Stand-in Attack Weapon (SiAW) lautet der etwas holprige Name einer neuen Rakete von Northrop Grumman, die erst vor wenigen Tagen erstmals zu Testzwecken abgefeuert wurde. Im Gegensatz zu „Stand-off” Waffen, also Raketen oder Gleitbomben, die von außerhalb des Wirkungsbereiches von Flugabwehreinrichtungen abgefeuert werden, soll die F-35 die SiAW innerhalb der Reichweite der feindlichen Flugabwehrraketen abfeuern.

Darin zeigt sich auch die Erkenntnis, dass selbst „Stealth”-Flugzeuge sich längst nicht mehr beliebig lange und tief in gegnerischen Lufträumen bewegen können. Stattdessen sollte ihr Aufenthalt im Erfassungsbereich gegnerischer Flugabwehrnetze möglichst kurz und idealerweise am Rand der „Flugabwehrblase” stattfinden. Ziel der Stand-In Attack Weapon ist es, schnell verlegbare Ziele der Anti-Access/Area Denial (A2/AD)-Kategorie zu bekämpfen. Unter „A2/AD” versteht man jene Luft-, Boden- und See-Bereiche, deren Nutzung der Gegner aktiv zu verhindern sucht, indem er umfassende Abwehrmaßnahmen einsetzt.

Die US Air Force (-> aktuelle Meldungen rund um die US-Streitkräfte) zählt zu dieser Kategorie unter anderem Starteinrichtungen für Trägersysteme ballistischer Flugkörper, mobile Abschussrampen für Boden-Boden- oder Boden-Schiff-Marschflugkörper, Störsender zur Beeinflussung des elektromagnetischen Spektrums, Anti-Satellitensysteme sowie Anlagen integrierter Flugabwehrnetze.

Die Zeiten, als die erste Generation der Stealth-Angriffsflugzeuge noch über ihre Ziele kamen und freifallende lasergelenkte Bomben abwerfen konnten, wie das im Irak 1991 (Operation „Desert Storm”) und 1999 in Jugoslawien (Operation „Allied Force”) praktiziert wurde, sind endgültig vorbei. Moderne Boden-Luft- und Luft-Luft-Raketen verfügen über sehr hohe Reichweiten, und über genügend Energie, um im Endanflug auf das Ziel noch gut manövrieren zu können. Die aktiven Sensoren in den Raketen benötigen nach dem Start nicht mehr unbedingt Informationen vom Radar am Boden, sie finden und identifizieren ihre Ziele am Ende der Flugstrecke selbst und sie treffen immer öfter ihre Ziele direkt.

©Militär Aktuell

Diese Erkenntnis mussten in den vergangenen drei Jahren auch russische und ukrainische Piloten (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) schmerzlich machen. Nur eine kleine Minderheit schafft es noch, mit dem Schleudersitz aus einer getroffenen Maschine zu entkommen. Moderne Raketen lassen sich oft nicht mehr ablenken und sind nicht länger auf Abstandszünder angewiesen, um in der Nähe des Ziels eine Splitterwolke freizusetzen. Die Mehrheit der Piloten stirbt bei einem direkten Treffer. Die Konsequenz: Piloten halten mehr Abstand zu ihren Zielen und gegnerischen Flugabwehrsystemen, während der Fokus zunehmend auf Waffen liegt, die größere Entfernungen schneller überwinden können.

SiAW im Waffenschacht einer F-35 – ©Northrup Grumman
Zwei der Raketen passen in die Schächte der F-35 Varianten A und C. Der Waffenschacht der STOVL-Marine-Variante F-35B ist aufgrund des Hubfans im Rumpf hinter dem Cockpit zu kurz für die SiAW und auch die AARGM-ER. Unabhängig davon ist die SiAW bislang nur durch die US Air Force (F-35A) aber nicht von den US Marines (F-35B+C) oder der US Navy (F-35C) bestellt worden.

Die Stand-In Attack Weapon (SiAW), entwickelt und gebaut von Northrop Grumman, ist darauf ausgelegt, zeitkritische und bewegliche Schlüsselziele in der Anfangsphase eines Konflikts auszuschalten – und das, ohne die eigenen Streitkräfte übermäßig zu gefährden. Konkrete technische Details hält die US Air Force bisher zurück, sodass Analysten auf Beobachtungen und fundierte Annahmen angewiesen sind.

