Der Terroranschlag in der Wiener Innenstadt, bei dem vier Personen getötet wurden, wirft immer noch zahlreiche Fragen auf. Einige davon versuchen die beiden Terrorismusexperten Nicolas Stockhammer und Peter Neumann in einer umfassenden Analyse zu beantworten.
Kurz nach dem Terroranschlag, der sich am 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt zugetragen an, meldete sich Nicolas Stockhammer, Politikwissenschaftler mit Fokus auf Sicherheitspolitik und Terrorismusexperte, mit ersten Einschätzungen zu Wort. Er erklärte damals unter anderem, dass durch die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Frankreich, die terroristische Bedrohung für ganz Europa „graduell größer” geworden sei.
Nun hat der Terrorismus- und Politikexperte gemeinsam mit Peter R. Neumann, Professor für Security Studies am War Studies Department des Londoner King’s College, eine mehrseitige Analyse des Anschlags vorgelegt, die sich, wie die beiden Autoren betonen, auf vorläufige Lektionen konzentriert. Ausgehend von der Kontextualisierung des Anschlags entwickeln die beiden Experten ihre Erkenntnisse, die auch Vorschläge zur effizienteren Koordination und Prävention enthalten.
Lokale und internationale Kontextualisierung
Im ersten Abschnitt ihrer Analyse klären Stockhammer und Neumann darüber auf, dass Wien über lange Zeit hinweg als sekundäres Terrorziel qualifiziert wurde. „Trotz der zunehmenden Internationalisierung des Terrorismus, vor allem im jihadistischen Spektrum, war das subjektive Bedrohungsempfinden der österreichischen Bevölkerung, aber teilweise auch bei den Sicherheitsbehörden eher optimistisch gelagert”, schreiben die beiden Experten. Gleichzeitig entwickelte sich zunehmend eine weniger optimistische Wahrnehmung, die sich unter anderem auf die fortschreitende transnationale Vernetzung des islamistischen Terrors wie auch auf die Perzeption Wiens als vergleichsweise „weiches Ziel” für Terroristen bezog. Die beidem Terrorismusexperten leiten aus diesen Beobachtungen drei wesentliche Faktoren ab, die dazu beigetragen haben, dass Wien zunehmend ins Visier des IS-Terrors geraten ist: Zunächst war seit Beginn der Covid-19-Pandemie war eine verstärkte Propaganda-Aktivität islamistischer Gruppierungen zu beobachten. Wie die beiden Experten ebenfalls festhalten, existiert in Österreich, bemessen an der Einwohnerzahl, eine relativ stark ausgeprägte islamistische Szene, die transnational vernetzt ist. Darüber hinaus hat sich, Stockhammer und Neumann zufolge, aus dem Umstand, dass Wien Lebensmittelpunkt des Terroristen war und es im Herbst eine jihadistische Terrorwelle in Europa gegeben hat, eine brisante Kombination entwickelt.
„Ein weiterer Faktor war zweifellos, dass mit dem Sieg über das vermeintliche Kalifat in Syrien und dem Irak in den Jahren 2017/18 das Thema Islamischer Staat (IS) fast völlig aus den Schlagzeilen – und damit dem öffentlichen Bewusstsein – verschwunden war”, so die beiden Autoren. Das ändert aber nichts daran, dass Europa für den IS nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, was wiederum damit zusammenhängt, „dass der IS durch Terroranschläge im Westen den Verlust des Kalifats (zumindest teilweise) zu kompensieren versucht.”
Die Taktik
„Zielobjektspezifisch deutet mit Blick auf die Terroranschlagsdurchführung nach derzeitigem Kenntnisstand einiges auf eine bewusste Auswahl von Gotteshäusern anderer Glaubensgemeinschaften hin, was auch durch das versuchte Eindringen des Attentäters in die Ruprechtskirche untermauert wird”, kann in der Analyse nachgelesen werden. Aufgrund des Tathergangs schließen Stockhammer und Neumann auf handwerkliche Defizite seitens des Attentäters, die vor allem den Umgang mit der Langwaffe betrafen. Die beiden Experten ordnen den Attentäter deshalb eher dem Spektrum der Gelegenheitsattentäter, Nachahmer oder Trittbrettfahrer zu. Trotzdem ist wahrscheinlich, dass er, ohne explizit Teil eines manifesten Terrornetzwerks zu sein, in direktem Kontakt mit einschlägigen jihadistischen Gruppierungen und Gesinnungsgenossen im In- und Ausland gestanden ist.
