Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Lisa Fellhofer, Direktorin der Dokumentationsstelle für Politischen Islam. Wir haben mit der Politikwissenschaftlerin über islamistische Influencer, die Ideologie der Hamburger Kalifat-Rufer und islamistische Bewegungen in Österreich gesprochen.
Frau Fellhofer, m Laufe der Geschichte gab es unterschiedliche Kalifate, von politisch starken über rein repräsentative bis zum Kalifat des Islamischen Staates in Irak und Syrien. Auf welches Kalifat bezieht sich das Hamburger Netzwerk Muslim Interaktiv und warum ist das ein Problem?
Influencer-Gruppierungen wie Muslim Interaktiv, ebenso wie etwa Realität Islam und Generation Islam, können dem ideologischen Umfeld der islamistischen Hizb ut-Tahrir zugeordnet werden, welche 1953 in Jerusalem gegründet wurde. Die panislamisch ausgerichtete Bewegung fordert die Wiedereinführung eines Kalifats und möchte der Scharia einen umfassenden Geltungsbereich verschaffen. Sie fordert auch den Sturz von Regierungen muslimisch geprägter Staaten und beabsichtigt die Vereinigung aller Muslime ohne nationale Grenzen. Dieses System folgt den Vorstellungen eines Herrschafts- und Gesellschaftssystems, wie es in der Frühzeit des Islams existiert haben soll und wurde von der Organisation auch in einem Entwurf für eine Verfassung konkretisiert. Das geforderte islamische System steht unter der Leitung eines Kalifen und in Konkurrenz zu bestehenden Nationalstaaten. Nach Auffassung der Ideologie der islamistischen Bewegung ist der pluralistische demokratische Rechtssaat mit „dem Islam” nicht vereinbar und wird abgelehnt, ebenso wie der Staat Israel, dem man das Existenzrecht abspricht. Die Hizb ut-Tahrir unterliegt seit 2003 einem Betätigungsverbot in Deutschland. Gruppierungen wie Muslim Interaktiv gelten als ideologisch verbundene Netzwerke.
Ist das Netzwerk Muslim Interaktiv auch in Österreich vertreten und gibt es weitere Gruppen, die der Bewegung Hizb ut-Tahrir oder anderen radikalen islamischen Strömungen angehören?
Auch wenn sich etwa Muslim Interaktiv, Realität Islam und Generation Islam in Deutschland befinden, wird über Social-Media-Kanäle der gesamte deutschsprachigen Raum erreicht. Immer wieder wurde von den genannten Netzwerken in der Vergangenheit auch Österreich thematisiert. Die Reichweite der Videos hat vereinzelt schon die Marke von über einer Million Aufrufen übertroffen, was die enorme Strahlkraft der betreffenden Influencer aufzeigt. Über die genannten Gruppierungen hinaus gibt es in Österreich eine Reihe weiterer Akteure mit unterschiedlichen Verbindungen zu islamistischen Strömungen. Strukturen des Politischen Islams agieren über Staatsgrenzen hinweg und haben ihren Ursprung beispielsweise in der Türkei, der MENA-Region oder im Iran. Dazu gehören unter anderem die Millî-Görüş-Bewegung, die Grauen Wölfe, die Muslimbruderschaft, salafistische Gruppen oder schiitisch-islamistische Akteure aus dem Umfeld der theokratischen Regierung in Teheran.
Sehen Sie Parallelen zwischen dem Netzwerk Muslim Interaktiv und Gruppen wie die Staatsverweigerer, die ja ebenso den Staat und seine Institutionen ablehnen?
Extremismen unterschiedlicher Ideologien finden oftmals bei Verschwörungserzählungen und Antisemitismus zueinander. Nicht erst seit dem Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 werden jüdische Menschen mit dem Staat Israel gleichsetzt und negative pauschalisierende Stereotypen verbreitet. Es gibt zudem eine Tendenz sich abseits der staatlichen Institutionen und der Mehrheitsgesellschaft zu organisieren, wodurch Segregation begünstigt wird. In diesen Teilaspekten überschneiden sich Staatsverweigerer und einige islamistische Milieus ideologisch.
„Die muslimische Gemeinschaft ist oft die erste, die durch Akteure des Politischen Islam beziehungsweise durch islamistische Gruppen unter Druck gesetzt wird.“
Welche Rolle könnten muslimische Organisationen wie beispielsweise die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) spielen, um die Herausforderungen rund um Radikalisierung besser in den Griff zu bekommen?
Die muslimische Gemeinschaft ist oft die erste, die durch Akteure des Politischen Islam beziehungsweise durch islamistische Gruppen unter Druck gesetzt wird. Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in den betroffenen Communities zu haben, die die Herausforderungen rund um Radikalisierung ernst nehmen, kann also ein wichtiger Faktor sein. Das bedeutet aber auch, dass man eine ehrliche Debatte zu den Problemen zulassen muss.
„Gegenwärtige Krisen haben gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierungstendenzen in Europa insgesamt verschärft.“
Sehen Sie ein generelles Erstarken radikaler islamischer Gruppen in Deutschland und Österreich, oder ist nur der Blick für solche Entwicklungen sensibilisiert worden?
Gegenwärtige Krisen haben gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierungstendenzen in Europa insgesamt verschärft. Der Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg im Gazastreifen haben islamistische Bewegungen und Ideologien vor allen Dingen sichtbarer gemacht. Der israelisch-palästinensische Konflikt dient den vielfältigen islamistischen Akteuren aber schon seit geraumer Zeit als Vehikel hin zu einer undifferenzierten Pauschalisierung und als Vorwand zur Propagierung extremistischer Botschaften. Diese finden nun auf unterschiedlichen Ebenen Zustimmung und Verbreibung, wozu vor allem im Online-Bereich die sozialen Netzwerke TikTok, Instagram oder YouTube mit einer jungen Zielgruppe zählen. Im virtuellen Raum haben islamistische Influencer eine Gegenöffentlichkeit aufgebaut, die Identitätskonflikte instrumentalisiert, indem beispielsweise Diskriminierungserfahrungen von – oftmals jungen – Musliminnen und Muslimen ideologisch mit einem „Wir-gegen-Sie”-Narrativ aufgeladen werden.
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