In Schweden ist man alarmiert: Alle Schwedinnen und Schweden sollen sich auf einen möglichen Krieg vorbereiten. Hintergrund ist der Krieg in der Ukraine. Was heißt das aber konkret und wie ernst ist die Lage?
Mit Lilla Aktuellt sendet der schwedische Fernsehsender SVT seit Jahren eine Nachrichtensendung für Kinder und Jugendliche. Die Themen sind vielfältig, seit Kriegsbeginn in der Ukraine (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) nehmen die Kämpfe im Osten Europas einen Schwerpunkt in der Berichterstattung ein. Am 10. Jänner drehte sich dann in einer Sondersendung aber alles um einen möglichen Krieg in Schweden. Die Regierung hatte Tage zuvor vor Krieg im Land gewarnt, Falschinformationen in sozialen Medien hatten viele Kinder verunsichert. Mats Knutson, innenpolitischer Kommentator des schwedischen Fernsehens, relativiert: „Ein Krieg wird nicht morgen oder nächste Woche ausbrechen. Aber es ist gut zu wissen, die Welt ist nicht nur freundlich. Die Lage in unserem Teil der Welt ist härter und herausfordernder geworden.”
Schweden hat einen Minister für zivile Verteidigung
Nicht nur der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Micael Bydén und Verteidigungsminister Pål Jonson fanden zu Jahresbeginn deutliche Worte. Der Minister für zivile Verteidigung Carl-Oskar Bohlin formulierte es so: „Es kann Krieg in Schweden geben.” Und: „Wer bist du, wenn der Krieg kommt?” (-> Von Autor Nico Gramenz erschien kürzlich ein Buch mit gleichem Titel)
Der Aufruf galt allen Schweden und Schwedinnen, die umfassende Landesverteidigung zu stärken und selbst aktiv zu werden. Die Zivilpflicht (Pendant zur Wehrpflicht, betrifft alle schwedischen Staatsbürger zwischen dem 16. und 65. Lebensjahr) wurde aktiviert und Weiterbildung für Zivilpflichtige im Bereich der Rettungsdienste und der Versorgungsbereitschaft angekündigt. 500.000 Personen wurde eine Aufgabe in der Kriegsorganisation zugewiesen. Schutzbunker, Bevorratung medizinischer Produkte, gesicherte Trinkwasserversorgung und Stärkung der Cybersicherheit beschäftigen die zivile Verteidigung 2024 und sind der schwedischen Regierung 385 Millionen Schwedische Kronen (rund 33 Millionen Euro) an Investitionen wert.
Alle müssen etwas beitragen
Behörden müssen sich nun die Frage stellen, welche Aufgaben weiterhin zu bewerkstelligen sind. Gibt es ein Sicherheitskonzept? Wurden Abkommen mit freiwilligen Verteidigungsorganisationen geschlossen, auf die zugegriffen werden kann? In den 290 kleinsten Verwaltungseinheiten Schwedens, den Kommuner, stellt sich die Frage nach Zufluchtsorten, Notwasserplänen, der Sicherstellung der Versorgung und nach ausreichender Bevorratung. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen sich eigenverantwortlich um funktionale Arbeitsplätze im Rahmen einer Kriegsorganisation bemühen.
Wie sieht die private Bevorratung in schwedischen Haushalten aus? Gibt es Überlegungen, einer freiwilligen Verteidigungsorganisation beizutreten? Wenn es nach Minister Carl-Oskar Bohlin geht, sind alle, die sich diese Fragen noch nicht gestellt haben, sehr spät dran.
Ganz neu sind die Forderungen nicht. Bereits 2018 hat MSB (Myndigheten för samhällsskydd och beredskap), die Behörde für Zivilschutz und Bereitschaft, die Broschüre „Wenn die Krise oder der Krieg kommt” an alle schwedischen Haushalte versendet. Sie enthält praktische Tipps, wie eine gute Vorbereitung auf eine Krisensituation in den eigenen vier Wänden aussehen kann. Wie ist etwa mit dem Ausfall von Strom und Wärme umzugehen? In Nordschweden dauert der Winter bis zu acht Monate lang, die Temperaturen fallen regional bis minus 40 Grad Celsius. Um die Resilienz zu stärken, wird Familien ein Wochenende ohne Strom und ohne Mobiltelefon empfohlen. Ein wichtiger Punkt: wie informiere ich mich und nehme Kontakt auf, wenn es keine Telekommunikation gibt.
Von offizieller Seite wird auch der Besitz von Bargeld in Höhe von 2.000 schwedischen Kronen (rund 200 Euro) empfohlen. Ungewöhnlich für die Bevölkerung, ist Schweden doch weltweit das am meisten digitalisierte Land, wenn es um Bezahldienste geht.
Die neue Wirklichkeit
Bereits ab 2014 hat die veränderte Sicherheitslage die Schweden zum Umdenken gebracht. Während des Kalten Kriegs war das erhöhte Kriegsrisiko ein täglicher Begleiter. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verblasste diese Erinnerung. Nach Jahrzehnten des Friedens ist es für die meisten Schweden unvorstellbar geworden, ihr Land könnte in einer Kriegssituation landen. Neben der Umstellung der Streitkräfte ist das Wissen um Gefahren ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur umfassenden Landesverteidigung.
