Unsere fünf Fragen gehen diesmal an Brigadier Berthold Sandtner, Militäranalyst an der Landesverteidigungsakademie. Wir haben mit dem Experten über den ukrainischen Vorstoß in die Region Kursk (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg), die Verteidigungsbereitschaft der Ukrainer und Putins aktuelle Drohungen gegen den Westen gesprochen.

Herr Brigadier, im August startete die Ukraine einen strategischen Vorstoß in die westrussische Region Kursk. Was waren die Ziele und wurden sie erreicht?
Ziel war es, den Krieg nach Russlands zu tragen, den westlichen Verbündeten zu zeigen, dass man offensivfähig ist und das Narrativ von der unabwendbaren Niederlage der Ukraine abzuwenden. Diese strategischen Ziele hat man erreicht. Nicht erreicht wurde die operative Zielsetzung, durch den Vorstoß nach Russland Moskau dazu zu bringen, massiv Kräfte aus dem Donbas abzuziehen und die Donbasfront so zu entlasten.

„Der Abzug dieser Truppen hat die Schlagkraft der russischen Armee bei Pokrovsk nicht geschwächt.“

Woher stammen die Truppen, die Moskau für seine Gegenoffensive in Kursk mobilisierte?
Ich gehe davon aus, dass sie die Truppen aus den südlichen Frontabschnitten abgezogen haben, wo derzeit nicht das Schwergewicht der Kämpfe liegt. Es wird dort gewisse operative Reserven geben, die man zum Einsatz bringen kann. Der Abzug dieser Truppen hat aber offensichtlich die Schlagkraft der russischen Armee bei Pokrovsk nicht geschwächt.

©Militär Aktuell

Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert erneut Langstreckenwaffen, um militärische Einrichtungen in Russland angreifen zu können. Experten sagen jedoch, dass Moskau bereits einen Großteil seiner Luftwaffenstützpunkte ins Hinterland verlegt habe, wo sie mit diesen Waffen nicht mehr zu erreichen sind. Können Sie das bestätigen?
Die Frage ist, welche Langstreckenwaffen würden geliefert werden? Die Storm Shadow-Marschflugkörper etwa haben in der Nicht-Export Variante eine Reichweite von etwa 500 Kilometern. Damit kann man ungefähr bis Moskau schießen. Was Sie ansprechen ist aber richtig. Weil diese Diskussion über die Lieferung von Marschflugkörpern schon so lange dauert, hatten die Russen Zeit, große Teile ihrer fliegerischen Infrastruktur, um die es da vor allem geht, in die Tiefe des Landes zu verlegen. Alles, was sich in einem Umkreis von 150 bis 200 Kilometer um die Ukraine befand, hat man begonnen zurückzunehmen. Das geht natürlich nicht über Nacht. Aber je länger diese Diskussion sich zieht, desto mehr fliegerische Infrastruktur kann Moskau tiefer ins Landesinnere verlegen.

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Die Ukraine braucht dringend mehr Soldaten. Gleichzeitig haben die Militärbehörden in den ersten vier Monaten dieses Jahres 94.500 Personen zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie sich dem Wehrdienst entzogen. Was bedeutet das für die Schlagkraft der Armee?
Es gab in der Ukraine immer schon Probleme, genug Leute für den Wehrdienst aufzubringen. Man hat darauf reagiert, indem die Wehrpflicht verlängert und das Einrückungsalter heruntergesetzt wurde. Ich habe kürzlich erst die letzten Aussagen von Präsident Selenskyj gelesen, der sagt, dass man mit den 14 Brigaden, die man jetzt aufstellen will, kein personelles, sondern nur ein materielles Problem habe. Man könnte von diesen 14 aufzustellenden Brigaden nur vier materiell befüllen. Für die anderen zehn hätte man zwar das Personal, aber nicht die Ausrüstung. Ganz als bare Münze würde ich diese Aussagen nicht nehmen. Was man sicher sagen kann, ist, dass nach zweieinhalb Jahren Krieg und – rechnet man die Territorialkräfte dazu – einer guten Million Menschen, die in der Ukraine unter Waffen stehen, die Aufbringung ständig neuen Personals natürlich immer schwieriger wird. Auch weil sich Leute der Wehrpflicht entziehen.

„Womit man möglicherweise rechnen muss, ist eine Ausweitung des hybriden Krieges.“

Präsident Vladimir Putin droht dem Westen/der NATO mit Konsequenzen, sollten Langstreckenwaffen an die Ukraine geliefert werden. Wie ernstzunehmen sind diese Drohungen?
Beachtenswert ist vielleicht, dass Putins Äußerungen diesmal relativ detailliert waren. Er sprach ja davon, dass deshalb westliche Staaten Kriegsparteien wären, weil die Ukraine diese Waffen nicht alleine einsetzen kann. Man bräuchte Satelliten und Zieldaten von der NATO, ebenso wie Techniker aus den USA, Großbritannien oder woher immer die Raketen kommen, damit sie diese Raketen programmieren, und so weiter. Ebenfalls beachtenswert ist, dass Putin selbst diese Drohungen ausgesprochen hat. Bisher war es so, dass Drohungen, je nach dem, wie sie verstanden werden sollten, entweder aus dem sehr nahen oder etwas entfernteren Umfeld Putins kamen. Diesmal hat aber er selber reagiert.

Man kann daraus auf jeden Fall ableiten, dass man das auf russischer Seite ernst meint: Man würde den Einsatz dieser Waffen als eine direkte Kriegsbeteiligung werten und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Was da im Detail gemeint ist, hat Putin nicht gesagt. Womit man möglicherweise rechnen muss, ist eine Ausweitung des hybriden Krieges, den Russland ohnehin bereits gegen den Westen führt; Ausspähungen, Sabotage, vielleicht hin bis zu gezielten Tötungen. Das sind sicher Maßnahmen, mit denen man rechnen muss.

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Quelle©Bundesheer