Offensichtlich ist, dass die SiAW von der brandneuen AGM-88G Advanced Anti-Radiation Guided Missile-Extended Range (AARGM-ER) Anti-Radar-Rakete abgeleitet wurde. Diese Rakete ist 4,06 Meter lang, hat einen Durchmesser von 29,21 Zentimetern und wiegt 467 Kilogramm. Beide Waffen nutzen dasselbe Flugsteuer- und Sensorsystem. Dazu gehören ein GPS-gestütztes Trägheitsnavigationssystem sowie ein Millimeterwellen-Radar, das in der Lage ist, Ziele selbstständig zu orten, zu klassifizieren und zu identifizieren. Ein Zwei-Wege-Datenlink ermöglicht es zudem, noch in den letzten Momenten des Fluges Daten zu übermitteln, um sicherzustellen, dass das Ziel tatsächlich getroffen wurde.

F-16 feiert SiAW ab – ©US Air Force
Eine F-16C des 40th Flight Test Squadron von der Eglin Air Force Base in Florida führte diesen Testabwurf über dem Golf von Mexico durch. „Droptests” gehören zu den ersten Schritten der Praxiserprobung und werden durchgeführt um eine saubere Trennung der Waffen vom Trägerflugzeug zu bestätigen.

Konkrete Angaben zu Reichweite oder Geschwindigkeit der SiAW sowie der AGM-88G sind noch nicht bekannt. Es wäre aber verwunderlich, wenn diese – nicht wie gemeinhin üblich – schneller wäre und weiter flöge als die Vorgängergeneration. Die Spekulation, dass die Waffe den Hyperschallbereich (Mach 5+, über 1.715 m/s ) erreicht, ist auch deshalb zulässig, weil mit Lockheed Martin ein unterlegener Mitbewerber im SiAW-Programm sein Projekt weiter bewirbt und Kunden sucht – und die Waffe namens Mako offen als Hyperschallflugkörper bewirbt.

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Northrop Grummans SiAW-Programm und Kosten

Die Entwicklung der SiAW (Stand-In Attack Weapon) begann 2018, als sie erstmals im Forschungs-, Entwicklungs-, Test- und Bewertungsbudget der US Air Force berücksichtigt wurde. Im Mai 2022 wurden Aufträge an L3Harris Technologies, Lockheed Martin und Northrop Grumman vergeben, um Konzepte für die SiAW zu entwickeln.

Im September 2023 erhielt Northrop Grumman einen Entwicklungsauftrag im Wert von 667 Millionen Euro. Dieser umfasst die Produktion von Prototypen, die Bereitstellung von Testanlagen sowie insgesamt vier Flugtests. Bereits im November 2023 lieferte Northrop Grumman die erste flugfähige SiAW an die US Air Force aus. Die Flugerprobung befindet sich derzeit in vollem Gange.

SiAW-Programm – ©Northrop Grumman
Das SiAW-Programm ist das erste vollständig digitales Programm zur Beschaffung und Entwicklung von Waffen für die United States Air Force. Der gesamte Systementwurf erfolgt mit 3D-Konstruktionswerkzeugen. Ziel ist Reduzierung der Montage- und Softwareentwicklungszeiten.

Die US Air Force hat sich zum Ziel gesetzt, die erste Einsatzfähigkeit der SiAW für die F-35A bis spätestens 2026 zu erreichen. Insgesamt ist die Beschaffung von 3.000 SiAW-Raketen geplant, mit einem geschätzten Gesamtaufwand von knapp unter 8,5 Milliarden Euro.

Primär ist die Waffe für die F-35A sowie die in Entwicklung befindliche B-21 Raider (-> Super-Bomber B-21 Raider fliegt erstmals) vorgesehen. Es wird jedoch erwartet, dass auch Nicht-Stealth-Trägersysteme wie die F-16 und F-15 die SiAW einsetzen können. Allerdings wäre deren Nutzung durch Kampfflugzeuge der vierten Generation voraussichtlich auf Szenarien mit technisch weniger fortschrittlichen Flugabwehrsystemen beschränkt.

Hier geht es zu weiteren Meldungen rund um die US-Streitkräfte.

Quelle©Northrop Grumman, US Air Force, Martin Rosenkranz