Defizite und Reformbedarf
„Die Ermittlungen im Nachklang an den Terroranschlag vom 2. November haben zahlreiche Ungereimtheiten und Hinweise auf mögliche systemische Defizite bei der misslungenen Prävention von Seiten der Behörden zutage gefördert”, schreiben Neumann und Stockhammer weiter. Im Visier der öffentlichen Kritik standen zunächst die Deradikalisierungsprogramme im Strafvollzug. Die beiden Terrorismusexperten schlagen daher vor, „dieses Instrument realistisch einzuschätzen und dafür zu sorgen, dass dessen Verwendung ziel- und zweckgerichtet erfolgt”. Die Programme seien, so Stockhammer und Neumann, nämlich weder nutzlos noch ein „Allheilmittel”. Sehr viel intensiver wird derzeit aber noch darüber diskutiert, was dazu geführt haben könnte, dass „die interne, behördenübergreifende Weitergabe (Landesverfassungsschutz an Bundesverfassungsschutz beziehungsweise Staatsanwaltschaft) von hochrelevanten Informationen ausländischer Partnerdienste nicht ordnungsgemäß funktioniert hat und warum die große Last an Indizien nicht automatisch zu einem Verfahren geführt hat. „Vor allem im Bereich der Kommunikation und Abstimmung zwischen den Behörden dürfte es, soweit bislang bekannt, zu erheblichen Fehlleistungen oder Unterlassungen gekommen sein.” Die vorhandenen Indizien lassen den Schluss zu, dass es aufseiten des Verfassungsschutzes ein graduelles Systemversagen gegeben haben muss. „Vor allem der Bereich ‚Überwachung von Gefährdern’ im Nachklang an die Haft muss jedenfalls besser funktionieren”, lautet der klare Hinweis der Autoren.
„Vor diesem Hintergrund hat die österreichische Bundesregierung ein umfassendes Anti-Terror-Gesetzespaket vorgeschlagen. Eine wesentliche, darin vorgesehene Maßnahme ist die sogenannte ‚Präventivhaft im Maßnahmenvollzug’ vulgo ‚Sicherungsverwahrung’, wonach Gefährder auch über einen längeren Zeitraum in rechtlicher Analogie zu geistig abnormen Rechtsbrechern ‚verwahrt’ werden dürfen. Ob sich dies als grundrechtskompatibel erweist und Gesetz werden kann, erscheint dennoch fraglich.”
Koordination und Kooperation
Der Terroranschlag hat gezeigt, dass die Abstimmung zwischen den einzelnen Behörden nur unzureichend funktioniert hat. Die einfachste Lösung, dies zu verbessern, wäre das „Fusion Centre”-Modell, wie es von fast allen westlichen Ländern in den vergangenen zwei Jahrzehnten eingeführt wurde. Dabei handelt es sich um Foren, in denen sich Vertreter aller relevanten Behörden und Dienste wöchentlich treffen, vernetzen, Informationen austauschen, Fälle besprechen und systematisch ihr Vorgehen koordinieren.
Eine zweite Möglichkeit ist die Schaffung einer Quasi-Behörde, wie beispielsweise der niederländische „Anti-Terrorismus-Koordinator” oder das „National Counterterrorism Center” (NCTC) in den Vereinigten Staaten, die ebenfalls der Koordination und dem Informationsaustausch dienen. „Der Unterschied (zu den ,Fusion Centres’) ist, dass Vertreter dieser Behörden für längere Zeiträume an diese Strukturen abgeordnet werden und dass die dort getroffenen Entscheidungen für alle Teilnehmer verpflichtend sind.”
Verbesserungsbedarf besteht, so Stockhammer und Neumann abschließend, aber nicht nur innerhalb Österreichs, sondern auch auf europäischer Ebene. Dazu gehört, so die Experten, auch eine fokussiertere Anti-Terrorismusstrategie der EU.