Trotz eines Waffenstillstandes kommt es in der Ostukraine immer wieder zu Gefechten und Artilleriebeschuss. Für Oberst Thomas Rapatz, Leiter der Führungsabteilung der Landesverteidigungsakademie und von 2005 bis 2010 österreichischer Militärattaché in der Ukraine, ist eine weitere Eskalation vor dem Winter aber trotzdem unwahrscheinlich. „Langfristig wird eine Befriedung ohne internationale Überwachung aber nicht machbar sein!”
Die nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangte Eigenstaatlichkeit und die seit der NATO-Osterweiterung und mit der Revolution in Orange bis zum Volksaufstand in Kiew fortgeführte Transformation Richtung EU-Europa hat die Ukraine massiv gespalten. Dadurch entfaltete sich in den vergangenen Jahren eine Eigendynamik, die durch partikulare Interessen einiger mitteleuropäischer Staaten noch befeuert wurde. Diese verfolgten das Anliegen, sich mit einem Vorfeld an freundlichen, kooperationswilligen Staaten im Osten zu umgeben, sich quasi ein Glacis gegen Russland zu schaffen. Bei diesem Vorgehen, das erstaunlicherweise die mögliche Gegenwehr Moskaus nicht miteinbezog oder diese als überwindbar ansah, fehlte aber die politische Folgenabschätzung.
Begonnen hat die, selbst von Experten kaum für möglich gehaltene, Eskalation in der Ukraine vor einem Jahr in der Hauptstadt Kiew mit einem Aufruf zur Demonstration, nachdem die ukrainische Regierung unter Viktor Janukowitsch den Annäherungsprozess an die EU gestoppt und einen russlandfreundlichen Kurs eingeschlagen hatte. Rasch eskalierte der Protest und mit dem putschartigen Sturz von Janukowitsch kam es Ende Februar in Kiew zum Machtwechsel. Der EU-freundliche Petro Poroschenko kam ans Ruder. In der Folge wurde die Halbinsel Krim von Russland annektiert und im Osten der Ukraine wurden Grenzen mit Waffengewalt neu gezogen. Nach Gesprächen zwischen den Konfliktparteien Anfang September in Minsk gilt nun offiziell ein Waffenstillstand, den die OSZE – auch mit Beteiligung Österreichs – derzeit mit zwei Missionen überwachen soll. Trotzdem finden aber in der Ostukraine nach wie vor örtlich begrenzte Gefechte statt, immer wieder kommt es auch zu Artilleriebeschuss. Schätzungen zufolge sind seit inkrafttreten der Waffenruhe mehr als 300 Menschen bei Kampfhandlungen getötet worden – ein Ende ist nicht absehbar: Bei den Separationskräften erfolgt eine laufende Zuführung von Waffen, Munition und militärischem Gerät über die Grenze aus Russland und auch die ukrainischen Kräfte der „Anti Terror Operation“ werden derzeit verstärkt, umgruppiert und die stützpunktartigen Stellungen an den Kontrollpunkten werden massiv zur Verteidigung ausgebaut.
Obwohl starke Truppenkonzentrationen auf russischer Seite durch die NATO
gemeldet werden, kann angenommen werden, dass die Lage vor dem Winter nicht weiter eskalieren wird. Subversive Anschläge auch außerhalb der von den Separatisten besetzten Gebiete werden aber vermutlich zunehmen, um die Ukraine weiter zu destabilisieren. So ergeben jüngste militärische Aktivitäten Russlands ein Bild, dass trotz verhängter Wirtschaftssanktionen und Reisebeschränkungen durch den Westen die Kremlführung eher unbeeindruckt bleibt und gewillt ist, weiter am eingeschlagenen Kurs festzuhalten. Die partielle Schwächung eines Nachbarstaates wird dabei bewusst in Kauf genommen.
In der Ostukraine ist daher die Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen verbunden mit der Einstellung aller Kampfhandlungen unerlässlich, um Verhandlungslösungen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien möglich zu machen. Ohne internationale Überwachung durch die OSZE und diplomatisches Krisenmanagement sowie internationale Unterstützung der Ukraine, wird langfristig eine Befriedung nicht machbar sein. Denn neben der Zukunft der Ukraine geht es auch um die Tauglichkeit internationaler Verträge. Aber auch um das Verhältnis zwischen Moskau und der EU, um die internationale Position und Bedeutung Russlands, um die europäische Integrations- und Energiepolitik und nicht zuletzt um die strategische Ausrichtung der NATO.