Noch während Schweden um den NATO-Beitritt bangte, der am 7. März 2024 besiegelt wurde, begann bereits das größte NATO-Manöver seit dem Kalten Krieg: „Steadfast Defender” (-> Militär Aktuell-Berichte zur Übungsserie). Bis Anfang Juni waren 90.000 Soldaten aus 32 Nationen in Skandinavien und im Osten Europas unterwegs. Es galt die arktische Atlantik-Region zu sichern und den Truppentransport aus dem Norden nach Osteuropa zu üben. In der Teiloperation „Immediate Response” bewegten sich bis Ende Mai kilometerlange Militärkonvois durch Nordschweden.
Sollte es zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommen, würden norwegische, schwedische und finnische Verbände gemeinsam die Nordkalotte verteidigen, so der Plan. Das war schon vor dem NATO-Beitritt ein gemeinsamer Motor für die Winterübung „Nordic Response”.
Land verteidigen? Ja? Oder nein?
Abseits der Truppenbewegungen im hohen Norden zeigt das schwedische Fernsehen junge Frauen und Männer, die jenseits des Polarkreises in Eislöcher springen. 2017 hat Schweden den verpflichtenden Grundwehrdienst wieder eingeführt. Jedes Jahr werden die besten 8.000 Rekruten und Rekrutinnen ausgewählt. Wer nicht will, muss aber nicht unbedingt zum Heer. Zumindest derzeit (noch) nicht. Laut aktuellem Bericht des Verteidigungsausschusses kann sich das aber ändern. Die Ausbildung im Grundwehrdienst ist in Schweden im Vergleich zu Österreich umfassender angelegt, neun bis 15 Monate dauert sie. Auch bei der schwedischen Heimwehr kündigt sich ein neuer Fokus an: Dabei geht es um die Anschaffung von Drohnen und die Ausbildung von 200 Drohnenpiloten innerhalb der nächsten zwei Jahre. Die Lehren aus dem Ukraine-Krieg sind die treibende Kraft dahinter. Die Heimwehr selbst erhielt nach Kriegsbeginn in der Ukraine großen Zulauf, ebenso nach den deutlichen Worten zu Jahresbeginn.
„Wenn mich nachts etwas wach hält, dann der Gedanke, dass unsere aktuellen Vorbereitungsmaßnahmen zu langsam vorankommen.“
Carl-Oscar Bohlin, Minister für zivile Verteidigung
Der Verteidigungswillen ist hoch
Wie stehen die Schweden und Schwedinnen selbst zum Thema Landesverteidigung? Eine Umfrage des Forschungsinstituts für umfassende Verteidigung FOI und des statistischen Zentralbüros SCB vom Herbst 2022 zeigt einen starken Verteidigungswillen der Allgemeinheit: Demnach finden 93,3 Prozent die militärische und 96,2 Prozent die zivile Verteidigung wichtig. Die Bereitschaft zum Dienst an der Waffe unter Einsatz des eigenen Lebens liegt mit 48,2 Prozent nahe dem Ergebnis von 2018. Der Personalbedarf der schwedischen Streitkräfte und anderer Bereiche innerhalb der Kriegsorganisation würden damit ausreichend abgedeckt werden, schreiben Christoffer Wedebrand und Herman Andersson vom Forschungsinstitut FOI.
Hotspot für feindliche Aktivitäten
Die militärische Radioanstalt FRA und der militärische Nachrichtendienst Must bezeugen zugleich auch erhöhte Aktivität im Bereich der Spionage, welche sich für militärische Systeme und Ziviltechnik interessiert. Die schwedische Sicherheitspolizei Säpo bestätigt, gerade der Norden Schwedens sei ein Hotspot für feindliche Aktivitäten. Cyberattacken gegen staatliche Energiekonzerne wie die schwedische Vattenfall oder die technische Universität in Luleå, geschehen täglich.
Störungen im GPS-System im Bereich der Ostsee, die sich auf Flugverkehr und Seefahrt auswirken, ebenso. Am 29. April sah sich Finnair gezwungen, den Flugverkehr nach Tartu in Estland für einen Monat zu pausieren. Der estnische Außenminister Margus Tsahkna bezeichnete die Vorfälle als hybride Kriegsführung Russlands.
Mit der Behörde für psychologische Verteidigung MPF hat Schweden sogar eine eigene Institution, die sich mit dem Schutz der schwedischen Bevölkerung vor Desinformationskampagnen und der feindlichen Manipulation, vor allem im digitalen Bereich, beschäftigt. In der EU verfügt nur ein weiteres Land über eine ebensolche Institution, nämlich Frankreich.
Joakim Paasikivi, Lehrer an der Hochschule für Landesverteidigung, formulierte es für die jungen Zuschauer in Lilla Aktuellt so: „Wenn man nicht für Fußball trainiert, dann wird man schlecht spielen. Bereitet man sich nicht auf Krieg vor, dann wird man auch darin nicht gut sein.”
Carl-Oskar Bohlin scheint derzeit jedenfalls keinen guten Schlaf zu haben: „In der momentanen Lage müssen alle verstehen, dass unsere wertvollste nicht erneuerbare Ressource die Zeit ist. Wenn mich nachts etwas wach hält, dann der Gedanke, dass unsere aktuellen Vorbereitungsmaßnahmen zu langsam vorankommen.”
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