Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Wolfgang Pusztai. Wir haben mit dem Politik- und Sicherheitsanalysten, der unter anderem am Austrian Institute for European and Security Policy tätig ist, über Sicherheitsfragen die EU und USA betreffend gesprochen.
Herr Pusztai, bereits in seiner ersten Amtszeit bemängelte Donald Trump die niedrigen Rüstungsausgaben der Europäer. Mittlerweile haben die Staaten ihre Militärausgaben deutlich erhöht. Trotzdem gibt es noch acht europäische NATO-Mitglieder, die weniger als 2 Prozent des BIP ausgeben. Wäre das für Trump ein Grund, die NATO-Verpflichtungen im Falle eines Angriffs auf die EU nicht einzuhalten?
Wird ein EU-Staat angegriffen, der auch NATO-Mitglied ist, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die USA ihrer Beistandspflicht nachkommen werden. Alle europäischen NATO-Staaten haben sich zudem verpflichtet, ihre Verteidigungsausgaben weiter zu erhöhen. Mit Ausnahme Norwegens (2,2 Prozent) geben alle Mitgliedsstaaten, die direkt an Russland grenzen, bereits mehr als 2,4 Prozent ihres BIP für Verteidigung aus. Polen wendet sogar 4,12 Prozent seines BIP für die Verteidigung auf (-> Polen auf dem Weg zur stärksten Armee Europas) und will diesen Anteil weiter erhöhen. Deshalb sagte der US-Präsident auch bei dem umstrittenen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky im Oval Office: „I am very committed to Poland. […] We’re going to be very committed and we’re committed to NATO, but NATO has to step up and the Europeans have to step up more […]”.
Die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO ist aber unabhängig von Trumps Drängen ohnehin eine Notwendigkeit. Das ist für Amerika und für Europa von Vorteil und würde auch amerikanische Ressourcen für den pazifischen Raum freisetzen, um dort ein ausreichendes Gegengewicht zu China zu schaffen. Dies ist sicherlich auch im europäischen Interesse.
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass ein großangelegter militärischer Angriff Russlands auf die NATO wahrscheinlich an der gemeinsamen Grenze beginnen würde. Ein militärischer Angriff Russlands auf einen EU-Staat, der nicht Mitglied der NATO ist, erscheint mir schon aus geographischen Gründen höchst unwahrscheinlich.
„Der US-Vizepräsident ,übersieht‘, dass die europäischen Staaten bereits in der Vergangenheit erhebliche Beiträge zu von den USA geführten außereuropäischen Militäroperationen geleistet haben.“
Mit Bezug auf die US-Angriffe auf die Huthi-Rebellen im Jemen warf Vizepräsident JD Vance die Frage auf, ob man die Europäer für diese Militärschläge bezahlen lassen sollte. Könnte sich die Beziehung EU-USA in Zukunft so entwickeln, dass Europa für jede US-Hilfeleistung zur Kasse gebeten wird? Etwa auch für US-Geheimdienstinformationen zur Terrorabwehr?
Der US-Vizepräsident „übersieht”, dass die europäischen Staaten bereits in der Vergangenheit erhebliche Beiträge zu von den USA geführten außereuropäischen Militäroperationen geleistet haben, die in erster Linie im amerikanischen Interesse gelegen sind.
Dennoch ist zu erwarten, dass die USA in Zukunft verstärkt auf eine europäische Beteiligung an militärischen Operationen drängen werden, die – wie die Sicherung der Schifffahrt im Roten Meer – vor allem im europäischen Interesse liegen. In Zukunft dürfte es nicht mehr ausreichen, wenn sich Frankreich und Großbritannien in nennenswertem Umfang an solchen Einsätzen beteiligen. Eine symbolische Beteiligung im „nicht-kämpfenden Bereich” durch andere NATO-Staaten, insbesondere durch Deutschland, wird nicht mehr ausreichen.
Eine „Bezahlung” oder direkte Gegenleistung für US-Geheimdienstinformationen zur Terrorabwehr, also zur unmittelbaren Verhinderung von Terroranschlägen, schließe ich aus.
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Folgt man der Rhetorik der Trump-Regierung, kann man zur Einsicht gelangen, dass Europa für Washington eine einzige Belastung ist: ein Staatenbündnis, dass den USA Geld und Aufmerksamkeit abverlangt, ohne dass Washington davon profitieren würde. Welche Vorteile bringt denn der Bündnispartner EU den USA?
Das amerikanische Engagement innerhalb der NATO ist schon seit der Gründung des Bündnisses nicht frei von Eigeninteressen. Das hat sich auch unter Donald Trump nicht geändert. Die Führungsrolle in der NATO hat für die USA mehrere handfeste Vorteile. Insbesondere ermöglicht sie die faktische Beherrschung eines riesigen Rüstungsmarktes, auch weil die technologischen Standards der NATO in der Regel von der US-Industrie bestimmt werden.
