragbaren Erregern auslösen, internationale Aufmerksamkeit wäre Angreifern trotzdem garantiert. Ein vor zwei Jahren vereitelter Plan Kölner Islamisten zum Einsatz einer „Rizin-Bombe” in Deutschland machte jedenfalls weltweit Schlagzeilen. Nicht anders verhielt es sich 1978 infolge des sogenannten Regenschirmattentats, als der bulgarische Journalist und Dissident Gergi Markow in London von bulgarischen Geheimdienstagenten auf offener Straße mit einem Regenschirm angegriffen wurde, dessen Spitze zuvor mit einer kleinen Rizin-Kugel präpariert worden war.
Wie steht es aber um das Risiko eines großflächigen terroristischen Angriffs mit einem neuen Krankheitserreger mit großem Ansteckungs- und Tötungspotenzial? Könnten sich Terroristen die Möglichkeiten moderner Gentechnik und Mikrobiologie für die Konstruktion eines „neuen Supervirus” zunutze machen und global zur Anwendung bringen? Martin Weiler sitzt am Besprechungstisch eines Aufenthaltsraums in der Dabsch-Kaserne und überlegt: „Das ist rein theoretisch natürlich nicht auszuschließen”, sagt er dann nach einigen Sekunden, „wahrscheinlich ist es aber nicht. Da bewegen wir uns im Bereich der absoluten Spitzenforschung. Dafür ist viel Wissen notwendig, enorm viel Geld, Zeit und eine hochprofessionelle Infrastruktur. Das ist also nichts, was eine Gruppe von Terroristen selbst bewerkstelligen oder realisieren könnte.”
Einfacher sei es für Terroristen, existierende Mikroorganismen nachzubauen und zu vermehren oder mit einzelnen Zusatzfunktionen zu versehen und zu modifizieren, um etwa die gesundheitlichen Auswirkungen zu erhöhen oder sie leichter übertragbar zu machen. „Die dafür notwendigen Prozedere sind in der Biotechnologie Standard, aber auch dafür bräuchte es viel Wissen und Know-how, das Extremisten nur in den seltensten Fällen zugänglich sein wird. Dazu kommt das Problem einer effektiven Verbreitung, die in der Praxis mit vielen Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten verbunden ist”, so Weiler. Zudem müsse man sich laut dem Experten bei so einem Szenario immer die Frage von Sinn und Zweck stellen: „Terrororganisationen wollen in den meisten Fällen in möglichst kurzer Zeit möglichst große Aufmerksamkeit erregen und sich Attacken möglichst eindeutig auf die Fahne heften können”, so Weiler. „Mit punktuellen Anschlägen ist das vergleichsweise einfach möglich, die globale Verbreitung eines Krankheitserregers glaubhaft für sich zu beanspruchen, ist aber schon etwas ganz anderes.”
Alternativ könnten Extremisten auch auf bestehende „Biokampfstoffe” zurückgreifen, die für jedermann verfügbar, leicht vermehrbar und ohne großes Risiko zum Einsatz gebracht werden könnten, sagt Weiler mit einem Lächeln. An was er dabei denkt? „Es reichen auf den ersten Blick harmlose Kartoffelkäfer”, so der Experte der ABC-Abwehr. „Künstlich vermehrt und massenhaft in einem bestimmten Gebiet ausgesetzt können sie die Ernten ganzer Regionen vernichten, damit die Lebensmittelversorgung eines Staates gefährden, zur Destabilisierung beitragen und massive wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge haben.”
Schon einmal wähnte sich ein Staat als Opfer einer Kartoffelkäfer-Attacke: Als es zu Beginn der 1950er-Jahre in der gerade erst gegründeten DDR zu einem massenhaften Auftreten des Schädlings kam, bezichtigte die Staatspropaganda die USA der Sabotage. In Medien und auf Plakaten wurde eine breit angelegte Kampagne gegen die „Ami-Käfer” gefahren, der Schutz der Ernte zu einer Frage der nationalen Sicherheit und zehntausende Bürger mussten am Land heißhungrige Plagegeister einsammeln. Der Schaden war da aber längst angerichtet. Wie interne Unterlagen der DDR-Regierung bewiesen, saß der Feind allerdings nicht in den USA, sondern im eigenen Land. Die Regierung hatte bei der Vorbereitung auf die sich ankündigende Käferplage schlicht geschlampt und bei der Bekämpfung der gefräßigen Biowaffen kläglich versagt.