Kurden bilden weder ethnisch noch sprachlich, religiös oder politisch jene Gemeinschaft, als die sie in der Weltöffentlichkeit oft dargestellt werden. Eine Analyse von IFK-Experte Walter Posch.
Die Kurden sind mit geschätzten 40 Millionen das größte Volk ohne eigenen Staat im Nahen Osten – heißt es. Allerdings bilden die Kurden weder ethnisch noch sprachlich, religiös und schon gar nicht politisch eine Einheit und sind zudem auf mehrere Staaten in der Region aufgeteilt. Trotzdem herrscht ein kurdisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das einerseits kulturell begründet ist, andererseits jedoch aus der Gewalterfahrung gespeist wird, die alle Kurden mit den jeweiligen Nationalstaaten – Türkei, Iran, Irak und Syrien – erleben mussten. Das erklärt auch, warum die Vision eines einheitlichen kurdischen Nationalstaates eher im Bereich der nationalen Romantik als in der Realpolitik liegt. Darüber kann selbst die Schaffung der kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Irak („Heremi Kurdistan”) und in Syrien („Rojava”) nicht hinwegtäuschen.
Das liegt auch daran, dass sich die Art der Selbstverwaltung und Autonomie dieser beiden Gebiete erheblich unterscheidet: Das irakische Kurdistan beruht auf einer verfassungsmäßig garantierten Regionalstruktur im Rahmen des Irak, die nach der amerikanischen Intervention 2003 verstärkt wurde. Die Autonomie des Rojava genannten Gebietes in Nordsyrien hingegen kann weder auf historische Vorbilder verweisen, noch ist sie rechtlich abgesichert. Vielmehr handelt es sich um einen einseitigen Akt der kurdischen Arbeiterpartie PKK, mit der ihr politisches Projekt der „Union der Gesellschaften Kurdistans” auf syrischem Staatsgebiet umgesetzt werden soll.
Damit wird das politische Hauptproblem für die kurdischen Akteure offensichtlich: die Tatsache, dass unterschiedliche Ideologien zu unterschiedlichen Politikansätzen führen, die das Entstehen einer effizienten, gemeinsamen kurdischen Plattform bisher verhindert haben. Die Nationalstaaten in der Region machten sich die Zersplitterung der kurdischen politischen Landschaft zunutze, indem sie einen kurdischen Akteur gegen den anderen ausspielten.
Im Prinzip sind drei politische Strömungen unter den Kurden von Bedeutung: Nationalisten, Revolutionäre und Islamisten. Zu den Nationalisten sind die nordirakischen kurdischen Parteien PUK und KDP zu zählen, die ein Staatsbildungsprojekt betreiben und langfristig einen unabhängigen Kurdenstaat auf dem von ihnen kontrollierten Territorium anstreben. Sie können auf die größte politische Erfahrung im Umgang mit internationalen Mächten wie den USA zurückblicken, auf deren Unterstützung sie in der Regel zählen können. Anders die in der Türkei entstandene PKK, welche die wichtigste revolutionäre Organisation in der Region ist und die in den letzten Jahrzehnten wichtige politische und militärische Infrastrukturen im Irak, Iran und vor allem in Syrien ausgebaut hat. Sie steht traditionellerweise in scharfer Konkurrenz zur kurdischen Regionalregierung im Irak, vor allem zu Präsident Masud Barzani. Schließlich spielen die kurdischen Islamisten eine zunehmend bedeutende Rolle. Sie engagieren sich im Irak im Rahmen der kurdischen Regionalregierung, scheinen im Iran eine Art Stillhalteabkommen mit dem Regime eingegangen zu sein und sind in der Türkei sowohl in PKK-geführten als auch regierungsnahen Organisationen und Parteien tätig. Eine kleinere Gruppe gründete die „Partei der Freien Sache” (Hüda Par), der man Beziehungen zu muslimischen Extremisten in Syrien und im Irak nachsagt.