Die NATO ist ein Instrument zur Eindämmung des russischen Einflusses nicht nur in Europa, sondern auch in der Arktis und teilweise im Pazifik, also in Regionen, die für die USA zunehmend an Bedeutung gewinnen. Sie bietet den USA einen Pool interoperabler Partner für weltweite militärische Operationen, um gemeinsamen Bedrohungen zu begegnen.
Der Zugang der USA zum NATO-Gebiet ist ein enormer geostrategischer Vorteil, der ihre strategische Reichweite vergrößert und den Zugang zu vorgeschobenen Stützpunkten für weltweite Operationen, einschließlich zur Raketenabwehr (Ballistic Missile Defense – BMD) und zur U-Boot-Abwehr, ermöglicht.
Die hochmodernen Radarstationen (Ballistic Missile Early Warning – BMEW – Radar) in Fylingdales im Norden Englands und in Grönland auf der Pituffik Space Base spielen eine wesentlich Rolle bei der Frühwarnung und Bahnverfolgung von ballistischen Raketen, die den amerikanischen Kontinent bedrohen. Fylingdales hat darüber hinaus auch eine zentrale Aufgabe in der BMD für den europäischen Kontinent und benachbarte Gebiete. Weitere, kleinere und zum Teil mobile BMEW Radargeräte in mehreren NATO-Staaten dienen auch der Begegnung der Bedrohung durch Raketen aus dem Iran.
Die Engstellen im Nordatlantik zwischen Grönland, Island und Großbritannien sowie nördlich von Norwegen sind für die Erfassung und Verfolgung russischer Atom-U-Boote im Rahmen des amerikanischen Integrated Undersea Surveillance System (IUSS) von großer Bedeutung.
Das hohe Engagement der EU im Ukraine-Krieg (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) wird oftmals damit argumentiert, dass wenn die Ukraine den Krieg verliert, Russland als nächstes die EU angreifen würde. Sehen Sie diese Gefahr ebenso?
Nein, das sehe ich nicht so! Die russischen Streitkräfte verfügen zwar über umfangreiche Kriegserfahrung, haben jedoch sehr schwere Verluste erlitten, darunter eine beträchtliche Anzahl von Personal – insbesondere Offiziere und Unteroffiziere – und eine große Menge an moderner Ausrüstung. Diese Verluste traten in einem Konflikt mit einer Nation auf, der es an einer funktionierenden Luftwaffe, Stealth-Jets und anderen wesentlichen Fähigkeiten mangelt. Die russische Luftverteidigung hat sogar Schwierigkeiten, sich gegen die relativ einfachen Drohnenangriffe der Ukrainer zu verteidigen.
Angesichts der Kapazitäten der russischen Rüstungsindustrie wird es mindestens ein Jahrzehnt dauern, bis Moskau seine Streitkräfte mit einer größeren Zahl moderner Ausrüstungen wiederaufgebaut hat, die zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung allerdings bereits veraltet sein könnten.
Die Veränderung der geostrategischen Lage in Nordeuropa nach dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens hat eine potenzielle russische Aggression gegen die NATO deutlich riskanter gemacht. St. Petersburg liegt nun nur 150 Kilometer von zwei NATO-Ländern entfernt. Finnland mit seiner 1.340 Kilometer langen Grenze zu Russland würde die strategische Tiefe für eine mögliche Gegenoffensive gegen Murmansk und die Marinestützpunkte der Nordflotte – mit mehr als der Hälfte der russischen Atom-U-Boote – bieten. Folglich müsste Russland im Falle einer Aggression enorme Ressourcen für die Sicherung seiner Nordflanke aufwenden, was andere militärische Operationen erheblich einschränken würde.
„Insgesamt ist eine militärische Aggression Russlands gegen die NATO sehr unwahrscheinlich.“
In den vergangenen Jahrzehnten hat Europa sich auf den US-Verteidigungsschirm verlassen und die Rüstungsausgaben deutlich heruntergefahren. Man hört von kaputtgesparten Armeen, veralterter Ausrüstung und Mangel an Rekruten. Wäre die EU in der Lage, einen Angriff Russlands auf – zum Beispiel einen baltischen Staat – abzuwehren?
Diese Frage stellt sich nicht, solange die NATO existiert. Die „Forward Presence” der NATO im Baltikum und in anderen osteuropäischen Mitgliedstaaten, zu der auch eine beträchtliche Anzahl amerikanischer Truppen gehört, soll die Geschlossenheit des Bündnisses demonstrieren und Russland abschrecken. Sie stellt sicher, dass im Falle einer russischen militärischen Aggression die NATO – einschließlich der Vereinigten Staaten – sofort und automatisch in den Krieg verwickelt wäre.
Insgesamt ist eine militärische Aggression Russlands gegen die NATO sehr unwahrscheinlich, kann aber nicht völlig ausgeschlossen werden – insbesondere dann nicht, wenn Moskau mit dem Auseinanderbrechen des westlichen Bündnisses rechnet. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine auf Grund einer Fehlinterpretation mehrerer „Signale” begonnen hat.
Hier geht es zu den anderen Beiträgen unserer Serie „5 Fragen an” und hier zu einem weiteren Beitrag zum Thema: Droht ein neuer Bürgerkrieg in Syrien?