Vor Wochen hat die ukrainische Gegenoffensive begonnen. Der Krieg findet aber nicht nur an der rund 1.200 Kilometer langen Front, sondern auch im Hinterland statt. Dabei werden Taktiken aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg genauso angewendet wie topmoderne Waffensysteme. Und einmal mehr entscheidet dabei die psychologische Kriegsführung über Kampfmoral und Widerstandswillen. Eine Analyse von Sicherheitspolitik-Experte Brigadier a. D. Walter Feichtinger.

Der monatelange Kampf um Bachmut ist symptomatisch für konventionelle Kriege, wie wir sie früher kannten. Moskau hat etwa 20.000 russische Soldaten und Wagner-Söldner in den Tod geschickt, um einen symbolischen „Sieg” ohne strategischen Nutzen zu erringen. Und auch an anderen Frontabschnitten wird unter vernichtendem Artilleriefeuer um jeden Meter gekämpft. Das erinnert an den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ähnlich wie damals ist der Kampf in der Ukraine ein Abnützungskrieg mit Artillerie und Infanterie, auch wenn modernste Führungs- und Waffensysteme zum Einsatz kommen.

Der Krieg im „Hinterland”
Nachdem Russlands Vorstoß im Herbst 2022 zum Erliegen gekommen war, ging Moskau zum „Krieg gegen das Hinterland” über. Seither werden Bahnhöfe, Umspannwerke, Versorgungseinrichtungen, Depots, Kommandozentralen und andere Ziele ins Visier genommen, um lebens- und kriegswichtige kritische Infrastruktur zu zerstören. Diese meist nächtlichen Überfälle mit weitreichenden Drohnen, Raketen oder Marschflugkörpern sollen außerdem die ukrainische Bevölkerung zermürben und demoralisieren – bislang jedoch ohne Erfolg.

Saab-Experte: Was können wir aus der Ukraine lernen?

Aber auch die Ukraine führt einen Krieg hinter der Front. Der überraschende Raketengriff auf die strategisch wichtige Brücke von Kertsch hat die russische Seite empfindlich getroffen. Sie muss sich seither auch 100 Kilometer hinter der Front
gegen Überraschungsangriffe wappnen. Das erschwert Russlands Logistik und
somit auch Angriffs- wie Verteidigungsoperationen. Schon im April 2022 hatte die Versenkung des Raketenkreuzers Moskwa für Aufsehen gesorgt.

Subversive Kampfführung spielte bislang noch keine große Rolle. Es gab zwar vereinzelt Meldungen über Sabotageakte auf Eisenbahnlinien in Weißrussland, auch auf russischem Territorium finden Anschläge statt. Doch aus den okkupierten Gebieten sind keine signifikanten Vorfälle bekannt – was sich jedoch mit einem erfolgreichen Vormarsch ukrainischer Truppen rasch ändern kann.

„Mit dem Start der Gegenoffensive sind die Grenzen zwischen Front und Hinterland zusends am Verschwinden.“

Entscheidende Waffenfront
Erstmals nach dem Irak-Krieg 2003 findet wieder ein konventioneller Kampf in großem Maßstab statt. Neue Waffensysteme werden unter Kriegsbedingungen eingesetzt und weiterentwickelt. Die russische Hyperschallrakete Kinzhal, das US-Luftabwehrsystem Patriot oder iranische Kampfdrohnen Shahed 136 erfahren ihre Feuertaufe. Ihr Erfolg entscheidet nicht nur das Kampfgeschehen, sondern erfüllt auch einen propagandistischen Zweck.

Die Grenzen werden aufgelöst
Mit dem Start der Gegenoffensive sind die Grenzen zwischen Front und Hinterland zusends am Verschwinden. Denn die ukrainische Seite wird mit Fortdauer alles daransetzen, im Angriffszentrum eine Überlegenheit zu erzielen und russische Kräfte in der Tiefe auszuschalten. In kritischen Phasen könnte dabei das psychologische Moment den Ausschlag über den Erfolg auf dem Gefechtsfeld geben.

Quelle@Getty Images