Mark Rutte, ehemaliger niederländischer Premierminister, ist seit einem Jahr Generalsekretär der NATO. Sein Weg von Den Haag an die Spitze des transatlantischen Bündnisses ist geprägt von Krisenerfahrung, Pragmatismus und einem unverwechselbaren Stil. Wie tickt der NATO-Chef?
Da war er wieder! Händeschüttelnd und hier und da smalltalkend betrat Mark Rutte unlängst ein zur Universität Leiden gehörendes Gebäude in seiner Heimatstadt Den Haag. Im Auditorium stellte er sich den Fragen von 750 Studierenden, wobei er neben der Moderatorin auf einem Pult Platz nahm. Im Gesicht sieht man ihm seine 58 Jahre inzwischen an, und doch schlug der NATO-Generalsekretär, so ist man geneigt zu sagen, dort genauso auf, wie er sich in den letzten Jahren gerne präsentierte: weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln, Jeans, schwarze All Star-Turnschuhe, Rucksack. Und dazu natürlich sein unvermeidliches Grinsen.
Spitzname „Teflon-Mark“
Seit einem Jahr ist Rutte inzwischen in seinem neuen Amt. Dass dieses angesichts der aktuellen geopolitischen Turbulenzen nicht einfach würde, war klar. Dass sich das transatlantische Bündnis und zumal seine europäischen Mitgliedsstaaten in einem derartigen Schleuderwaschgang wiederfinden würden, konnte auch Rutte, als niederländischer Premier bei über 100 EU-Gipfeln dabei, nicht ahnen. Und doch, so beantwortet er gleich die erste Frage, bereut er seinen Schritt zur NATO keinesfalls: „Ich genieße es enorm, es ist eine große Ehre dies zu tun, auch wenn es nicht leicht ist.”
Mit schwierigen Situationen kennt sich Rutte, der in einem reformiert-protestantischen Haushalt als jüngstes von sieben Geschwistern aufwuchs und vor der politischen Karriere als Unilever-Manager tätig war, aus. Von 2010 bis 2024 stand er als Premierminister an der Spitze von vier aufeinanderfolgenden Regierungen, und es waren zwei Krisen, die für ihn persönlich, wie auch in seiner Außenwirkung, aus diesen knapp 14 Jahren herausstachen: der Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 im Juli 2014 durch eine russische Rakete sowie die Covid-Pandemie. Ersteres nannte er selbst im Rückblick das „einschneidendste und emotionalste Ereignis” seiner Zeit als Premier. Der Beginn der letzteren markierte den Höhepunkt von Ruttes Popularität im eigenen Land. Dass danach ein schneller, tiefer Fall folgte, zeigt die starke Ambivalenz seiner politischen Karriere, bevor er an die Spitze der NATO wechselte.
Rutte, zu Beginn seiner Zeit in Den Haag bisweilen unterschätzt, wurde 2010 zum ersten Premierminister seiner liberal-rechten Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) und führte diese zur erfolgreichsten Periode ihrer Geschichte. Auf der anderen Seite eilte Rutte sein Spitzname „Teflon-Mark” voraus, weil politische Affären an ihm einfach abzuprallen schienen, so lange, bis der Zauber schließlich doch verflogen war.
Am Ende von Ruttes Zeit als Premier brachten ihn der Kinderzuschlag-Skandal und die Missachtung der Erdbeben-Opfer in der Region Groningen in große Bedrängnis. Sein mehrfach beteuerter Satz, er habe an die betreffende Situation „keine aktive Erinnerung”, wurde zu einem geflügelten Wort und machten Rutte eigentlich untragbar.
Der ohnehin angeschlagenen Reputation der etablierten Politik erwies er damit einen Bärendienst. Die wachsende rechtspopulistische Bewegung formte aus seinem Namen und dem Verb „oprotten” (sich verpissen) den emblematischen Slogan „Oprutte!”.
Was den Premier während all dieser Zeit kennzeichnete, war seine unkomplizierte Jovialität. Rutte ist zugänglich wie kaum ein anderer Politiker. Zahlreiche Medienvertreter, Beschäftige bei Firmenbesuchen oder auf der Straße haben ihn als jemand erfahren, der schnell ins Plaudern gerät und lacht. Zu wichtigen Besprechungen in Den Haag erschien er gerne mit dem Fahrrad, und als Journalist konnte man Rutte bei öffentlichen Auftritten auch schon mal spontan um ein Statement fragen, ohne sich dafür ordnungsgemäß angemeldet zu haben. Selbst wenn sein Stab es ablehnte, Rutte antwortete.
Ambivalent war in seiner Rekordzeit als Regierungschef aber auch das Verhältnis zum Rechtspopulismus. Gerade weil er in seiner Partei kein Hardliner war, hatte man bisweilen das Gefühl, Rutte wolle sich auch in diesem Spektrum Unterstützung sichern. Wenn er dann etwa euroskeptische oder zuwanderungsfeindliche Diskurse bediente, konnte das hölzern wirken.
„Mit Visionen sollte man zum Augenarzt.“
Mark Rutte
Die PVV machte er erst salonfähig, indem er seine erste Regierung von ihr dulden ließ, danach schloss er sie als Koalitionspartnerin aus. Zwischenzeitlich war Rutte ein Lieblings- Ziel der Tiraden des Rechtspopulisten Geert Wilders.
Rutte, der ein passionierter Pianist ist und in jungen Jahren sogar mit dem Konservatorium liebäugelte, war zugleich auch der erste Premierminister, der sich im Namen von Staat und Regierung für die finstersten Seiten in deren Geschichte entschuldigte: das Versagen gegenüber der eigenen jüdischen Bevölkerung während des Holocaust, die niederländische Rolle im transatlantischen Sklavenhandel und die koloniale Gewalt im Unabhängigkeitskrieg Indonesiens in den späten 1940er-Jahren.
Als er sich für den Posten als NATO-Generalsekretär in Stellung brachte, überraschte dies zunächst. Ruttes politische Vita kennt keine verteidigungs- oder außenpolitische Spezialisierung. In seiner Frühzeit als Premier gab es satte Einschnitte in den Verteidigungshaushalt, die NATO-Norm von zwei Prozent wurde, wie auch in anderen Mitgliedsländern, erst in der Spätphase der Rutte-Ära ernstgenommen. Dem gegenüber stehen seine enorme internationale Erfahrung, verbindenden Kapazitäten und die pragmatische Mentalität.
Pianist, Pragmatiker, Protestant
In Anlehnung an Helmut-Schmidt (ehemaliger deutscher Bundeskanzler) empfahl Rutte einst: „Mit Visionen sollte man zum Augenarzt.” In seinem ersten Jahr interpretierte er seine Rolle genauso: er vermittelte, moderierte und versuchte, alle Beteiligten an Bord zu halten. Am meisten natürlich Donald Trump, dessen Regierung seit dem NATO-Gipfel in Ruttes Heimatstadt im Juni wieder näher bei ihren transatlantischen Partnern steht.
Dass viele Ruttes unterwürfiges Verhalten gegenüber Trump anbiedernd fanden, ficht ihn nicht an. Das schwierige Verhältnis kitten und die nationalen Haushalte in Richtung der geforderten fünf Prozent bringen, nicht mehr und nicht weniger war Ruttes Anliegen. Mission erfüllt. Das zweite Jahr wird neue Herausforderungen bringen.
Hier geht es zu Meldungen rund um die NATO.