Bis auf wenige Ausnahmen gingen so gut wie alle kurdischen Parteien aus Bürgerkriegen hervor, sodass die Parteien in der Regel auch eine Miliz unterhalten. Politische Auseinandersetzungen werden dann schnell gewalttätig ausgetragen. So litten die Kurden im Nordirak in den 1990er-Jahren mehr unter den Kämpfen zwischen den Peschmergas der KDP und der PUK als unter dem Terrorregime Saddam Husseins. Die PKK stellt ohne Zweifel die am besten ausgebildete Guerilla, die ursprünglich von den Syrern im Libanon ausgebildet wurde, die sich aber als diszipliniert und lernfähig erwies, sodass Erfahrungen vom Gefechtsfeld rasch in die Praxis umgesetzt werden konnten. Dazu kommt eine über Jahre aufgebaute militärische Infrastruktur im Irak und selbst in der Türkei, von der aus es ihr möglich ist, die Bewegungsfreiheit der türkischen Armee immer wieder empfindlich zu stören. Bei den Islamisten spielten Anfang der 2000er-Jahre Gruppen aus dem Umfeld der al-Qaida, die im iranisch-irakischen Grenzgebiet aktiv waren, eine gewisse Rolle. In der Türkei unterhält die Hüda Par ebenfalls eine Miliz, die wiederum in der Tradition einer in den 1990er-Jahren aktiv gewesenen und ursprünglich von den Iranern unterstützten Organisation namens Hizbullah steht.
Obwohl die politische Führung der kurdischen Parteien kaum in der Lage zur koordinierten politischen Aktion zu sein scheint, können sich die Parteiführer dem Druck der kurdischen Bevölkerung nicht ganz entziehen, die der ewigen Machtkämpfe und gewalttätigen Auseinandersetzungen müde ist. So vermeiden die beiden verfeindeten Gruppen PKK und KDP nach Möglichkeit direkte militärische Konfrontation, obwohl die PKK ihren militärischen Einfluss nach dem Desaster im Sinjar-Gebirge von 2014, als KDP-Peschmergas das Feld kampflos dem Islamischen Staat überließen, zu Lasten der KDP ausweiten konnte.
Allerdings haben die militärischen Erfolge im Sinjar-Gebirge, in Syrien und in den türkischen Hochgebirgslagen zur Selbstüberschätzung der Guerilla geführt. Im Zuge der Friedensgespräche zwischen dem inhaftierten Parteiführer Abdullah Öcalan und der im türkischen Parlament vertretenen HDP auf der einen und türkischen Regierungsvertretern auf der anderen Seite spielte die Guerilla keine besonders glückliche Rolle. So unterminierten sie die Gespräche indem sie aus der arbeitslosen Jugend der kurdischen Städte lokale Milizen rekrutierte und damit den türkischen Sicherheitskräften den Vorwand zum Zuschlagen lieferten, anstatt die HDP nach Kräften zu unterstützen.
Weder die türkische noch die kurdische Seite – vor allem Öcalan persönlich und die Guerillaführung – erlaubten der HDP, einen selbstständigen Kurs zu fahren. Dadurch kam die Partei unter schweren Druck und musste hilflos zusehen, wie eine kurdische Stadt nach der anderen zerstört wurde – die Bilder aus Cizre in der Türkei ähneln denen aus Aleppo. Vor diesem Hintergrund entschloss sich der fähige Parteiführer Salahettin Demirtas, Gespräche mit den irakischen Kurden unter Masud Barzani aufzunehmen. Noch ist vom Inhalt der Gespräche wenig bekannt geworden, so viel steht jedenfalls fest, dass der stets um gute Beziehungen zu Ankara bemühte Barzani als Vermittler eingeschaltet werden soll. Wenn dies gelingt, wäre eine konstruktive pan-kurdische Politik zum ersten Mal in der Geschichte zustande kommen.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar „Syrien & Irak: Die Büchse der Pandora ist geöffnet!” von IFK-Leiter Brigadier Walter Feichtinger.