Nahostexpertin Petra Ramsauer analysiert in ihrem Buch „Muslimbrüder” Gegenwart und Zukunft der islamischen Bewegung. Wir haben mit ihr über das terroristische Potenzial der Bruderschaft und deren politisches Scheitern in Ägypten gesprochen.

Im Westen werden die Muslimbrüder oft negativ dargestellt oder mit einer Terrororganisatin gleichgesetzt. Woher kommt dieser Eindruck?
Das hat vor allem damit zu tun, dass wir die Muslimbrüder im islamistischen Kontext wahrnehmen, und der ist seit 9/11 pauschal negativ besetzt. Für klassischen Terrorismus steht die Bruderschaft in jedem Fall nicht. Die Bewegung ist ein Geheimbund mit vielen Facetten, der sowohl politisch als auch sozial mit dem klaren Ziel einer Islamisierung der Gesellschaft und dem Oberziel der Errichtung eines Kalifats agiert. Auch diese Vorstellung eines Gottesstaats löst im Westen Angst aus.

Terroristische Neigungen kann man ihr also nicht unterstellen?
Jedenfalls nicht direkt. Es gab zwar Muslimbrüder, die Terroristen wurden – der wohl prominenteste ist der jetzige Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri –, aber von denen hat sich die Bruderschaft distanziert. Sie versteht sich selbst in erster Linie als Ideologie und in zweiter Linie als Bewegung. Das schließt die Schaffung sozialer Strukturen für die Bevölkerung wie Armenausspeisungen, Kliniken und Schulen ein, aber auch die Durchdringung der Bildungssysteme.

Liegt in diesem Ansatz auch der Erfolg der Muslimbrüder begründet, zuletzt konnten sie gleich mehrere Wahlerfolge für sich verbuchen?
Die Partei der Muslimbrüder wurde in Ägypten und in Tunesien mit großer Mehrheit gwählt, in Libyen haben sie die Macht nach einer Niederlage bei den Wahlen unsauber an sich gezogen. Trotzdem zeigt sich auch dort, dass sie politisch gut organisiert sind und auf eine breite Basis zurückgreifen können, zu der neben Ärzten und Ingenieuren auch andere Eliten und Gebildete gehören. Die Bandbreite der Muslimbrüder ist von Extremisten wie Yusuf al-Qaradawi bis hin zu einer Art islamischer CSU rund um Rashid al-Ghannouchi sehr breit, auch deshalb bestand die Hoffnung, dass sich daraus eine moderne islamische Partei entwickeln könnte.

Diese Hoffnung muss aber mit Stand heute zumindest in Ägypten als gescheitert betrachtet werden?
Die Muslimbrüder haben es in Ägypten geschafft, eine Alternative zum vom Westen importierten präsidialen Territorialstaat zu bilden und genießen immer noch bei knapp der Hälfte der Bevölkerung hohe Sympathiewerte. Die andere Hälfte hatte aber nach der Machtübernahme große Angst, dass die Muslimbrüder nun zur großen Islamisierung ansetzen, wie das Gründer Hassan al-Banna als Ziel formuliert hat …

… und wie es letztlich dann auch Mursi umsetzen wollte?
Das war der entscheidende Fehler: Die Muslimbrüder haben in einem rasanten Tempo die Islamisierung Ägyptens vorangestellt und nicht die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Dieses Tempo und dieses Ausmaß waren für alle Beobachter und auch einstigen Unterstützer überraschend und haben ihren Kritikern in die Hände gespielt.

Sie haben also zu schnell zu viel gewollt und sind daran gescheitert?
Das ist ein Teil der Erklärung, es gab innerhalb des politischen Systems aber auch viele Sabotageversuche, die ihnen das Leben nicht leichter gemacht haben. Vor drei Jahren hat man mit Mubarak den Kopf des Systems abgewählt, die handelnden Personen sind aber vielfach die gleichen geblieben, und diese haben in vielen Fällen Vorgaben von oben hintergangen. Da wurde etwa die Zahl der Polizisten auf der Straße reduziert oder Treibstofflieferungen, die zu geförderten Preisen hätten verkauft werden sollen, sind am Schwarzmarkt gelandet. Viele Kritiker haben daher nicht verstanden, warum Mursi nicht auf eine raschere politische Umfärbung gedrängt hat.

Aber mit der Ablöse Feldmarschall Tantawis hat er doch zumindest an der Spitze des Militärs rasch für neue Verhältnisse gesorgt?
Da waren auch alle überrascht, wie unkompliziert das gegangen ist und er Abd al-Fattah al-Sisi an seine Stelle setzen konnte. Das – im Nachhinein – fatale an dieser Entscheidung: Mursi hat al-Sisi voll vertraut. Für Mursi gab es keinen Grund, an ihm zu zweifeln. Er sah in al-Sisi sogar einen Verbündeten, und das hat sich gerächt. Selbst als Mursi von Soldaten im Präsidentenpalast verhaftet wurde konnte er immer noch nicht glauben, dass ihn al-Sisi verraten hat. Das mag eine Form von Realitätsverlust sein, zeigt in seiner Konsequenz aber auch ein Versagen des Westens.

Inwiefern?
Der Westen hätte viel früher mäßigend auf die neuen islamistischen Parteien einwirken und ihnen klar machen müssen, dass eine derartig rasche Islamisierung nicht gut gehen kann.

Hat das der Westen vielleicht auch bewusst unterlassen, um die fortschreitende Islamisierung zu bremsen?
Möglich, wobei man sich aber nun die Frage gefallen lassen muss, was jetzt kommen soll. Wer soll nach der Abwahl des säkularen Präsidenten und dem Versagen der islamistischen Alternative das Ruder übernehmen? Wir haben im Westen Angst vor dem vermeintlichen Extremismus der Muslimbruderschaft, berechtigter Grund zur Sorge besteht aber erst, wenn die salafistischen Parteien in der Region in Zukunft einen ähnlich massiven Zulauf haben, wie das jetzt der Fall ist.

Und wie wird es mit den Muslimbrüdern in Ägypten weitergehen?
Schätzungen zufolge zählen die Muslimbrüder in Ägypten rund eine Million Mitglieder, denen al-Sisi schon vor seiner Wahl eine Kriegserklärung gemacht hat, indem er angekündigt hat, die Bruderschaft auszulöschen. Vor diesem Hintergrund wird das Land keine Stabilität finden, und je engmaschiger die Bruderschaft unterdrückt wird, desto schwerer wird sie kalkulierbar. Es sitzen aktuell zahlreiche Führungskader der Muslimbrüder im Gefängnis, was nicht nur einen heftigen internen Führungsstreit ausgelöst hat, sondern auch das Risiko birgt, dass neue und unerfahrene Kräfte das Ruder übernehmen und man eine Radikalisierung oder eine Abspaltung eines Teils der Muslimbruderschaft befürchten muss.

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Quelle@Getty Images